# taz.de -- Neuer Roman von Virginie Despentes: Wegballern als Extremsport
       
       > Virginie Despentes jagt eine freiheitsliebende Diva und einen gekränkten
       > Täter aufeinander los. Außerdem geht es im neuen Roman um Ekstase und
       > Askese.
       
 (IMG) Bild: „Liebes Arschloch“: Virginie Despentes
       
       Die Konstruktion des Romans ist einfach, aber schlagend: Bekannter
       Krimiautor lästert auf Instagram über prominente Schauspielerin, sie sei
       zur „Schlampe verkommen. Nicht nur alt. Sie ist auch auseinandergegangen,
       verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibstück.“
       
       Sie keilt schriftlich in einer PN zurück: „Ich hoffe jetzt nur, dass deine
       Kinder von einem Lastwagen überfahren werden und du ihren Todeskampf
       mitansehen musst, ohne etwas tun zu können, und dass ihnen die Augen aus
       den Höhlen spritzen und ihre Schmerzensschreie dich jeden Abend verfolgen.“
       
       Es ist der Beginn einer wundervollen Brieffreundschaft.
       
       Denn schon in den nächsten beiden Mails stellt sich heraus, dass Rebecca
       Latté und Oscar Jayack – beides Künstlernamen – sich von früher kennen; sie
       sind im selben Vorort aufgewachsen, kommen aus der Arbeiterklasse, Rebecca
       und Oscars große Schwester waren zu Schulzeiten sogar beste Freundinnen.
       Beide sind berühmt geworden: Sie als überaus attraktive, sexpositive
       Filmschauspielerin irgendwo zwischen Béatrice Dalle und Isabelle Adjani,
       immer mit den gefährlichen Jungs liiert, immer auf harten Drogen und
       neuerdings ein Idol junger Feministinnen, gleichzeitig aber im Filmgeschäft
       nicht mehr ganz so nachgefragt – der berühmte Karriereknick in den
       Wechseljahren.
       
       ## Shit-Storm und Verrohung
       
       Er, gut zehn Jahre jünger, getrennt lebender Vater einer Teenagertochter,
       mit der er nichts anfangen kann, schreibt als nicht sonderlich attraktiver
       Autor mit authentischem Proletarier-Image Bestsellerkrimis und steckt
       ebenfalls in der Krise, seit die junge Netzfeministin Zoé Katana publik
       gemacht hat, dass er sie, als sie noch Pressereferentin seines Verlags war,
       gestalkt hat, bis ihr nur die Kündigung blieb. Extrem unfair, findet
       Jayack, schließlich hat sie ihn abgewiesen.
       
       Indem Virginie Despentes in „Liebes Arschloch“ (frz. „Cher Connard“) die
       freiheitsliebende Diva und den gekränkten Täter aufeinander jagt und
       gelegentlich Blogbeiträge von Zoé dazwischenfunken lässt, hat die
       französische Autorin sich ein locker federndes Sprungbrett in alle
       möglichen gesellschaftlichen Debatten gebaut.
       
       Die Verrohung des Umgangs auf Social Media und die Shit-Storm-Kampagnen der
       Maskulinisten, der beklagenswerte Zustand des französischen Films, Femizide
       und der kaum thematisierte sexuelle Missbrauch von Jungen, die Auswirkungen
       der Coronapolitik, aber auch der technologisch-bürokratische Irrsinn des
       Erwerbs einer digitalen Zugfahrtkarte für den Hund, all das handeln Oscar
       und Rebecca mit Witz und leitartikelfähiger Wortgewalt ab.
       
       ## Im Suff Blödsinn sagen
       
       Das wirkt manchmal etwas unvermittelt, zumal beide Seiten zum
       Monologisieren neigen, doch kurz bevor sich die narzisstischen Prediger aus
       den Augen verlieren, flicht Despentes stets einen Satz ein, in dem die
       eine auf den anderen eingeht.
       
       Zumal es neben der Herkunft weitere Themen gibt, die beide teilen. Als
       Oscar vor der öffentlichen Blamage nach Katanas Statement abtaucht,
       beschließt er, die Finger von Alkohol und Koks zu lassen („Ich kann mir
       nicht erlauben, im Suff irgendwelchen Blödsinn von mir zu geben. Nicht
       jetzt.“) und schließt sich einer Selbsthilfegruppe an. Während er von der
       neuen Nüchternheit schwärmt, hält Rebecca Latté noch eine Weile an der
       Überzeugung fest, so gut mit harten Drogen klarzukommen, „dass es schade
       wäre, darauf zu verzichten“: „Sich wegballern ist ein Extremsport“, ja, ein
       Geschäftsmodell im Verhältnis zu Fans und Publikum: „Ich begebe mich für
       sie in Gefahr. Und indem sie dabei zusehen, überschreiten sie die Grenze
       des Erlaubten, durch mich.“ Wenn da nur nicht ihr Alter wäre.
       
       Einerseits räumt Despentes der Diskussion von Ekstase versus Askese, der
       Erforschung der Suchtgründe erstaunlich viel Platz ein – andererseits
       braucht es zwei nüchterne, einfühlsame Hirne, um die entscheidende Nuss zu
       knacken: Wie war das jetzt mit Zoé und Oscar? Sind die jungen Feministinnen
       überempfindliche Schneeflocken, die genau wie ihre Feinde jeden digital
       fertigmachen, wenn sie nur wollen?
       
       Narcotis Anonymous sei Dank erweisen sich Despentes Protagonist:innen
       als entwicklungsfähig: Dem lange nur mit den eigenen Kränkungen
       beschäftigten Oscar dämmert bei einer Lesereise nach Deutschland endlich,
       was er Zoé zugemutet hat. Femme fatale Rebecca wiederum versteht
       tendenziell auch die Generation Deneuve, die 2018 #MeToo als moralinsaure
       Bedrohung sexueller Freizügigkeit missverstand. Vor allem aber sieht sie
       von ihrem eigenen Stress mit dem Älterwerden ab und wird zur Vermittlerin
       zwischen den Geschlechtern und Generationen.
       
       ## Punk und Revenge-Porn
       
       Eine ganz ähnliche, nicht minder glaubwürdige Vermittlerin ist im Grunde
       auch Virginie Despentes: Geboren 1967 als Tochter zweier gewerkschaftlich
       engagierter Postbeamter, verbrachte sie eine wilde Adoleszenz zwischen
       Punk, Gelegenheitsprostitution und einer Gewalterfahrung, die sie in ihrem
       wütenden Revenge-Porn „Baise-moi“ (1994) verarbeitete. Seit ihrem
       feministischen Essay „Die King Kong Theorie“ (2006), spätestens aber seit
       ihrem dreibändigen, [1][mehrfach preisgekrönten Gesellschaftspanorama
       „Vernon Subutex“ (2015–2017)] ist Despentes auch [2][eine Lieblingsautorin
       deutscher wie französischer „Bobos“], die sie abwechselnd als „Balzac des
       21. Jahrhunderts“ oder als komplementären Zwilling Michel Houellebecqs
       preisen.
       
       Schwierige Vergleiche, zumal die Linksfeministin Despentes – anders als der
       mit Rechten und Katholiken kokettierende Houellebecq – tatsächlich das
       Potenzial und den sichtlichen Wunsch hat, in eine gespaltete Gesellschaft
       nicht noch weitere Keile zu treiben, sondern Brücken zu bauen und für
       Solidarität zu werben. Aber ist ein Roman da das Mittel der Wahl? Einen
       humorvollen, locker wegzulesenden (auch in der rhythmisch und
       umgangssprachlich sitzenden Übersetzung von Ina Kronenberger und Tatjana
       Michaelis) und trotzdem an entscheidenden Stellen der Debatte immer wieder
       differenzierenden Versuch ist es jedenfalls wert.
       
       Glückliches Frankreich, wie gespalten auch immer: Ihr habt Despentes, wir
       haben Juli Zeh.
       
       3 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
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