# taz.de -- Erderwärmung und Degrowth: Schneller, weiter, stopp
       
       > Suffizienz ist das Zauberwort gegen den übermächtigen, die Natur
       > zerstörenden Menschen. Das Anthropozän verlangt nach Genügsamkeit.
       
 (IMG) Bild: Autos, Abgas, Aktien – Alles, was die Erde zerdrückt
       
       Selten hat ein Zwischenruf derart Geschichte gemacht. Bei einer Tagung im
       mexikanischen Cuernavaca im Jahre 2000 konnte der Mainzer [1][Paul J.
       Crutzen], Nobelpreisträger für seine Arbeiten zum Ozonloch, nicht mehr an
       sich halten: „Hören Sie auf, das Wort Holozän zu benutzen. Wir sind nicht
       mehr im Holozän. Wir sind im … im … Anthropozän!“ Erst verblüffendes
       Schweigen, dann in der Kaffeepause begann der Begriff zu fliegen, anfangs
       in Fachkreisen, dann bei einem breiten Publikum weltweit.
       
       Was Crutzen damit meinte? Er hatte plötzlich eine Eingebung, dass die
       Erdgeschichte in eine neue Epoche eingetreten sei, das Anthropozän. Die
       Menschheit sei nun eine geologische Kraft, vergleichbar mit
       Vulkanausbrüchen und Erdbeben. Denn menschliche Aktivität gestaltet die
       Erdoberfläche und die Erdatmosphäre großräumig und dauerhaft.
       
       Das reiche von der globalen Klimaüberhitzung und ihren Folgen für Fauna und
       Flora über die Versiegelung von Böden und die Störung von
       Wasserkreisläufen, das rasante Schwinden der Artenvielfalt, die
       Anreicherung von Luft, Böden und Gewässern mit toxischen Substanzen bis hin
       zu einer rapide wachsenden Zahl von Menschen und Schlachtvieh.
       
       Man muss sich einmal vorstellen, was inzwischen die Forschung sagt: Das
       Gewicht der vom Menschen geschaffenen Masse, also die Summe aller
       Industrieanlagen, Häuser, Straßen, Schiffe, Geräte und Müllberge, erreicht
       in diesen Jahren das Gewicht der Biomasse auf der Erde, also die Summe der
       Wale, Nutztiere, Insekten, Pilze, Feldfrüchte, Bäume und der menschlichen
       Körper!
       
       ## Epochale Katastrophe
       
       Angesichts dieses Epochenbruchs entpuppt sich die gängige Rede von der
       Umweltkrise als reine Augenwischerei: Es dreht sich nicht um Umweltschutz,
       sondern um Lebensschutz. Es dreht sich auch nicht um eine vorübergehende
       Krise, sondern um [2][eine epochale Katastrophe]. Nach 50 Jahren
       Umweltpolitik, also der hektischen Eindämmung von Schadenfolgen des
       heutigen Wirtschaftens, geht es heute darum, die Natur und ihre
       Lebensprozesse vor der Übermacht des Menschen zu retten.
       
       Das ist eine ganz andere Hausnummer. Es verlangt eine tiefgreifende
       Revision der gegenwärtigen Wirtschaft und darüber hinaus der expansiven
       Moderne insgesamt. Das [3][Gegenmittel zur expansiven Moderne] heißt
       Suffizienz. Sie steht den technischen Errungenschaften der Moderne
       skeptisch gegenüber. Ihr zivilisatorisches Projekt besteht darin, die
       Ressourcen der Industriemoderne mit der Regenerationsfähigkeit der
       Biosphäre in Einklang zu bringen.
       
       Die Tugend der Genügsamkeit hat einen festen Platz von Aristoteles zu
       Konfuzius in den Weisheitstraditionen der Welt. Sie gilt es im Angesicht
       des Anthropozän wieder auszugraben. Dies ist umso mehr geboten, als die
       [4][Strategie der Ressourceneffizienz] ins Leere läuft, sobald die
       Einsparungen von den Gütermengen wieder aufgefressen werden. Effizienz
       heißt, die Dinge richtig zu machen, Suffizienz heißt, die richtigen Dinge
       tun.
       
       Denn in der expansiven Moderne dreht sich alles um das olympische Motto: um
       größere Geschwindigkeiten, um weitere Entfernungen, um wachsende Mengen an
       Gütern und Dienstleistungen. Gegen diesen Strom schwimmt die Suffizienz.
       Sie wird getragen von der sprichwörtlichen Erkenntnis, dass alles seinen
       Preis hat. So sind die technischen Meisterleistungen der Industriemoderne
       nur die eine Seite der Medaille, die andere heißt Ungleichheit und
       Naturzerstörung.
       
       ## Erneuerbare allein reichen nicht aus
       
       Deshalb plädieren die Befürworter der Suffizienz dafür, mit dem
       Steigerungsimperativ des „schneller, weiter und mehr“ zu brechen. In diesem
       Sinne hat die Kunst des Unterlassens Vorrang in der Politik. Dabei muss man
       sich von der populären Unterstellung lösen, die [5][erneuerbaren Energien]
       würden es schon richten, sie seien sogar unendlich verfügbar. Kein Zweifel,
       der Umstieg auf die Erneuerbaren ist unumgänglich, dennoch lässt sich die
       Frage nicht unterdrücken: Wo und in welchem Umfang?
       
       Die Grenzen des Strombedarfs müssen angesichts der Kosten für Material,
       Fläche und Landschaft diskutiert werden. Welcher Nutzen rechtfertigt die
       Unbill der Windturbinen und Solarzellen? Der [6][Elektro-SUV], mit dem der
       gut situierte Städter herumfährt? Der Stromverbrauch für das Streaming von
       Filmen daheim anstelle des Kinobesuchs? Oder: all die Containerschiffe aus
       China und Fernlastzüge auf den Autobahnen, angetrieben von grünem
       Wasserstoff?
       
       Allenthalben kehrt die alte, zu oft verdrängte Frage wieder: Was ist genug?
       Was ist genug für alle und auf Dauer? Ohnehin sollte niemand davon
       ausgehen, dass ein Wirtschaftsmodell, das seit fast 200 Jahren auf fossilen
       Energieträgern basiert, mit erneuerbaren Energien unverändert fortgesetzt
       werden könnte. Suffizienz wird künftig als technisches Designprinzip
       betrachtet werden. So können Autos auf mittlere Geschwindigkeiten ausgelegt
       werden.
       
       Was wäre gewesen, wenn etwa das [7][Pariser Abkommen von 2015] die
       Verpflichtung der 20 Automobilhersteller der Welt enthalten hätte,
       innerhalb von zehn Jahren [8][kein Auto mehr zu produzieren, das schneller
       als 120 km/h] fährt? Das wäre ein gewaltiger Bonus gewesen, um das
       1,5-Grad-Ziel doch noch zu erreichen. Ein kleiner Schritt für die
       Menschheit, aber ein zu großer Schritt für den Kapitalismus.
       
       ## Wie Butter mit einer Kreissäge schneiden
       
       Stattdessen ist der [9][Anteil von SUVs und Geländewagen an den
       Neuzulassungen] seit 2015 kontinuierlich gestiegen, auf aktuell 29 Prozent
       in Europa. Groß, schwer, hochmotorisiert, SUVs sind Klimakiller, ein
       Elektro-SUV ist so widersinnig, wie Butter mit einer Kreissäge zu
       schneiden. Während Verbrennungsmotoren hohe Geschwindigkeiten lange
       durchhalten können, müssen Elektroautos auf Reichweite achten. Sie sind
       daher ideale Fahrzeuge für mittlere Geschwindigkeiten.
       
       Suffizienz lässt sich geografisch verstehen, gerade in Zeiten des
       Anthropozäns. Zum Beispiel: Wie kann man die Hälfte der Erde für Pflanzen
       und Tiere unter Schutz zu stellen? Das ist die entscheidende Frage für die
       [10][Biodiversität an Land und im Meer]. Wie viel Fläche ist genug für den
       Menschen? Ein heikles Thema, denn es berührt die Frage, ob es Grenzen gibt
       für den Bedarf an Wohnraum und für alle Arten von Büro-, Gewerbe- und
       Verkehrsflächen.
       
       In Deutschland jedenfalls ist die Fläche für Siedlung und Verkehr von 1992
       bis 2020 um rund 20 Prozent und die durchschnittliche Wohnfläche von rund
       von 35 auf 47 Quadratmeter angewachsen, fast die Hälfte der Gesamtfläche
       der Bundesrepublik ist versiegelt. Angesagt ist, mit der bestehenden
       Bebauung auszukommen, was zu Verteilungskonflikten zwischen Miet- und
       Luxuswohnungen, Gewerbe- und Grünflächen, Gemeinschaftsgärten und
       Leerständen aller Art führt.
       
       Wie aus einer beschränkten Fläche mehr zu machen wäre, bewegt schon heute
       die Geister der Architekten, Bürger und Behörden rund um die Idee der
       „grünen Stadt“. Auch in der Wirtschaft ist ein Geschäftsmodell des Weniger
       längst überfällig. Die [11][Kreislaufwirtschaft], wenn sie denn kommt, ist
       nicht nur eine Frage des ökonomischen Kalküls, sondern auch eine Frage der
       Ehre: Mit Ausbeutern, egal ob von Ressourcen oder von Arbeitern, arbeitet
       man nicht zusammen.
       
       ## Konsum einschränken
       
       Zum Beispiel die Textilindustrie. Europa importiert sage und schreibe 63
       Prozent der Textilien und 70 Prozent der Modeartikel vor allem aus
       Bangladesch, China und der Türkei. Während etwa die Baumwolle für ein
       T-Shirt aus Pakistan stammt, wird sie dann in der Türkei zu Garn gewebt, in
       Indien zu Stoff verarbeitet und in Bangladesch genäht, um schließlich auf
       dem europäischen Markt zu landen.
       
       Der übermäßige Verbrauch von Pestiziden in der Baumwollerzeugung, die
       Wasserverschmutzung durch das Färben der Stoffe und die schlechten
       Arbeitsbedingungen der Näherinnen sind allzu bekannt. Selbst ein
       hochwertiges Recycling würde den Ressourcenverbrauch bei ständig steigendem
       Konsum nicht absolut senken. Ressourcen einsparen ja, aber man kommt um die
       Erkenntnis nicht herum: Das umweltfreundlichste Produkt ist jenes, das man
       nicht gekauft hat.
       
       Eine lebensdienliche Wirtschaft wird daher ohne einen Schub an Suffizienz
       nicht zu haben sein. Für den Kapitalismus steht eine Bewährungsprobe
       besonderer Art an: Nur wenn es ihm gelingt, Wertschöpfung bei abnehmenden
       Gütermengen zu betreiben, wird er das 21. Jahrhundert überleben. Wer sich
       schließlich gesund ernährt, ist am übermäßigen Fleischkonsum
       desinteressiert. Es gibt verschiedene Gründe, auf eine massive Reduktion
       der Schlachtviehbestände zu drängen.
       
       ## Die Klassenfrage verschwindet
       
       Zum einen die Futtermittelimporte, die in Südamerika Biodiversität
       vernichten. Zum anderen die Tatsache, dass Tiere keine Dinge sind, die sich
       nach ökonomischer Logik produzieren lassen, sondern empfindungsfähige
       Lebewesen. Tiere mögen nicht so intelligent sein wie Menschen, aber sie
       kennen Angst und Einsamkeit, Leid und Langeweile. Pflanzliche Ernährung ist
       auch ein Ausdruck der Suffizienz, nicht aus Angst vor einer
       Ressourcenkrise, sondern aus Verbundenheit mit anderen Lebewesen.
       
       Darüber hinaus hat Suffizienz eine kosmopolitische Dimension. Da die
       expansive Moderne strichweise den ganzen Erdball umfasst, ist die Suche
       nach einen frugalen Wohlstand allseits auf der Tagesordnung. In der Debatte
       um das Anthropozän verschwindet die „Klassenfrage“ hinter dem Begriff der
       Menschheit, obwohl inzwischen klar ist, wer derzeit die Hauptverursacher
       des Anthropozäns sind: die 10 Prozent der Hochverdiener in der Welt, die
       fast die Hälfte der CO2-Emissionen auf der Erde ausstoßen.
       
       Sie leben auf allen Kontinenten, zwei Drittel in den USA/Europa/Japan und
       ein Drittel in den verschiedenen Schwellenländern. Sie alle kommen nicht
       darum herum, das rechte Maß einzuüben. Um es mit einem berühmten Zitat von
       Gandhi zu sagen: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht
       für jedermanns Gier.“
       
       6 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.mpg.de/trauer-um-paul-crutzen
 (DIR) [2] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262
 (DIR) [3] /Erderwaermung-und-Wachstum/!5914280
 (DIR) [4] /Roadmap-Ressourceneffizienz/!5105038
 (DIR) [5] /Erneuerbare-Energien/!t5007748
 (DIR) [6] /Pro-und-Contra-Mit-SUVs-zur-E-Mobilitaet/!5653810
 (DIR) [7] /Pariser-Abkommen/!t5301048
 (DIR) [8] /FDP-Gutachten-zu-Autoabgasen/!5915899
 (DIR) [9] https://www.auto-motor-und-sport.de/verkehr/suv-neuzulassungen-deutschland-gesamtjahr-2022-daten-zahlen/
 (DIR) [10] /Biodiversitaet/!t5010056
 (DIR) [11] /Kreislaufwirtschaft/!t5014997
       
       ## AUTOREN
       
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