# taz.de -- Blinde Polizei-Statistik: Reichsbürger nicht zu fassen
       
       > Die Polizei stuft mehr Taten als „nicht zuzuordnen“ ein – auch
       > nationalistische Umsturzpläne. Ampel und Opposition fordern Änderungen.
       
 (IMG) Bild: Festnahme von Heinrich XIII Prinz Reuß im Dezember 2022
       
       BERLIN taz | Für Nancy Faeser war es ein Blick in „einen Abgrund
       terroristischer Bedrohung“, als die Bundesanwaltschaft im Dezember 25
       ReichsbürgerInnen [1][wegen mutmaßlicher Umsturzpläne festnehmen ließ]. Die
       Szene teile einen „Hass auf die Demokratie“, warnte die
       Bundesinnenministerin. Auch Generalbundesanwalt Peter Frank sprach
       angesichts der größten Anti-Terror-Razzia seit Jahrzehnten von einem
       Milieu, das zu „aktiver Gewalt bereit“ sei.
       
       Aktuell laufen weiter die Ermittlungen zu dem Fall. Inzwischen zählt die
       Bundesanwaltschaft 55 Beschuldigte. Mehr als 90 Waffen wurden beschlagnahmt
       sowie hunderttausende Euro. Inhaltlich aber scheinen die
       Sicherheitsbehörden weiter nicht sicher zu sein, wie der Fall einzuordnen
       ist. Denn in einer aktuellen Statistik zur politischen Kriminalität taucht
       dieser nicht im Bereich Rechtsextremismus auf – sondern im Feld „Sonstige
       Zuordnung“. Das geht aus einer aktuellen Antwort des Innenministeriums auf
       eine Linken-Anfrage hervor.
       
       Die Einordnung beruhe auf den aktuell vorliegenden Erkenntnissen zu den
       Straftaten und ihrer „tatauslösenden Motivation“, erklärt das Ministerium.
       Wenn alle Auswertungen abgeschlossen seien, könne sich das „gegebenenfalls“
       nochmal ändern. Dabei ließen die festgenommenen Reichsbürger wenig Zweifel
       an ihrer Ideologie: Sie planten einen „Systemwechsel auf allen Ebenen“,
       [2][wollten offenbar die Regierung stürzen] und beschafften bereits Waffen.
       
       Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke), die die Anfrage stellte,
       kritisiert die Einordnung deutlich. „Dieses Vorgehen entpolitisiert nicht
       nur die Straftaten der Reichsbürger selbst, sondern beschönigt die Zahlen
       zu rechten Straftaten enorm, die andernfalls auf einem erschreckenden
       Höchststand wären“, so Pau zur taz.
       
       ## 40 Prozent der Taten „nicht zuzuordnen“
       
       Auch aus der Ampel kommt Kritik. „Reichsbürger können nicht unter die
       Kategorie ‚sonstige Zuordnung‘ fallen“, kritisiert Grünen-Innenexperte
       Marcel Emmerich. „Es ist überfällig, bei deren Einordnung umzudenken und
       die rechtsextreme Gefahr, die von ihnen ausgeht, klar zu benennen. Sie
       wurden viel zu lange verharmlost.“
       
       Das Problem ist nicht neu. Schon bei der jüngsten Jahresstatistik politisch
       motivierter Straftaten für das Jahr 2021 war der Anteil der „nicht
       zuzuordnenden“ Straftaten enorm: 21.339 der 55.048 Delikte fielen in diese
       Kategorie – ganze 40 Prozent. Der Aufwuchs kam hier vor allem durch
       Straftaten aus dem Lager des Coronaprotests zustande, den die
       Polizeibehörden bisher nicht als links oder rechts einordnen.
       
       Zu Jahresbeginn benannte das Bundeskriminalamt die Kategorie „nicht
       zuzuordnen“ dann in „Sonstige Zuordnung“ um – um öffentliche „Irritationen
       zu vermeiden“. Die Erfassung aber blieb beim Alten.
       
       Auch über die Einordnung der Reichsbürger [3][wird seit Jahren debattiert].
       Der Verfassungsschutz nahm die Szene erst nach den tödlichen Schüssen eines
       Reichsbürgers auf einen Polizisten 2016 systematisch unter Beobachtung. Bis
       heute betont die Behörde aber, wie heterogen das Milieu sei. So zählt das
       Bundesamt derzeit 23.000 Reichsbürger:innen – nur 1.250 davon aber als
       Rechtsextremisten.
       
       ## Behörden ignorieren auch NS-Devotionalien
       
       Das Problem zeigt sich auch an einer Statistik zu politischen
       Tötungsdelikten im vergangenen Jahr. Hier zählt das BKA neun Delikte,
       allesamt Versuche. Je zwei davon wurden als rechtsextrem und „religiös
       motiviert“ eingestuft, eines als linksextrem – und vier als „nicht
       zuzuordnen“.
       
       Zwei dieser Fälle betrafen ebenso Reichsbürger, beide aus
       Baden-Württemberg, welche die Bundesanwaltschaft anklagte: In
       Efringen-Kirchen hatte sich ein 61-Jähriger einer Verkehrskontrolle
       entzogen, weil er die Beamten als unbefugt ansah – er fuhr einen Polizisten
       frontal um, der schwere Kopfverletzungen erlitt. Und in Boxberg hatte ein
       54-Jähriger dutzende Male auf Polizisten geschossen, als diese zu einer
       Waffenkontrolle anrückten. Zwei Beamte wurden verletzt, im Haus fanden sich
       neben diversen Waffen auch NS-Devotionalien.
       
       Die Linke Pau kritisiert, dass Straftaten von Reichsbürgern „immer
       häufiger“ nicht als rechtsextrem eingestuft würden, sondern „in der
       schwammigen Kategorie Sonstiges versenkt“. Dabei würde auch das
       polizeiliche Definitionssystem die Einordnung als rechtsex-trem „in vielen
       Fällen zulassen, sogar verlangen“. So aber sei zu befürchten, dass
       rechtsextreme Straftaten „statistisch kaschiert“ würden. „Die
       Bundesregierung muss hier dringend intervenieren, wenn ihr Versprechen nach
       verbesserter Erfassung der politisch motivierten Kriminalität nicht nur
       leere Worte sein sollen.“
       
       Der Grüne Emmerich räumt ein, dass es immer schwieriger werde, politische
       Kriminalität eindeutig einzugrenzen. „Dadurch ist klar, dass bei der
       Kategorisierung etwas passieren muss.“ Die Umbenennung der Kategorie in
       „Sonstiges“ sei schon mal „ein guter Schritt“. Aber: „Die klar
       geschichtsrevisionistische, nationalistische und antisemitische Ideologie
       von Reichsbürgern erfordert die Kategorisierung als Teil des
       Rechtsextremismus.“
       
       Auch SPD-Innenexperte Sebastian Fiedler betont, dass es seit den
       Coronaprotesten Überlappungen bei Verschwörungsgläubigen und
       Rechtsextremisten gibt. Eine statistische Erfassung sei daher zuweilen
       schwierig. “Wenn eine Statistik aber einen derart hohen Anteil an Sonstigen
       aufweist, gibt es gute Gründe für eine neue Kategorie“, so Fiedler. Sein
       Vorschlag: „Verschwörungsextremismus“.
       
       Diese Gruppe, die der Verfassungsschutz als Delegitimierer des Staates
       bezeichnet, sei „augenscheinlich eine sinnvolle Zusatzkategorie, da sich
       dort ein neuer Ideologiekern herausgebildet hat“, so Fiedler. „Wenn die
       Lage sich wandelt, muss das auch in der Erfassung und Analyse der
       Sicherheitsbehörden nachvollzogen werden.“
       
       10 Mar 2023
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konrad Litschko
       
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