# taz.de -- Rassismus in „Tauben im Gras“: Aus Fehlern darf gelernt werden
       
       > Ein Wolfgang-Koeppen-Roman soll Abiturlektüre werden, trotz rassistischer
       > Passagen. Doch ihre Reproduktion taugt nicht für antirassistische
       > Bildung.
       
 (IMG) Bild: Die Vermittlung von Vergangenheit ist wichtig, sollte aber zeitgemäß sein: Münchener City 1946
       
       Abiturient:innen an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg sollen
       für das Abitur 2024 Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ [1][als
       Pflichtlektüre lesen]. Aufgrund des Rassismus in diesem Roman hat die Ulmer
       Deutschlehrerin Jasmin Blunt gegen diese Vorgabe eine Petition auf den Weg
       gebracht.
       
       Das Kultusministerium in Stuttgart hat bisher abwehrend reagiert. Offenbar
       gibt es keinen Grund zur Sorge, weil Lehrer:innen in Fortbildungen
       ausreichend geschult worden seien und den Roman im Unterricht zum Anlass
       nehmen könnten, um über Rassismus zu sprechen.
       
       Die Frage, ob der Roman für die Schullektüre überhaupt geeignet ist, wird
       nicht ernsthaft gestellt. Um sie zu beantworten, müssten allerdings ganz
       andere Fragen gestellt werden, nämlich erstens, was gemeint ist, wenn von
       Rassismus in Koeppens [2][Roman gesprochen wird], und zweitens, mit welchem
       Ziel in der Schule eigentlich Literatur gelesen werden soll und welche
       Konsequenzen das für die Textauswahl hat.
       
       Zur ersten Frage: In rassistischer Sprache drücken sich Einstellungen und
       Weltvorstellungen aus, die Menschen ihre Ebenbürtigkeit und Menschlichkeit
       absprechen. Entsprechend taucht Rassismus in Koeppens Roman auf, wenn
       Gefühle und Phantasmen von weißen zu Schwarzen Figuren beschrieben werden.
       
       ## Reproduktion von Rassismen
       
       Sie werden nicht einfach erzählt, sondern mittels einer Montagetechnik
       zusammengestellt, mit dem Effekt, dass ein sehr verdichtetes Porträt der
       Figuren wie auch ihrer Vorstellungswelt entsteht.
       
       [3][Die rassistischen Einstellungen] der Figuren sollen durch diese
       Zuspitzung im Roman sicherlich kritisch vorgeführt werden. Wenn der Roman
       für seine Rassismuskritik jedoch im Modus der Verdichtung arbeitet, dann
       reproduziert er Rassismen (und Sexismen) in konzentrierter Form. Das macht
       ihn sehr gewalttätig.
       
       Es sind zum Teil verstörende Passagen, wenn es zum Beispiel um die Figur
       Carla geht, die lustvoll von ihrer Vergewaltigung träumt: „In der sechsten
       Woche hielt Carla es nicht mehr aus. Sie träumte von N*****. […] Schwarze
       Arme griffen nach ihr: wie Schlangen kamen sie aus den Kellern“. – Es sind
       Passagen, die man eigentlich nicht mehr zitieren möchte oder zitieren
       sollte, aber offenbar angesichts des Insistierens vonseiten der
       Verantwortlichen in ihrer Drastik noch einmal zitieren muss.
       
       Auch die Erzählinstanz selbst findet keine antirassistische Sprache, wenn
       sie Schwarze Figuren beschreibt – obwohl sie zu den „positiv“ gestalteten
       gehören sollen. Mit Blick auf den Versuch einer Rassismuskritik scheint
       dieser Rassismus ungewollt zu sein. Dennoch werden zentrale Schwarze
       Figuren vor allem über Körperlichkeit, Sexualität und Animalität bestimmt.
       
       Wenn der Roman dazu das ganze Arsenal exotistischer und primitivistischer
       Stereotype der Moderne benutzt, von „Lendenstärke“ oder „Tierhaftigkeit“
       spricht, dann zeigt sich vor allem, wie tief rassistische Vorstellungen in
       den 1950er Jahren verwurzelt sind – und wie schwierig es ist, eine
       nichtrassistische, gewaltfreie Sprache zu finden, um über Rassismus zu
       sprechen.
       
       ## Wirkung muss kritische reflektiert werden
       
       Ein literaturwissenschaftliches Lesen ist immer ein zweifaches: ein
       analytisch-distanzierendes und ein ästhetisches, das den Wirkungen eines
       Textes folgt – auch wenn sie dann kritisch reflektiert werden. Ästhetische
       Wirkungen sind trotzdem da und lassen sich nicht einfach ausklammern. Sie
       in einer gewaltfreien Sprache zu formulieren, ohne sie zu reproduzieren,
       ist eine große Herausforderung, auch in der Hochschullehre.
       
       Wenn Menschen in unserer Gesellschaft nun sagen, dass sie sich durch die
       Sprache des Romans verletzt fühlen, haben sie möglicherweise
       Diskriminierungserfahrungen, die beim Lesen des Romans aktualisiert werden.
       Das nicht ernst zu nehmen, bedeutet, ihre Erfahrungen nicht ernst zu nehmen
       und andere Lebenserfahrungen und Lernbiografien bei der Auswahl der
       Pflichtlektüre zu privilegieren: solche, in denen Diskriminierung keine
       Rolle spielt.
       
       Das widerspricht dem Grundsatz der Chancengleichheit und nimmt in Kauf,
       dass sich Schüler:innen mit Diskriminierungserfahrung erst durch
       ihre verletzenden, vielleicht traumatischen Erfahrungen hindurcharbeiten
       oder sie verdrängen müssen, bevor sie sich analytisch mit dem Text
       auseinandersetzen können.
       
       Abgesehen davon ist es vielleicht auch für Schüler:innen ohne
       Diskriminierungserfahrung nicht erstrebenswert, auf diese Weise mit
       Rassismus konfrontiert zu werden.
       
       Zur zweiten Frage: Was soll Schüler:innen im Literaturunterricht
       eigentlich vermittelt werden, wenn historische Texte gelesen werden?
       
       ## Ein Literaturkanon muss inklusiv sein
       
       Literatur hat ja keinen Wert an sich. Und unser Blick auf Literatur ist
       auch nicht unveränderlich. Im Gegenteil, mit der Veränderung unserer
       Gesellschaft verändert sich auch unser Blick auf das kulturelle Erbe und
       Gedächtnis.
       
       Wie die gegenwärtige Restitutionsdebatte ist auch die Literatur von diesem
       Prozess nicht ausgenommen. Wenn Literatur ein positiver Bezugspunkt sein
       soll – und zwar für alle –, weil sie Wissen und Erfahrungen aus anderen
       Zeiten vermitteln kann, dann müssen wir mit Blick auf die gegenwärtigen
       Veränderungen und nicht zuletzt mit Blick auf die Diversität und Pluralität
       unserer Gesellschaft entsprechend auswählen.
       
       Wir müssen überlegen, was wir dafür tun können und müssen, damit unser
       Literaturkanon auch in historischer Perspektive inklusiv und nicht exklusiv
       ist. Angesichts der Weltlage ist die Entscheidung, die Trümmer- und
       Nachkriegsliteratur in der Pflichtlektüre präsent zu halten, sicherlich
       richtig.
       
       Aber es muss nicht unbedingt Koeppens Roman sein. Und ja, Rassismus gehört
       als Thema auch an die Schule und in den Deutsch- und Literaturunterricht.
       Wenn aber Lernen vor allem am Modell geschieht, dann macht es mehr Sinn,
       Texte zu wählen, die Rassismus in einer nichtrassistischen Sprache
       verhandeln. Dann wäre der Lernweg auch kürzer.
       
       Darüber hinaus frage ich mich, warum wir Jasmin Blunt nicht danken.
       Offenbar ist keinem bei der Textauswahl aufgefallen, wie kontrovers die
       Koeppen’sche Rassismuskritik aus heutiger Perspektive diskutiert werden
       muss. Offenbar haben die, die wir – wie ich – zur weißen
       Mehrheitsgesellschaft ohne Diskriminierungserfahrung gehören, selbst
       nach den vielen Black-Lives-Matter-Protesten 2020 auch in Deutschland immer
       noch nicht genügend Sensibilität und Erfahrung, es von allein zu bemerken.
       
       Die Autorin ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an
       der Universität Tübingen
       
       28 Mar 2023
       
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