# taz.de -- Proteste gegen die Justizreform: Der Geist von Pessach
       
       > Gestrandet in einer Stadt, in der Benjamin Netanjahu viele Wähler hat:
       > Ein Blick auf Israel von außen und auf andere von außen.
       
 (IMG) Bild: Demonstrant:innen gegen die Justizreform in Tel Aviv am Abend des 27. März 2023
       
       Seit dem Morgen geht nichts mehr. Es ist der 27. März und Israel erlebt
       einen historischen Generalstreik, nachdem Netanjahu Verteidigungsminister
       Joaw Galant entlassen hat, weil er eine Aussetzung der geplanten
       Justizreform gefordert hatte. Fünf ältere Männer starren am Eingang eines
       zur Straße hin offenen Kiosks auf einen TV-Bildschirm. Sie warten auf die
       verzögerte Ansprache Netanjahus.
       
       Wo wir herkommen, wollen sie wissen. „Deutschland, ah, wollt ihr Bibi nicht
       mitnehmen?“ Sie sitzen am Ortseingang der Stadt Petach Tikwa, wo wir wegen
       des Streiks zusammen mit einem russischen Juden, Anfang 20, Student,
       gestrandet sind. Um den Hals trägt er ein Kreuz. „Didn’t you say you were
       jewish. Why the hell are you wearing a cross?“, frage ich. „Pah, jewish?“,
       platzt es aus ihm heraus. Er winkt ab: „Am I crazy?“ Er sei Russe, sagt er
       sehr stolz.
       
       Die Männer reden über die Antiregierungsproteste und warum sie gut sind.
       „The demonstrators make chaos“, wirft der Student ein. Auch die Männer
       wollen nun wissen, was mit dem Russen los ist. Putin sei vielleicht schon
       längst tot, der jetzige ein Double, meint er. Denn Putin hätte niemals
       solche Fehler begangen. „Die Ukraine völkerrechtswidrig anzugreifen?“,
       frage ich. „Nein, den Widerstand of the ukrainians nicht vorhergesehen zu
       haben.“ Und der Westen, der habe schon mal gelogen. Serbien.
       
       An Israel interessiert ihn einzig und allein, dass er mit der israelischen
       Staatsbürgerschaft in die EU einreisen kann, sonst habe er nichts mit
       diesem Land und den Juden zu schaffen.
       
       ## Reiz des Autoritären
       
       In einem Israel, das Russland oder der Türkei gliche und mit der neuen
       Regierung auf dem Weg dorthin ist, würde er sich sicher wohler fühlen. Was
       bloß ist der Reiz des Autoritären, frage ich mich, während ich ihm zusehe,
       wie er eine Pizza isst. Und warum macht ihn sein Eigennutz so stolz?
       
       Es gibt Nazis in der Ukraine, ist er überzeugt. Die israelischen Männer
       lachen. Einer zeigt ihm den Vogel. „Was denkst du über Israel?“, frage ich.
       „Israel only makes trouble in the Middle East“, antwortet er. „Und
       Russland?“ „Ist Sache der Politik“, antwortet er. Israel macht Ärger,
       Russland hat Ärger. Mit dieser Sicht steht der Student nicht alleine und
       schon gar nicht auf einer bestimmten Seite des politischen Spektrums.
       
       „Über den Nahen Osten und den dortigen Dauerkonflikt kursieren Schlagwörter
       und Klischees, die zwar einiges über die Weltsicht derjenigen, die sie
       formulieren, aussagen, aber wenig über die dortigen Verhältnisse“, las ich
       gerade in dem kleinen Buch „Nahostkonflikt“ von Carsten Schliwski (Reclam
       2023), das einführend denselben historisch aufrollt.
       
       Schliwski thematisiert auch die sogenannte Israelkritik und die angebliche
       Alleinschuld Israels am Nahostkonflikt. Das Buch ist nebenbei ein
       unaufgeregtes Gegenmittel für [1][manch postkoloniale Denkschablone].
       
       ## Fest der Freiheit
       
       Zurück in Deutschland gehen mir dauernd die Bilder aus Israel durch den
       Kopf. Die jungen und alten Menschen, wie sie inbrünstig ihr Land gegen den
       Autoritarismus verteidigen. Auf Instagram ploppt ein Video auf, eine junge
       Frau wird von einem berittenen Polizisten mit einer Rute geschlagen. Die
       Menge ruft „Schande“, immer wieder „Schande“. Das ist es. Diese [2][Schande
       wollen die Superreligiösen und Rechten], die Autoritären. Überall.
       
       Die Antiregierungsprotestierenden wissen, es geht um ihre Zukunft, derer
       sie sich nur sicher sein können, solange es dieses Land als einigermaßen
       demokratisches geben wird. Jetzt ist Pessach, die Geburtsstunde des Volkes
       Israel. Ein Fest der Freiheit. Die Protestierenden werden den Geist von
       Pessach zu nutzen wissen. Das ist sicher.
       
       6 Apr 2023
       
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