# taz.de -- Koenen-Buch „Im Widerschein des Krieges“: Blackbox deutsch-russische Beziehung
       
       > Gerd Koenen war Aktivist im Kommunistischen Bund Westdeutschlands, heute
       > ist er Russlandexperte. Über den Analytiker des Totalitären.
       
 (IMG) Bild: Parade auf dem Roten Platz in Moskau am 9. Mai 2022 zum 77. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland
       
       „Ein greller Blitz der Erkenntnis hat in der Mitte der bundesdeutschen
       Öffentlichkeit und des Berliner Parlaments eingeschlagen.“ Für den Spiegel
       kommentiert Ost-Europa-Experte Gerd Koenen im März 2022 den russischen
       Überfall auf die Ukraine. Sarkastisch analysiert er, wie dieser
       „Erkenntnisblitz“ die deutsche Politik und Öffentlichkeit mit Russlands
       Angriffskrieg im Februar 2022 endlich erreichte.
       
       Und sich auch in der deutschen Politik die bittere Gewissheit durchsetzte,
       dass man zur Verteidigung von Demokratie und Menschenrecht in Europa
       künftig selbst militärisch gefordert sei. Sich also nicht weiter hinter den
       Amerikanern verstecken kann, während man mit Verweis auf die Geschichte
       emsig Handel mit Schurken treibt.
       
       Koenen beschreibt die bis Februar 2022 dominante deutsche Grundhaltung in
       vielen seiner Texte, die in dem Buch „Im Widerschein des Krieges.
       Nachdenken über Russland“ versammelt sind. Etwa wie die Deutschen auch noch
       nach der russischen Annexion der ukrainischen Krim 2014 „im Gewand einer
       feierlichen ‚Nie wieder‘-Rhetorik und gespickt mit ‚Lehren aus der
       Geschichte‘“ ihrer historischen Verantwortung nicht gerecht wurden. Und
       sich aus ökonomischen Eigeninteressen einfach neutral gaben.
       
       In dem floskelhaften Antifaschismus von Angela Merkels CDU – und zuvor
       Gerhard Schröders SPD – sieht Koenen einen rituellen Vorgang, um sich mit
       deutsch-russischer Geschichte nicht beschäftigen zu müssen. Nicht mit dem,
       was es für die „Pufferstaaten“ hieß, zwischen Sowjetunion und Nazireich
       eingeklemmt zu sein. Blackbox Ukraine, Blackbox Baltikum, Blackbox
       Weißrussland, Blackbox Polen – Blackbox Hitler-Stalin-Pakt, Blackbox
       „Bloodlands“.
       
       ## Einst selbst Kommunist
       
       Gerd Koenen, geboren 1944 in Marburg, gehört zu den profunden Kennern des
       östlichen Totalitarismus in Deutschland. In den 1960er Jahren politisiert,
       schloss er sich nach der Ermordung Benno Ohnesorgs (1967) dem
       Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) an. Sein Promotionsstudium
       als Historiker bei Iring Fetscher in Frankfurt am Main verwarf er 1973
       zugunsten einer Karriere im Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW).
       
       Man versteht die Radikalisierung der Linken nach 1968 jedoch kaum, so man
       die damalige Phase des Postfaschismus nicht insgesamt in den Blick nimmt.
       Koenen gehört zu der ersten Generation, die nach 1945 mit demokratischen
       Freiheitsversprechen aufwuchs. Und die sich zugleich mehrheitlich mit im
       „Dritten Reich“ sozialisierten Erwachsenen konfrontiert sah.
       
       Auch der heutige baden-württembergische Ministerpräsident Winfried
       Kretschmann, kein Radikaler, war einst im KBW. Die Jugend um 1968 wollte
       nach- und zurückholen, was der deutsche Nationalsozialismus unterbrochen
       und versucht hatte, vollständig zu eliminieren.
       
       Koenen hatte Anfang der 1980er genug vom autoritären Kommunismus und war
       auch von den eher libertären Strömungen der Frankfurter Sponti-Linken um
       Dany Cohn-Bendit und Joschka Fischer beeinflusst. Er begann seine mit
       Praxiserfahrung gesättigte analytische Auseinandersetzung mit den
       verschiedenen Spielarten des [1][totalitären Kommunismus.]
       
       ## Analytiker des Totalitären
       
       Eine kleine Auswahl der Titel seiner Buchpublikationen mag dies andeuten:
       1987 erschien „Die großen Gesänge: Lenin – Stalin – [2][Mao Tse-tung].
       Führerkulte und Heldenmythen des 20. Jahrhunderts“; 1998 „Utopie der
       Säuberung. Was war der Kommunismus?“; 2001 „Das rote Jahrzehnt. Unsere
       kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977“. 2017 [3][„Die Farbe Rot.
       Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“] mit 1.136 Seiten. Es gilt als
       das Opus magnum des freiberuflich tätigen Historikers und Publizisten.
       
       Da mutet die jetzige Textsammlung „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken
       über Russland“ mit 300 Seiten fast bescheiden an. Sie umfasst Schriften,
       die Koenen in den letzten 25 Jahren über Russland und aktuell verfasst hat.
       
       Ausgehend vom jetzigen Kriegsgeschehen beleuchten sie den Aufstieg Putins,
       das Scheitern der Demokratie in Russland aus historischer Perspektive. Sie
       verdeutlichen, dass es, anders als die Wagenknechts, Brandts und Welzers
       behaupten, nicht die Nato ist, wegen der Putin immer aggressiver wurde.
       
       Es sind die inneren, die farbigen Revolutionen der Demokratiebewegungen in
       Minsk, Kiew oder Tiflis, auf die er reagiert. Sein Regime verlagert den
       Konflikt nach außen, um die Herrschaft in der militärischen Eskalation
       gegen „Gayropa“, Juden, „Kleinrussen“ und angebliche Nazis durch völkischen
       Mobilisierung im Inneren zu festigen. So zumindest die wahnhafte Absicht.
       
       ## Putin und der Hitler-Stalin-Pakt
       
       Putin und seine Propagandisten haben in den letzten zwei Jahrzehnten
       begonnen, [4][systematisch die Geschichte Russlands umzudeuten.] Koenens
       Texte beschreiben, wie diese Clique mit Machtantritt 1999/2000 daran ging,
       [5][rechtsstaatliche und demokratische Transformationsprozesse zu stoppen].
       Im Namen eines großen neuen imperialen Russlands, unter Anrufung
       stalinistischer und zaristischer Traditionen, inklusive Männer- und
       Führerkult.
       
       Wirtschaftliche und [6][politische Konkurrenten wurden aus dem Weg
       geräumt]. Koloniale Kriege geführt. Aber nicht einmal Auftragsmorde an
       Kritikern wie Anna Politkowskaja (2006) oder Boris Nemzow (2015) führten im
       Westen zu der „Zeitenwende“, die erst der jetzige Überfall auf die Ukraine
       nach sich zog.
       
       Gerd Koenens Auseinandersetzung mit dem Nachwirken des Hitler-Stalin-Pakts
       (1939–1941), dem oberflächlichen Nachbeten kommunistischer
       Propagandaphrasen, vor denen weder Thomas Mann noch Simone de Beauvoir
       gefeit waren, sind eine Einladung, [7][die eigene und die Geschichte der
       Linken kritisch wahrzunehmen]. Der Autor hofft, dass Witz, Authentizität,
       Nahbarkeit und Humanismus, die der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski
       ausstrahlt, über die stumpfe Rohheit der Invasoren siegen mögen.
       
       [8][Die Deutschen täten dabei gut daran], den Blitz der Erkenntnis nach dem
       24. 2. 2022 noch ein wenig leuchten zu lassen. Schließlich haben sie
       gehörigen Anteil daran, dass Putin glauben mochte, seinen Angriffskrieg
       ungestraft und siegreich führen zu können.
       
       28 Apr 2023
       
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