# taz.de -- Visual Poem im Theater Bremen: Verbundensein ist fast ein Witz
       
       > Regisseur Alexander Giesche verwandelt Kae Tempests Essay „On Connection“
       > in ein Visual Poem. Als Solo auf großer Bühne entwickelt es echte Magie.
       
 (IMG) Bild: Nadine Geyersbach performt auf der leeren Bühne. Percussionist Paul Amereller begleitet sie diskret
       
       Es plätschert. Und das reicht ja schon, um Bilder ins Bewusstsein zu rufen:
       [1][Ein Mythos braucht nicht viele Requisiten]. Eine Quelle, unbestimmte
       Ränder und ein Spiegel – das genügt, um die Erz-Erzählung von Narziss zu
       wecken. Selbst in Köpfen, die davon nichts wissen, die diese [2][Ur-Szene
       der Selbsterkenntnis nicht zu kennen glauben]: Sie ist ja immer
       mitgelieferter Ballast noch der kulturfernsten Bildungsbiografie.
       
       Im Bremer Theater am Goetheplatz fällt hinten auf der großen, fast leeren
       Bühne, an der Schwelle zum Lointain, ein Strahl klaren Wassers aus dem
       Schnürboden. Schon beim Reinkommen zur Uraufführung von Regisseur Alexander
       Giesches Visual Poem „Verbundensein“ am vergangenen Samstag plätschert es.
       Schon vor dem Anfang hat es angefangen.
       
       Und neben dem helltönenden Quell steht eine Spiegelwand, in der die
       Zuschauerschaft sich selbst sieht; aus den ersten Reihen noch, mit etwas
       Mühe, jeder Einzelne als sein eigenes Gesicht, weiter hinten dagegen nur
       als andersheller Fleck in dieser in den Raum gestaffelten Masse, in die er
       sich aufgelöst hat, das Publikum halt. Ein Wir?
       
       Giesches Inszenierung reagiert auf Spoken-Words-Poet Kae Tempests im ersten
       Corona-Lockdown geschriebenes und publiziertes Büchlein „On Connection“.
       Persönlich stammt der Essay zugleich aus einer Phase tiefgreifender
       Änderung.
       
       ## Sich mit der Dohle identifizieren
       
       Er zeugt nämlich auch vom Lebensereignis der Transition von Kate zu Kae,
       von einer Frau, die sich falsch in ihrem Körper weiß, in einen nonbinären
       Menschen, der sich mit der altenglischen Bedeutung seines neuen Namens
       identifiziert: Eichelhäher oder Dohle. „Ovid sagt, die Dohle hat den Regen
       gebracht“, heißt es in their Kommuniqué, [3][den der Guardian im Sommer
       2020 abgedruckt hat].
       
       Tatsächlich wirkt auch der Essay „On Connection“ in seinen
       autobiografischen Fragmenten am berührendsten. In ihnen sind Ängste
       spürbar, wird das Unglück des Körpers benannt, ein Ringen um die Person,
       die Ich sagt, bestimmt den Rhythmus. Die diskursiven Passagen bleiben ohne
       diesen Hintergrund schwach. Gedanklich sinken sie mitunter auf
       Ratgeberniveau herab. Vor allem, wenn Tempest die erste Person Plural
       benutzt.
       
       Das We verleiht dem Text dann eine autoritär-pastorale Geste, einen
       Verkündigungston: „Um unser Gleichgewicht wiederzuerlangen“, heißt es da
       (als hätte es je so etwas wie ein Gleichgewicht gegeben), müssten wir die
       Fähigkeit wiedererlangen „to go deep, to ‚turn away from outer things‘. To
       face what is in ourselves“.
       
       Hätte Giesche diese raunende Aufforderung, „sich dem zu stellen, was in uns
       ist“, hier unmittelbar in Szene gesetzt? Mindestens wirkt es so, und gerade
       dank einer so lapidaren, fast schon banalen Bildgebung, die es mehrere
       Minuten lang ohne jede Aktion, ohne Auftritt, ohne Musik, ohne Lichtwechsel
       auszuhalten gilt, vermag der Text, wenn er dann später auf die Bühne kommt,
       sein Pathos zu überwinden.
       
       Er wird also ironisiert, aber romantisch, und nicht im zerstörerischen
       Spott verlacht. Er bleibt in der Schwebe, umwallt von Bühnennebeln. Er
       glänzt, er irisiert. Poetisch.
       
       Das gelingt und wird sehenswert vor allem, weil Schauspielerin Nadine
       Geyersbach ihn verkörpert. Nur vom diskreten Schlagzeug Paul Amerellers
       unterstützt, muss sie den zweistündigen Abend als Solo bestreiten.
       
       Ganz allein, nur durch die eigene Präsenz, durchs Agieren, Rennen,
       Hin-und-Her-Tigern gelingt es Nadine Geyersbach, die 320 Quadratmeter
       Bühnenfläche im Großen Haus zu einer intimen Sphäre zu komprimieren. ie
       verdichtet sie zu ihrem Raum. Und durch sie hindurch scheint die Person Kae
       Tempest, ohne dass sie deren Rolle zu spielen vorgibt.
       
       Ein Visual Poem unterscheidet sich markant von herkömmlichen
       Bühnenfassungen einer erzählerischen Vorlage. Deren Qualität ist nicht
       entscheidend. Wichtig ist, dass sie ein szenisch-theatrales Denken und
       Nachdenken befeuert.
       
       Giesche hat das Genre erfunden und 2012 bis 2014 in seiner Zeit als Artist
       in Residence am Theater Bremen entwickelt, um es später dann an den
       Münchner Kammerspielen und als Hausregisseur im Schauspielhaus Zürich zu
       perfektionieren. Zuvor noch in Studio- und auf Raumbühnen experimentierend,
       hat er in der Schweiz damit den staatstheatralen Guckkasten erobert.
       
       Größter Erfolg war 2020 „Der Mensch erscheint im Holozän“, eine Arbeit, die
       ihre Motive in Max Frischs gleichnamiger Erzählung gefunden hatte: ein
       echtes Bühnenereignis trotz Corona, das zum Berliner Theatertreffen
       eingeladen, als Schweizer Theaterproduktion des Jahres ausgezeichnet sowie
       mit dem 3sat- und dem Nestroy-Preis geehrt wurde.
       
       Seither hat sich etwas geändert: Giesche gestaltet mittlerweile mit Anka
       Bernstetter zusammen seine Theaterräume, auch den der
       „Verbundensein“-Produktion. Die vorherigen Visual Poems waren optisch stark
       durch Bühnenbildnerin Nadia Fistarols geradezu überwältigend sinnliche
       Bildsprache geprägt.
       
       Giesches neue Vorstellung vom Raum erweist sich dagegen als karg und
       abstrakt: Ein Podest fürs Schlagzeug, rechts, in der Mitte steht ein
       vielleicht 30 Zentimeter hoher Beleuchtungsroboter, dessen Wendigkeit
       ausprobiert wird. In unterkühltem Licht muss Geyersbach als Vor-Leserin
       langer Passagen des Essays auftreten. Sie muss, mit Hulk-Händen, seine
       Gewalt und im Kuschel-Hoodie seine Unsicherheit performen, seine poetischen
       Aufschwünge und den Gedankenflug ausagieren.
       
       Hängend an einer kreisenden Scheinwerfer-Traverse fährt sie Karussell mit
       dem Text, scheint ihm Schwerelosigkeit zu verleihen, scheint sie aus ihm zu
       beziehen, hebt ab, macht Sätze, als wäre sie auf dem Mond.
       
       Bildgewaltig [4][ist das an keiner Stelle], weil die Herstellung der Szene
       selbst zum Thema gemacht wird und in der Realisierung transparent bleibt.
       Ihrer Entstehung wird Zeit gegeben, manchmal quälend viel Zeit, sodass ein
       Empfinden dafür wächst, gemeinsam auf das nächste Bühnenereignis zu warten,
       das sich so lange schon ankündigt. Zum Beispiel: Umständlich nestelt
       Geyersbach an den Karabinerhaken herum, mit denen sie sich mit der
       Scheinwerferaufhängung verbindet, bevor sie mit wirklich ihr herumfliegt:
       Safety first!
       
       Oder: Nach und nach entschwebt Amereller in seinem Schlagzeugdeck auf einem
       Podest in den Bühnenhimmel, bis er wirklich, den Blicken entzogen, nur noch
       akustisch wahrnehmbar ist. Oder: Geyersbach schmiert ein Ständermikrofon
       erst mit Brennpaste aus einem Blecheimer ein. Dann wird dieser scheppernd
       und unter Dank dem Technik-Team zurückgegeben. Ein Feuerzeug wird erbeten.
       
       ## Brennendes Mikro
       
       Schließlich zündet sie das Ethanolgel wirklich an und der Verstärker spielt
       das Lodern und Knacken der Flammen in den Saal. Freiwillige aus dem
       Zuschauerraum bauen, auf Knien kriechend, aus waschekörbeweise auf die
       Bühne geschafften VHS-Kassetten Schlangenreihen. Und die fallen dann
       wirklich um, wie Dominosteine, rattattatátt!
       
       Beifall brandet auf, einmütig, ein Moment des Verbundenseins: Die
       Erlösungsfunktion, die der Essay Kunst zuschreibt, ist auch sehr billig zu
       haben, fast als Witz.
       
       „You don’t have to be engaged in ‚art‘ to feel empathy or access the
       depths“, schreibt Tempest ja auch, also mit „Kunst“ muss man am Ende nichts
       am Hut haben, um „Zugang zur Tiefe“ zu finden. Man solle halt anfangen, auf
       Dinge zu achten, „die ich für gewöhnlich nicht beachte“.
       
       Das Bild aber, in das sich die Bühne dabei verwandelt hat, ist das einer
       Trümmerlandschaft, trostlos, über die Geyersbach irrt, unverbunden, einsam.
       Allein mit dem Buch, aus dem sie vorliest. Vielleicht ist der Essay ein
       viel traurigerer Text, als er selbst glaubt. Darin, das sichtbar zu machen,
       liegt die Schönheit von Giesches Visual Poem.
       
       6 May 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.gottwein.de/Lat/ov/ovmet03339.php
 (DIR) [2] https://lacan-entziffern.de/spiegelstadium/je-und-moi-im-aufsatz-ueber-das-spiegelstadium/
 (DIR) [3] https://www.theguardian.com/music/2020/aug/06/kate-tempest-announces-they-are-non-binary-changes-name-to-kae
 (DIR) [4] https://www.nachtkritik.de/nachtkritiken/deutschland/bremen-niedersachsen/bremen/schauspiel-bremen/verbundensein-theater-bremen-regisseur-alexander-giesche-verwandelt-kae-tempests-essay-in-performancetheater-mit-nadine-geyersbach-im-zentrum
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Benno Schirrmeister
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Theater Bremen
 (DIR) Performance
 (DIR) Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
 (DIR) Bremen
 (DIR) Theater
 (DIR) Podcast „Vorgelesen“
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Theater bei Werder Bremen: Unbekümmert auf'm Platz
       
       Theaterinstallations- und Entschleunigungskünstler Alexander Giesche nutzt
       das Kicken auf dem Werder-Fußballplatz zur Meditation übers Leisten und
       Leiden.
       
 (DIR) Sphären&Szenen: Der Teppich als Geburtskanal
       
       Mit Alexander Giesches berührerendem visual poem „Der perfekte Mensch“
       nähern sich im Bremer Schauspielhaus die säuberlich getrennten Sphären von
       Freier Szene und Stadttheater einander an
       
 (DIR) Performing Arts im Stadttheater: "Vollkommenheit gibt's nur im Tod"
       
       Artist in Residence Alexander M. Giesche stellt mit SchauspielerInnen die
       Frage nach dem perfekten Menschen – und erinnert das Theater Bremen daran,
       dass es auch Imkerei sein sollte