# taz.de -- Obdachlosigkeit und Aufbruch: Mein Leben auf der Straße
       
       > Unser Autor ist auf der Straße groß geworden, der Berliner Hermannplatz
       > war sein Wohnzimmer. Eine Geschichte von Gewalt, Drogen und Zusammenhalt.
       
       Ich öffne die Haustür, und dort steht er. Er sieht gesünder aus, als ich
       ihn in Erinnerung habe, scheint weniger Knochen im Gesicht zu haben. „Was
       machst du denn hier?“, frage ich erstaunt. Ich wollte das Haus verlassen,
       verabredet waren wir nicht. „Hi, ich bin gerade zwei Tage raus und dachte,
       ich komme mal vorbei“, antwortet er.
       
       Er ist frisch aus dem Knast entlassen worden.
       
       Wir sind etwas unbeholfen, nesteln an unseren Sachen herum. Über ein Jahr
       haben wir uns nicht gesehen. Jetzt, an einem Sonntag im April 2023, ist er
       plötzlich wieder da.
       
       „Komm her, lass dich drücken“, sage ich. Wir umarmen uns. Ich fühle mich
       verbunden. So verbunden, wie ich es sonst kaum kenne. Pascal D. zählt zu
       meiner Berliner Straßenfamilie.
       
       Wir lernten uns vor langer Zeit am Hermannplatz kennen – zwischen Karstadt
       und U-Bahn, zwischen Sonnenallee und Hasenheide. Dort war unser gemeinsames
       Wohnzimmer. Wir gehörten zu einer Gruppe drogenabhängiger Obdachloser, die
       sich hauptsächlich an diesem Platz aufhielten.
       
       Ich habe den Absprung geschafft. Seit etwa zehn Jahren bin ich weg von der
       Straße.
       
       Ich bin clean.
       
       Ich arbeite.
       
       Ich wohne.
       
       Er nicht, zumindest nicht dauerhaft. Pascal lebt derzeit in einem
       Übergangswohnheim, „Carpe Diem“ heißt es. Nüchtern scheint er auch zu sein.
       „Erste Schritte in ein anderes Leben“, sagt er.
       
       Ich freue mich, ihn zu sehen. Zugleich schlägt unsere Begegnung wie eine
       Bombe in meine Gegenwart ein. Eben noch sitze ich an meinem Macbook,
       pünktlich zum Mittag will ich los, einkaufen im Bioladen. Nun steht Pascal
       vor mir. Und mit ihm mein altes Leben.
       
       Erinnerungen tauchen auf: Vanillepudding für 29 Cent, Schrippe dazu. Das
       Kupfergeld, das wir zusammensuchen, um an der Kasse bezahlen zu können.
       Lange her.
       
       Ich bin auf der Straße groß geworden. Mit 12 Jahren haue ich erstmals von
       zu Hause ab, mit 13 erneut. Zunächst pendele ich noch zwischen meinen
       geschiedenen Elternteilen und der Obdachlosigkeit. Bald hänge ich nur noch
       am Alexanderplatz und am Bahnhof Zoo ab. Manchmal chille ich in der Potse,
       einem Jugendclub in Schöneberg.
       
       Ich suche Hilfe, aber keiner hört mir zu. [1][Auch das Jugendamt] erkennt
       meine Not nicht. Als ich im Frühjahr 2004 meine Situation dort schildere,
       sagt eine Mitarbeiterin zu mir: „Wir sind für Fälle mit echten Problemen
       da. Nicht für Teenies, die mal kurz keine Lust auf ihre Eltern haben.“ Ich
       verlasse ihr Zimmer, verlasse das Haus. Ein Weg aus Steinplatten führt auf
       die Straße. Er kommt mir unendlich lang vor.
       
       Mitte der Nuller Jahre leben mehrere tausend Kinder und Jugendliche auf der
       Straße. Heute sind den Schätzungen [2][des Deutschen Jugendinstituts]
       zufolge mindestens 6.500 unter 18-Jährige obdachlos. Sie würden am ehesten
       durch die sogenannten Überlebenshilfen aufgefangen, heißt es. Das ist ein
       feststehender Begriff für Essen, Schlafsack, Dusche und Ähnliches.
       Sozialarbeitende, zum Beispiel vom [3][Verein Straßenkinder,] fahren mit
       einem Bus durch Berlin und verteilen Tee und Essen. Sie hören zu, wenn
       jemand reden möchte. Auch ich habe von denen schon eine Suppe gelöffelt.
       
       Warum ich damals von zu Hause weg bin? Ich kenne kein Straßenkind, bei dem
       es „diesen einen Grund“ gibt. Die meisten kennen kein schönes Leben, und
       irgendwann sind sie alt genug, um etwas zu ändern. Wir wehren uns, indem
       wir fortgehen. Auf der Straße gehören wir dazu und beweisen uns. Wir
       versuchen, Spaß zu haben und den Rest zu vergessen. Das Straßenleben
       verbindet. Es ist zu kalt, zu warm, zu gefährlich, zu drauf, zu viel für
       eine Seele.
       
       Die Schule besuche ich in dieser Zeit nicht mehr, meine Versetzung in die
       10. Klasse „scheint ausgeschlossen“, steht auf einem Zeugnis. Ich trinke
       Alkohol, zu viel davon. Ich probiere vieles, auch Heroin. Mit 16 Jahren
       schleppe ich mich erneut ins Jugendamt. Dieses Mal hört mir ein Mitarbeiter
       zu. Jetzt bin ich offenbar „ein Fall mit echten Problemen“. Er sagt: „Wir
       werden mit Cleanpeace sprechen. Aber auf jeden Fall musst du zur Entgiftung
       für zehn Tage.“ Cleanpeace ist eine Koordinierungsstelle von Karuna, einem
       Verein für Kinder und Jugendliche in Not. Ich möchte so gerne alleine
       wohnen, mit Betreuung wäre auch in Ordnung, denke ich. Ich willige ein.
       
       In der Psychiatrie, in der ich entgifte, steht nach fünf Tagen eine
       Amtsärztin vor mir. Sie bringt mich in einer geschlossenen therapeutischen
       Einrichtung in Brandenburg unter. Davon war vorher nie die Rede, es wurde
       nicht mit mir abgesprochen. Wieso seid ihr nicht ehrlich? Ich hasse Euch.
       
       Mit richterlichem Beschluss werde ich in dem Heim zehn Monate eingesperrt,
       hinter einem grünen Zaun. Ich darf das Grundstück nicht verlassen, darf
       kaum Kontakt nach außen haben, soll rigide Regeln befolgen, die mir nicht
       einleuchten. Was habe ich eigentlich verbrochen?
       
       Später wird der Alltag etwas lockerer. Ich lerne eine liebe Therapeutin
       kennen und stehe die Zeit durch, zwei Jahre. Doch ich schaffe es nicht,
       drogenfrei zu leben. Als ich wiederholt rückfällig werde, muss ich gehen.
       Auch weil stationäre Jugendeinrichtungen sich nicht mehr in der
       Verantwortung sehen, wenn ihre Schützlinge erwachsen sind.
       
       Ich packe meine Sachen und steige in den Zug nach Berlin. 18 Jahre alt,
       Wanderrucksack, Alexanderplatz. Ich kiffe, trinke, schmeiße Tabletten ein.
       Für den Rückfall gibt es sogar ein Wort: Ehrenrunde heißt es im
       Psychiatrieslang, wenn jemand erneut auf der Straße und in der Sucht
       landet.
       
       Doch von nun an begleitet mich immerhin eine Hündin: mittelgroß,
       weiß-braun, vier Pfoten. Ich nenne sie Flöckchen. Sie ist [4][in der Köpi
       geboren], einem linken Hausprojekt in Kreuzberg. Ein Punk vom Alex kümmert
       sich um sie. Weil er wegen Körperverletzung verhaftet wird, übernehme ich
       sie. Erst ist es eine Katastrophe mit uns beiden, weil ich keine Ahnung von
       Hunden habe. Sechs Monate später möchte ich nicht mehr ohne sie leben. Am
       Fernsehturm gammeln wir herum. Flöckchen und ich. Gestrandete, Alkies,
       Punks.
       
       Wir trinken, lachen, und manchmal steigen die Fans vom BFC Dynamo aus dem
       Zug, um uns zu verprügeln. Es ist egal, ob sie ihr Fußballspiel verloren
       oder gewonnen haben. Das macht denen einfach Spaß.
       
       Über Paul, einen Altpunk vom Alex, gelange ich irgendwann in die Sparkasse
       am Hermannplatz. Paul habe ich über unsere Hunde besser kennengelernt, er
       gibt mir manchmal ein Bier aus. Er sagt: „Ich habe in einer Sparkasse einen
       Platz gesichert und brauche den nicht mehr.“ Gute Schnorrplätze bekommt man
       auf der Straße oft über Beziehungen. In der Bank gibt es Schichten, um den
       Platz unter mehreren Leuten aufzuteilen. Dieses System ist an begehrten
       Plätzen wie diesem üblich. Begehrt sind sie, wenn es dort „gut läuft“,
       überdacht und windstill ist.
       
       Paul ist für mich so etwas wie ein Vorbild. Die Altpunks vom Alex heißen
       „die Saubande“, sie haben sich über die Zeit Respekt erarbeitet. Sie
       bestimmen, was geht und was nicht. Wenn es Stress gibt, dann regeln sie
       das. Oft müssen sie nur auftauchen, und die Sache klärt sich wie von
       Zauberhand. Ansonsten wird die Hand zur Faust.
       
       In ein paar Jahren gehöre ich auch dazu, bin stark und unberührbar. Das ist
       alles, was ich will. 
       
       In der Sparkasse am Hermannplatz breite ich von nun an fast täglich meine
       Lederjacke für meinen Hund aus und verkaufe die Straßenzeitung motz. In
       meiner Freizeit sitze ich am Alex, zum Geldverdienen fahre ich in die Bank.
       Das läuft erstaunlich gut. Doch nach ein paar Wochen kommt es zu einem
       Moment, der einiges ändert: Ich will am Kottbusser Tor Gras kaufen, doch es
       gibt nur Heroin. Ich sage „okay“, bezahle und bin wieder angefixt. Unter
       den Punks ist Heroinkonsum verpönt. Ich habe keine Lust, darauf
       angesprochen oder schief angeguckt zu werden. Ich löse mich vom Alex und
       bleibe am Hermannplatz.
       
       Ein Altpunk werde ich wohl nicht mehr. 
       
       Am Alex war oft Party, am Hermannplatz lebt es sich gar nicht mehr
       unbeschwert. Ich lerne Wohnungslose kennen, die harte Drogen nehmen, und
       werde Teil dieser neuen Gemeinschaft. Die Leute sind ernster und viel älter
       als ich. Mit 20 bin ich der Jüngste unserer Gruppe. Es geht oft ums bloße
       Überleben. Rund um den Hermannplatz leben viele Menschen aus türkischen und
       arabischen Familien, aber die Gruppen der Obdachlosen mischen sich kaum. In
       unserer Straßenfamilie sind wir zu neunt.
       
       Das sind unsere Namen:
       
       Pascal D.;
       
       Jürgen G.;
       
       Christiane F.;
       
       Dude;
       
       Renate M.;
       
       Sabine weißichnichtmehr,
       
       Björn von H.,
       
       Goldlöckchen.
       
       Und ich, Sam Andreas.
       
       Ich heiße in Wirklichkeit allerdings anders. Weil nicht jeder meine
       Biografie im Internet finden soll, schreibe ich diesen Text unter einem
       Pseudonym.
       
       Am Hermannplatz leben wir in einer Parallelwelt. Das große Einkaufszentrum,
       Karstadt, ist unsere Basis. Die umliegenden Hausflure, Dachböden und Keller
       unser Bett. Den Menschen das Geld aus der Tasche zu fragen, ist unsere
       Arbeit. Freundlich, zuvorkommend, „bitte“, „danke“ und nicht zu
       aufdringlich. Jeden Tag und ohne Urlaub. Dieser Job ist für beide Seiten
       nicht leicht zu ertragen, schätze ich. Manchmal klauen oder dealen wir
       auch. Das ist noch unbefriedigender und funktioniert oft nur kurz.
       
       Jürgen G.: Jürgen steht an einem der Eingänge zu Karstadt und schnorrt. Ich
       kenne niemanden, der Jürgen nicht leiden kann. Er redet nicht viel. Jürgen
       hat sogar eine Visitenkarte: „vor Karstadt, Montag bis Samstag“, steht
       darauf. Die hat ein Student für ein Projekt drucken lassen. Total absurd,
       und trotzdem ist Jürgen sehr stolz darauf. Er verschenkt sein Kärtchen an
       seine „Stammkunden“ und wartet dann auf die irritierten Gesichter. Jürgen
       und mein Hund sind verknallt ineinander – kann man echt nicht anders sagen.
       Flöckchen spaziert manchmal von selbst los, um ihn zu suchen. Wenn sie ihn
       findet, wedelt ihre Rute so sehr, dass sie beinahe umfällt.
       
       Christiane F.: Jürgens zweite große Liebe heißt Christiane. Diese Frau ist
       nicht totzukriegen. Sie verabscheut alle, die sich klein machen. Wenn einer
       von uns rumnörgelt, was alles scheiße läuft, hält sie dagegen. Sie sieht
       immer das Positive. Christiane F. wurde durch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“
       deutschlandweit bekannt; am Hermannplatz redet niemand groß darüber, sie
       ist einfach eine von uns. Sie hätte eigentlich genug Geld und
       Möglichkeiten, um sich zu lösen. Aber sie bleibt bei uns, ihren Freunden.
       
       Pascal D. und Dude: Pascal besucht uns mehrmals täglich. Er ist immer auf
       Achse, grast die Mülleimer und Mülltonnen nach Flaschen ab oder arbeitet
       sich mit einer Straßenzeitung durch die U-Bahn. Meistens ist Dude mit
       dabei. Während Pascal bereits seine Dritten trägt und so dünn ist, dass man
       auf seinen Rippen Klavier spielen könnte, hält sich der jüngere Dude noch
       für etwas Besseres. Er sagt immer: „So wie ihr werde ich nicht. Ich habe
       eine Wohnung, und es ist alles unter Kontrolle.“ Dafür lachen wir ihn aus.
       Er weiß als angehender Junkie noch nicht, mit wem er sich angelegt hat: Die
       Königin H ist unbarmherzig und verschlingt jeden.
       
       Renate M.: Renate ist am Hermannplatz eine Institution. Sie schnorrt mit
       ihrem Hund Lumpi beim Übergang zwischen U-Bahnhof und Karstadt. Renate ist
       nur 1,60 Meter groß, aber kaum jemand wagt, ihren Platz unabgesprochen zu
       besetzen. Sie kann ausrasten – aber wie. Als ein Obdachloser von einem
       benachbarten U-Bahnhof einmal ihren Platz belegt, schreit sie ihn an: „Wenn
       ich dich Fatzke hier noch einmal sehe. Nein, unterbrich mich nicht.“
       Schimpfworte schallen durch den Schacht. Mit der motz verpasst sie ihm
       Ohrfeigen. Lumpi bellt, ununterbrochen. Der Neue haut fluchend ab, Renate
       setzt sich fluchend hin. Für Kino brauche ich hier am Hermannplatz echt
       kein Geld ausgeben.
       
       Sabine: Nach meinem ersten Jahr stößt eine jüngere Frau zu unserer Gruppe
       dazu: Sabine. Sie ist für die anderen keine Unbekannte, weil sie nur kurz
       auf Erholung war, im Knast. Das Gefängnis kann ein überlebenswichtiger Ort
       sein. Dort können wir auftanken, werden medizinisch versorgt, es ist warm,
       und es gibt regelmäßig Essen. Ich kenne mehrere Obdachlose, die sich zu
       Beginn der kalten Jahreszeit freiwillig stellen, um in den Knast zu kommen.
       Wir haben ein Dauerticket dahin, weil Kontrolleure uns regelmäßig wegen
       Schwarzfahrens in Bus und Bahn erwischen. Sabine besucht uns zunächst nur.
       Sie jobbt in einem Café und wohnt bei einem Kumpel. Sie versucht sich im
       normalen Leben, aber die Sucht ist bald stärker. Nach ein paar Monaten
       verliert Sabine ihre Arbeit, fängt wieder an zu schnorren. Manchmal kommt
       sie zu uns in die Sparkasse.
       
       Björn von H.: Dort arbeiten Björn und ich mit Goldlöckchen im
       Schichtdienst. Mit Björn verstehe ich mich anfangs nicht gut. Er gehört wie
       ich zu den Jüngeren, aber er ist mir zu weich, zu schlau. [5][Bevor er
       wegen Depressionen] auf der Straße landete, hat er eine Familie gegründet.
       Er hat sogar studiert. Und so redet er auch. Überhaupt will Björn immer
       alles mit Worten klären. Unsere Beziehung ändert sich jedoch im Laufe der
       Zeit. Wir wachsen zusammen, lernen voneinander. Irgendwann ist Björn mein
       bester Freund.
       
       Goldlöckchen: Mit dem etwas älteren Goldlöckchen habe ich nicht viel zu
       tun. Wir nennen ihn wegen seiner hellblonden Locken so. Er bekommt
       Substitutionsmedikamente, daher hat er einen anderen Tagesablauf:
       Goldlöckchen kriegt seinen Stoff zugeteilt und verdient sich etwas hinzu.
       Ich hingegen muss etwas verdienen und kann mir dann den Stoff kaufen.
       
       Damals sind wir 9 von etwa [6][22.000 Obdachlosen bundesweit]. Seitdem hat
       sich die Situation noch mal deutlich verschärft. Viele osteuropäische
       Obdachlose kamen nach Deutschland. Inzwischen trifft man vermehrt auch
       Frauen. 37.400 Menschen leben heute bundesweit auf der Straße. So steht es
       zumindest im Wohnungslosenbericht der Bundesregierung, der 2022 erstmals
       veröffentlicht wurde. Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen. Im Bericht
       heißt es, dass „insgesamt relativ lange Phasen der Wohnungslosigkeit von
       über einem Jahr dominieren“. Anders gesagt: Wenn jemand ganz unten ist,
       kommt er oder sie schwer (wieder) hoch.
       
       Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, die Obdachlosigkeit bis 2030 zu
       beenden. Ein großes Ziel, das Teil einer europäischen Strategie ist. Geht
       es nach dem EU-Parlament, sollen die Mitgliedsstaaten zu Wohnungslosigkeit
       forschen, sie sollen Obdachlosigkeit entkriminalisieren, für
       Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Wohnraum sorgen und genügend
       Gelder für Hilfen zur Verfügung stellen. Bei der Forschung mag Deutschland
       inzwischen ganz gut dastehen. Was die anderen Forderungen angeht –
       Entkriminalisierung, Gleichberechtigung und Geld –, ist noch viel zu tun.
       
       Meine Biografie ist vom jeweiligen Gegenteil dieser Worte durchsetzt:
       Verurteilung, Ungleichheit und Armut.
       
       Der Vorraum der Sparkasse ist um das Jahr 2010 herum unser Dreh- und
       Angelpunkt. Wenn jemand jemanden sucht, kommt er oder sie bei uns in der
       Sparkasse vorbei. Handys, um sich abzusprechen, haben wir keine – oder nur
       kurz, bis wir sie zu Geld machen. „Unsere“ Bank halten wir sauber. Die
       offiziellen Mitarbeitenden akzeptieren uns.
       
       Wenn der Geldtransporter kommt, dürfen wir als Einzige in der Sparkasse
       bleiben. Der Kastenwagen stellt sich komplett auf den Gehweg mit der
       Seitentür zum Eingang der Bank. So kommt keiner mehr hindurch, während die
       bewaffneten Angestellten die Geldkassetten auswechseln.
       
       Ich könnte manchmal auch eine Waffe gebrauchen. Es muss im Herbst 2011
       gewesen sein, als ein Typ mit Skimaske über dem Kopf in den Vorraum kommt.
       Er hebt, mit dem Blick zu mir, den Zeigefinger an die Stelle, wo ich den
       Mund vermute. Ich soll still sein. Ich bleibe sitzen und umklammere meinen
       Hund. Ganz fest. Nein, eigentlich will ich keine Waffe. Ich möchte viel
       lieber im Boden verschwinden. Die Skimaske bedroht den einzigen Kunden am
       Automaten. Der junge Mann scheint pleite zu sein, er kann nichts geben, er
       schluchzt und bebt. Und ich sitze einfach da und schaue zu. Da holt die
       Skimaske plötzlich ein Messer raus, die Klinge so lang wie mein Unterarm.
       Er setzt es nicht ein, sondern schlägt dem Geldlosen mitten ins Gesicht.
       Der rennt, stolpert um sein Leben, raus aus der Bank. Blut fließt,
       wahrscheinlich aus der Nase. Der Maskierte geht langsam hinterher und
       verschwindet in eine andere Richtung.
       
       Ich drehe mir erst mal eine Zigarette und atme. Danke, Heroin, dass du mich
       vor einem Nervenzusammenbruch bewahrst. Diese Droge wirkt nach Gewöhnung
       nur kurz berauschend, aber durchgängig gefühls- und schmerztötend.
       
       Gewalt und Straße gehören zusammen wie Nudeln und Tomatensoße. Der
       Vergleich klingt harmlos, banal, normal. Aber genau das ist der Punkt: Für
       mich ist das normal. In der [7][Studie zur Wohnungslosigkeit der
       Bundesregierung heißt es], dass „unter den wohnungslosen Suchtkranken ohne
       Unterkunft 84 Prozent Gewalterfahrungen“ machen. In unserer Straßenfamilie
       sind es 100 Prozent.
       
       Jahre später finde ich unser damaliges Leben in dem Song [8][„Löwenzahn“
       von Sido] wieder, er geht mir ständig durch den Kopf:
       
       „Wenn du Scheiße laberst, trifft dich ’ne Gerade / Auf jedes krumme Ding
       folgt gewiss eine Strafe / Doch dieser Mann hat keine Zeit für eure Faxen /
       An der Scheiße kann man eingehen oder wachsen.“
       
       Dann der Refrain: „Zwischen Demut und Größenwahn / All die Probleme, die zu
       lösen waren / Gott, vergib uns, weil wir böse waren / Auf der Straße
       aufgewachsen wie Löwenzahn.“
       
       Am Schlimmsten finde ich die Gewalt von Außenstehenden, die gegen uns
       gerichtet ist: Menschen spucken uns an, beleidigen uns, treten, beklauen
       und belästigen uns. Meistens grundlos. Manchmal bewerfen mich Menschen mit
       Centstücken: „Hier, du kleiner Drecksjunkie, kauf dir was Schönes“, so
       etwas sagen sie.
       
       Aber auch untereinander werden wir handgreiflich. Viele soziale Normen
       kennen wir gar nicht. Außer Björn vielleicht. Wir verteidigen unsere
       Schnorrplätze, um unsere Einkommensquellen zu schützen. Nach einer
       Schlägerei ist die Sache geregelt, keiner ruft die Polizei. Mit denen
       zusammenzuarbeiten gilt als Verrat, meistens haben wir alle „etwas offen“ –
       das wäre ein Eigentor. Außerdem wird wohl kaum eine Streife geschickt, wenn
       jemand die 110 wählt und sagt: „An meinem Stammplatz sitzt ein Fremder, und
       wenn er nicht geht, werde ich heute hungern und entzügig. Er ist aggressiv,
       und ich bräuchte daher dringend Hilfe. Wann sind Sie hier?“
       
       Die Polizist:innen, mit denen wir zu tun haben, sind selten böse, manchmal
       geben sie uns sogar Geld. Sie wirken genauso überfordert mit uns wie alle
       anderen auch.
       
       In den Jahren am Hermannplatz kommen kaum Sozialarbeitende vorbei. Nur im
       Winter gibt es Krümmeltee. Das ist ein Klassiker unter den
       Überlebenshilfen. Im Sommer kalt serviert und im Winter aus der
       Thermoskanne. Ansonsten haben sie in der kalten Jahreszeit manchmal einen
       Schlafsack dabei, oft sind die aber schon weg.
       
       Zum Glück ist der Vorraum der Sparkasse relativ warm. Dort kann ich mich im
       Winter ab und zu aufwärmen. Nachts kommt aber die Sicherheit vorbei, dann
       finde ich Unterschlupf auf Dachböden oder penne auf den obersten Etagen in
       Hausfluren. Aus den Mülltonnen hole ich Material und baue ein Bett aus
       Styropor und Pappe. Die BVG öffnet im Winter manche U-Bahnhöfe über Nacht
       für Obdachlose. Manchmal suche ich dort Zuflucht.
       
       Besonders schlimm ist der Winter 2010/11. Viele von uns haben Erfrierungen
       an den Füßen oder Händen. Kälte zermürbt. Ich bin im Januar und Februar so
       erschöpft, dass ich aufgeben will. Aber das geht ja nicht, schon wegen
       Flöckchen. Im Zweifel ziehe ich ihr mein buchstäblich letztes Hemd über.
       Hund mit Hoodie. Ich halte es nicht aus, wenn sie zittert. Das ist
       schlimmer als selber frieren.
       
       Im Winter bietet die Stadt Notschlafplätze an. In diese Kältehilfe geht
       keiner von uns. Die Regeln sind zu streng: Es gibt Taschenkontrollen. Oft
       sind keine Hunde erlaubt. Die Gäste müssen in einem bestimmten Zeitfenster
       dort sein und morgens um 7 Uhr wieder gehen. Das schaffen wir nicht.
       
       Wir sind füreinander da. Vereint als Team an den guten und notgedrungen an
       allen anderen Tagen. Wir besuchen uns im Knast, im Krankenhaus, leihen uns
       Geld und passen auf unsere Hunde auf. Diese Menschlichkeit wirkt intensiver
       auf der Straße als im normalen Leben. Obdachlose sind authentisch. Sie
       sagen und zeigen, was ist. Ungeschminkt, könnte man sagen.
       
       Es gibt keinen Platz für uns, außer in der Klapse und anderen Stationen im
       Krankenhaus. Doch dort fühlen wir uns minderwertig, bekommen zu wenig
       Substitutionsmedikamente. Das Personal steckt uns in die
       „Junkie-Schublade“. Aus Krankenhäusern werden wir in die Obdachlosigkeit
       entlassen. Wir brauchen ein Krankenhaus für Obdachlose. Es kann nicht sein,
       dass Menschen am lebendigen Leibe verwesen oder wie Geister durch die
       Städte wandeln: Alle wissen, dass sie da sind, und keiner sieht sie.
       
       Nur in der allergrößten Not suchen wir medizinische und psychologische
       Hilfe. Es ist entwürdigend. In vielen Köpfen ist wie eingespeichert, dass
       wir schwach oder faul wären.
       
       Da gab es dieses Erlebnis in der Notaufnahme: Ich habe mir meinen großen
       Zeh fünffach gebrochen. Der Knochen ist verrutscht, „disloziert“ nennt sich
       das. Nach dem Röntgen schaut sich ein Arzt meinen Fuß an. Er greift ohne
       Vorwarnung, ohne mir Schmerzmittel zu geben, an meinen Zeh und richtet ihn.
       Das bedeutet: ruckartig ziehen und drehen, bis die Knochen wieder in
       Position sind. Nachdem ich aufgehört habe zu schreien, frage ich ihn unter
       Tränen, was das sollte. Seine Antwort: „Na, in Ihrer Akte steht:
       Heroinabusus. Sie kriegen von mir keine Schmerzmittel.“
       
       Wir sind Menschen. Und wir wollen auch so behandelt werden. 
       
       Beziehungen können helfen. In der Sparkasse lerne ich einige Menschen über
       die Jahre besser kennen. Eine junge Frau bringt mir zum Beispiel jeden
       Mittwoch etwas Warmes zu Essen in die Sparkasse. Dank ihr entdecke ich die
       Vorfreude wieder. Sonst kenne ich nur die existenziellen Fragen für die
       kommenden Stunden: Hundeversorgung, Geld, Drogen, Schlafplatz, Trinken,
       Essen. In dieser Reihenfolge gestaltet sich mein Dasein.
       
       Nun plötzlich Vorfreude. Wegen dieser Frau denke ich manchmal schon Montag
       an Mittwoch. Das ist anders und schön. Es geht nicht um die Frau
       persönlich, sondern um die Zuwendung. Das Essen durchbricht meine
       Einsamkeit. Da denkt jemand an mich.
       
       Auch ein Sporttrainer spricht mich immer mal wieder an. Er stellt mir in
       Aussicht, Boxen zu lernen, wenn ich clean bin. „Du kannst gern mal
       vorbeikommen. Wir kriegen das auch hin mit den Mitgliedsbeiträgen. Also
       wenn du dich entscheidest, ich würde mich freuen“, sagt er.
       
       Auch wegen solcher Erfahrungen entscheide ich irgendwann, etwas zu ändern.
       Ich will aus der Sparkasse in die Klapse, zur Entgiftung von Heroin.
       
       Der Schritt dahin ist nicht leicht: Die meisten Obdachlosen werden eher
       früher als später beklaut. Dann sind der Ausweis und die Krankenkassenkarte
       weg. Um einen Platz im Krankenhaus zu bekommen, muss aber eine
       Krankenversicherung bescheinigt werden. Dafür braucht es einen
       Personalausweis.
       
       Nach Monaten habe ich beides, ich melde mich zur Entgiftung an. Flöckchen
       gebe ich am Hermannplatz bei Jürgen in Obhut. Am Bahnhof verabschieden wir
       uns. Ich drücke meine Hand von innen an die Scheibe der U7. Vier Jahre
       waren wir nie länger als ein oder zwei Stunden voneinander getrennt. Ohne
       sie wegzufahren, fühlt sich an, als würde ich einen Teil meines Körpers
       dalassen.
       
       Station 85 im Neuköllner Krankenhaus. Ich werde mit Methadon entwöhnt. Nach
       zwölf Tagen Hölle bin ich clean, mit 22 Jahren. Ich stehe plötzlich
       nüchtern vor den Trümmern meiner Existenz.
       
       Vielleicht hätte mir damals eine eigene Wohnung geholfen. Der übliche Weg,
       um aus der Obdachlosigkeit herauszukommen, ist: erst Psychiatrie, dann
       betreutes Wohnen, Therapie und schließlich die eigene Wohnung. Inzwischen
       gibt es ein Modell, das [9][die Obdachlosigkeit direkt beenden will:
       Housing First]. Dabei bekommen Obdachlose eine eigene Wohnung, ohne dass
       vorher geprüft wird, ob der Mensch wohnfähig ist.
       
       Die Wohnung ist die Basis für alles. Als ich kürzlich von dem Projekt
       hörte, war ich begeistert. Das könnte für viele Obdachlose tatsächlich eine
       Lösung sein.
       
       Ich rufe Sebastian Böwe an, Wohnraumkoordinator bei Housing First Berlin.
       Er sagt: „Unsere Sozialpädagogen helfen, einen Ausweis zu beantragen, und
       unterstützen bis zum Einzug.“ Von dort kläre sich alles Weitere wie
       Beschäftigung, Entzug oder Therapie. Zurzeit würden sie fieberhaft daran
       arbeiten, die Bewerberliste abzuarbeiten, sagt Böwe. Das Berliner Projekt
       nimmt seit Januar 2023 niemanden mehr auf, weil die Nachfrage so hoch ist.
       Über 600 Menschen hätten sich schon beworben. Allerdings würden davon „eine
       ganze Menge“ nicht ins Profil passen. Seit 2018 seien 58 Mietverträge
       unterschrieben worden.
       
       Ganz bedingungslos arbeitet auch dieses Modell nicht. Läuft jemand mit
       Decke umwickelt durch die Straße und redet wirr, dann ist er oder sie zu
       krank für Housing First.
       
       Für einige wenige baut sich also allmählich eine Alternative zum
       bestehenden System auf. Für die meisten gibt es weiterhin keine
       Anlaufstellen, außer der Klapse.
       
       Ich hätte eine Wohnung nach meinem Entzug dringend gebraucht, aber Housing
       First gibt es damals noch nicht. Ich besorge mir einen Platz in einem
       Wohnheim. Flöckchen ist endlich wieder bei mir. Ich muss übermenschlich
       viel Kraft aufbringen, um clean zu bleiben. Die Mitbewohner konsumieren,
       die Wände engen mich ein, und das Bett überfordert mich: Es knarrt, die
       Matratze ist weich unter mir. Ich schlafe die ersten Wochen lieber neben
       dem Bett.
       
       Seit vier Jahren bin ich zum ersten Mal mehrere Tage nüchtern. Die Welt ist
       bunt, sie riecht so intensiv. Ich starre Bäume an, als wären sie das
       Krasseste der Welt: die Farben, die kleinen Ästchen, der Himmel darüber.
       Mein Körper ist schwach. Ich kann kaum drei Stockwerke laufen, ohne zu
       verschnaufen. Jahrelang hat mich das Heroin betäubt. Jetzt sind die Gefühle
       wieder da. Ich fange unvermittelt an zu weinen, fühle mich wie ein
       Spielball in meinem entgleisten System.
       
       Ich bin weder stabil genug, um zu arbeiten, noch bereit, nur noch in
       betreuten Einrichtungen zu leben. Nach zwei Jahren kümmert sich ein
       Sozialarbeiter ehrenamtlich um mich. Er hilft mir dabei, eine eigene
       Wohnung zu suchen. Drei Monate später finde ich eine Bleibe. Als ich den
       Mietvertrag unterschreiben kann, beichte ich, dass ich einen Hund habe. Das
       hatte ich verschwiegen, weil meine Chancen dadurch noch geringer sind. Der
       Hausverwalter sagt: „Ich hätte die Möglichkeit, den Vertrag zurückzuziehen.
       Aber ich gebe Ihnen eine Chance: Wo kein Kläger, da kein Richter.“
       
       Ich bin Mitte 20 und habe es geschafft. Meine Wohnung. Ich werde diesen
       Tag, den 4. März 2014, nie vergessen: Flöckchen, der Schlüssel und zwei
       große blaue Müllsäcke mit unseren Sachen. 40 Quadratmeter, keine
       Einrichtung. Ich setze mich auf die Dielen, stehe wie im Wahn auf, ziehe
       den Schlüssel aus der Tasche, schließe auf, schließe ab und setze mich
       wieder hin. Immer und immer wieder. Dann heule ich.
       
       Ich brauche noch weitere zwei Jahre, bis ich aufhöre zu schnorren und mich
       an einen anderen Alltag gewöhne. Auf der Straße gab es immer etwas zu tun.
       Irgendein Grundbedürfnis war immer unbefriedigt. Eine Krise jagte die
       nächste. Nun habe ich ein Dach über dem Kopf und Geld vom Staat. Mir geht
       es nicht gut, aber die Not ist nicht existenziell.
       
       Der Boxtrainer aus der Sparkasse nimmt mich tatsächlich im Verein auf, ich
       trainiere dort mehrere Jahre. Das Boxen ist ein Anker für mich; ich lerne
       dort meine neue beste Freund:in kennen.
       
       Ansonsten schleppe ich mich von Tag zu Tag und bin froh, wenn es Abend
       wird. Dann kann ich schlafen. Ich komme über die Runden. [10][Aber in
       dieser neuen Welt fühle ich mich unwillkommen, ungeeignet]. Ich sehne mich
       häufig nach einem Leben im Rausch und zu meiner Straßenfamilie zurück.
       
       Sidos Song geht mir wieder durch den Kopf:
       
       „Zwischen Kreuzberg und Lichtenberg / Wo man all diese Geschichten hört /
       Da wächst ’ne gelbe Blume aus’m Dreck / An einem Fleck, an dem sonst keine
       Blume wächst / Keiner beachtet sie, alle trampeln drauf / Doch sie gibt
       nicht auf, was die Rose kann, das kann sie auch / Wir kämpfen, bis wir
       irgendwann mal Pusteblumen sind / Und wir warten auf den Wind.“
       
       Manchmal frage ich mich sogar, ob ich überhaupt leben darf. Nicht weil ich
       besonders selbstlos bin oder gar lebensmüde, sondern weil es so zufällig
       wirkt, wer überlebt und wer nicht. Das macht mich fix und fertig.
       
       Björn: Björn, der immer so wortgewandt war, entscheidet sich, clean zu
       werden. Er hört 2015 von einem zum anderen Tag auf zu trinken. Eine Woche
       später stirbt er im Urban-Krankenhaus an multiplem Organversagen und
       Delirium tremens. Sein Körper verkraftet den Entzug nicht.
       
       Jürgen: Ein gutes Jahr später sitzt Jürgen, der früher vor Karstadt stolz
       seine Visitenkarten verteilt hat, im Reuterpark in Neukölln und kann nicht
       mehr aufstehen. Sein Bein ist offen, infiziert. Eine typische
       Junkie-Krankheit. Ein Fremder ruft den Krankenwagen, Jürgen kommt ins
       Urban-Krankenhaus. In seinem Bett erleidet er einen Herzstillstand. Keiner
       weiß, wie lange sein Gehirn nicht mit Blut versorgt war, weil er nicht
       sofort gefunden wird. Er kommt auf die Intensivstation und liegt im Koma.
       In einem Eilverfahren werde ich sein gerichtlicher Betreuer. Zusammen mit
       Christiane entscheide ich nach ein paar Tagen, dass die Maschinen
       ausgestellt werden können. Jürgen ist hirntot. Ich bin bei ihm, als er
       seinen letzten Atemzug tut. Auf der gleichen Intensivstation wie Björn. Ein
       Zimmer weiter, ein Jahr später. Jürgen wurde 62 Jahre alt.
       
       Christiane kann seinen Tod nicht verarbeiten und zieht sich zurück. Ich
       sehe sie jahrelang nicht mehr.
       
       Renate: Renate erkrankt 2017 an Lungenkrebs. Sie kümmert sich nicht darum,
       sie wird irgendwann gelb. Ihre Leber versagt. Eines Tages sitzt keiner mehr
       am Übergang zwischen U7 und Karstadt.
       
       Sabine: Ich glaube, Renates Tod ist zu viel für sie. Sabine verwahrlost,
       ist auf einem Auge blind und redet wirres Zeug. Ihr Gehirn ist irgendwie
       kaputt. Sie muss um die 40 sein, als sie in einem Streit am Hermannplatz
       2018 vor die U-Bahn fällt. Sie stirbt im Krankenhaus.
       
       Dude: Dude, der immer dachte, er sei etwas Besseres, ist in den vergangenen
       Jahren kleiner geworden. Er besteht nur noch aus Haut und Knochen. Er fährt
       mit Rollstuhl durch die Stadt, weil seine Beine offen und faulig sind.
       Genau wie bei Jürgen. Eine Wohnung hat er schon lange nicht mehr. Als
       Pascal mich an meiner Haustür besucht, sagt er: „Ich kann es kaum ertragen,
       Dude so zu sehen. Er macht nicht mehr lange.“
       
       Pascal: Es ist fast Mai. Ich erreiche Pascal nicht. Ich mache mir Sorgen,
       dass auch er wieder an der Nadel hängt. Dann endlich eine SMS. Er schreibt:
       „Hi, Sorry das ich mich nicht gemeldet habe. Dein Gedanke war richtig ich
       hab konsumiert und gehe morgen zum Arzt“.
       
       Christiane: Nach Jürgens Tod hatten wir keinen Kontakt, jetzt reden wir
       wieder miteinander. Im Mai 2023 kann sie endlich die Unterkunft für
       Obdachlose verlassen, nach sieben Jahren. „Ich ziehe aufs Land, wo ich
       schon immer hinwollte. Mit Kühen und Schweinen kann ich in einem kleinen
       Bauernstübchen alt werden“, erzählt sie. Sie will dort nüchtern bleiben.
       
       Und ich? Ich habe Björn, Jürgen und Sabine versprochen, für sie
       weiterzuleben, für sie stark zu sein. Jede Niederlage zwingt mich, dieses
       Versprechen neu einzulösen. Manchmal stelle ich mich einfach auf die
       Straße, schaue in den Himmel und schreie.
       
       Und dann mache ich weiter.
       
       Anm: an einer Stelle wurden in der ursprünglichen Fassung des Textes Fans
       von Dynamo Dresden erwähnt. Tatsächlich waren es Fans des BFC Dynamo
       Berlin.
       
       14 May 2023
       
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       Unser Autor ist psychisch krank und war obdachlos. Wer einmal aus dem
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