# taz.de -- Soli-Demo für Lina E.: Was vom Tag X übrig bleibt
       
       > Bei der linken Demo werden 1.000 Menschen von der Polizei eingekesselt,
       > 50 Beamte werden verletzt. Die Stadt verbietet eine weitere Demo am
       > Sonntag.
       
 (IMG) Bild: Demonstrant:innen bei einer sogenannten polizeilichen Umschließung in der Nacht vom 4. Juni in Leipzig
       
       LEIPZIG taz | Um kurz vor 2 Uhr am Sonntagmorgen zieht Jürgen Kasek vom
       Alexis-Schumann-Platz ab, das Megafon über der Schulter, sein Fahrrad in
       die Nacht schiebend, vorbei an einer schier endlosen Schlange an
       Polizeiwannen. „Heute hat der Rechtsstaat kapituliert“, schimpft der Grüne
       nur noch leise, ermattet vom stundenlangen Reden. Ein „autoritärer Staat“
       habe ein „faktisches Grundrechtsverbot“ für Linke erlassen. „Das ist eine
       Eskalation, die man hätte vermeiden können.“
       
       Um diese Zeit sind immer noch Polizeikräfte überall in der Leipziger
       Südvorstadt und in Connewitz unterwegs, Wasserwerfer stehen in
       Seitenstraßen, am Himmel kreist ein Hubschrauber. Und zur selben Zeit
       stehen gegenüber dem Alexis-Schumann-Platz immer noch gut 150
       Protestierende zusammen, seit Stunden umzingelt von der Polizei. Die
       Letzten von ihnen werden erst am Sonntagmorgen um kurz nach 5 Uhr
       rauskommen, nach 11 Stunden. Schweren Landfriedensbruch und Angriffe auf
       Vollstreckungsbeamte wirft die Polizei ihnen nun vor, wegen Böller-, Stein-
       und Flaschenwürfen.
       
       Das ist es also, was vom [1][„Tag X“] bleibt. Von „sinnloser Gewalt von
       linksextremistischen Chaoten und Randalierern“ spricht am Sonntag
       Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Diese sei „durch nichts zu
       rechtfertigen“, die Straftäter müssten „konsequent zur Rechenschaft gezogen
       werden“. Auch Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) spricht von
       „massiven Angriffen“. Das Vorgehen von Polizei, Stadt und Justiz sei
       „richtig“ gewesen. Auf der anderen Seite beklagen Linke, die Leipziger
       Jusos und Teile der Grünen eine belagerte Stadt und einen völlig
       überzogenen Polizeieinsatz.
       
       Seit Monaten hatten Autonome zu der „Tag X“-Demonstration für den Samstag
       nach dem Urteil in dem Prozess gegen die Leipziger Linke Lina E. und drei
       Mitangeklagte nach Leipzig aufgerufen. Am Mittwoch nun hatte das
       Oberlandesgericht Dresden das Quartett zu Haftstrafen von bis zu gut fünf
       Jahren verurteilt: wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und mehreren
       schweren Angriffen auf Rechtsextreme.
       
       ## Bundesverfassungsgericht wies Beschwerde ab
       
       Schon am Donnerstag aber hatte die Stadt Leipzig die „Tag X“-Demonstration
       verboten, weil ein „unfriedlicher Verlauf“ zu erwarten sei. Ab Donnerstag
       wurden in einer Allgemeinverfügung keine Versammlungsanmeldungen mit Bezug
       zum Lina-E.-Urteil mehr erlaubt, ab Freitag galt ein 48-stündiger
       Kontrollbereich in der Stadt. Die Leipziger Polizei organisierte den
       größten Einsatz seit Jahren, mit Einsatzkräften aus fast allen
       Bundesländern – noch einmal mehr als zur „Wir sind alle Linxx“
       Demonstration vor zwei Jahren, bei der sich bereits gut 3.500 Teilnehmende
       [2][mit Lina E. solidarisiert] hatten.
       
       Mehrere Gerichte bestätigten das Demoverbot, am Samstag wies auch das
       Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde dagegen zurück. Die autonome Szene
       aber hatte trotzdem weiter zum Protest aufgerufen – „jetzt erst recht“.
       Auch wurde in einem Aufruf ein Sachschaden von 1 Million Euro für jedes
       verhängte Haftjahr angekündigt.
       
       Am Samstagnachmittag hatte Jürgen Kasek noch gehofft, das Ganze irgendwie
       retten zu können. Der Verein „Say it out loud“ hatte eine Demonstration am
       Alexis-Schumann-Platz nördlich von Connewitz angemeldet, schon am Mittwoch
       in Reaktion auf die Allgemeinverfügung, als das noch erlaubt war. „Die
       Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“, lautete der Titel. Kasek,
       grüner Stadtverordneter, übernahm die Versammlungsleitung. In der autonomen
       Szene wurde der Aufzug schnell als Ersatz für die verbotene „Tag
       X“-Demonstration ausgemacht.
       
       Tatsächlich sammeln sich am Samstagnachmittag gut rund 2.000 Menschen auf
       der Grasfläche, rundherum Polizeiwägen. Familien mit Kinderwagen sind
       anfangs darunter, die „Omas gegen rechts“, eine Trommelgruppe. Am Kopf der
       Demo steht eine Gruppe, die sich mit inhaftieren türkischen
       Antifaschist:innen solidarisiert, denen eine kriminelle und
       terroristische Vereinigung im Ausland vorgeworfen wird. Parallel aber
       sammeln sich Schwarzgekleidete. Eine Frau trägt ein Pappschild mit „Free
       Lina“, auf einem Plakat prangt die Anspielung auf die Hammerangriffe ihrer
       Gruppe: „… if i had a hammer“.
       
       Als Jürgen Kasek über einen kleinen Lautsprecher die Veranstaltung
       eröffnet, wird er immer wieder von Sprechchören unterbrochen. „129 kennen
       wir schon – Feuer und Flamme der Repression“ ertönt es. Gemeint ist der
       Paragraf 129 im Strafgesetzbuch: die kriminelle Vereinigung. Die Polizei
       macht die Straßen dicht, fordert ein Ablegen der Vermummung. Auch Kasek
       appelliert, sich nicht zu vermummen – weitgehend ohne Erfolg. Man habe kein
       Interesse an einer Eskalation, sagt Kasek der taz. „Wir wollen diese Bilder
       nicht liefern. Sonst spielen wir nur ein Spiel mit, das wir nicht gewinnen
       können. Gewalt ist nie ein Selbstzweck.“ Die Polizei hat wegen des
       Schwarzen Blocks bereits nur noch eine stationäre Kundgebung erlaubt. Kasek
       kritisiert das scharf. „Ich habe den Eindruck, dass nie geplant war, dass
       wir laufen dürfen. Das wirkt wie eine Falle.“
       
       Wenig später rennt der Schwarze Block plötzlich los, Richtung einer
       Seitenstraße. Steine, Flaschen und Feuerwerk fliegen auf Polizeibeamte,
       laut Beobachtern auch ein Brandsatz. Pink, lila und schwarze Rauchschwaden
       liegen über den Straßen. Die Polizei aber riegelt die Straße ab, lässt
       Wasserwerfer aufziehen und treibt die Autonomen zurück auf den Platz –
       [3][in den Polizeikessel.] Dort hinein geraten indes auch andere
       Teilnehmende, etwa die türkischen Antifaschist:innen. Umstehende
       solidarisieren sich noch mit den Festgesetzten. Eine Kundgebung oder
       Demonstration wird es nicht mehr geben.
       
       In Connewitz kommt es in den Folgestunden noch zu vereinzelten kleinen
       Barrikadenbauten und Steinwürfen auf eine Polizeiwache. Die Polizei hat es
       aber schnell unter Kontrolle, rückt wieder mit Wasserwerfern an. Am Ende
       steht nur noch der Polizeikessel in der Südvorstadt. Bis in die
       Morgenstunden werden dort Parolen gerufen. „Free Lina“, schallt es. Oder:
       „Wo wart ihr in Hanau?“ Immer wieder fordert die Polizei auf, politische
       Parolen mit Bezug auf Lina E. zu unterlassen. Demosanitäter werfen
       Wasserflaschen und Chips in die Menge, verteilen später Rettungsdecken
       gegen die Kälte.
       
       Jürgen Kasek versucht auch da noch, eine Solidaritätsdemonstration für die
       Festgesetzten anzumelden, redet unablässig mit Polizeibeamten – ohne
       Erfolg. Selbst Minderjährige würden in dem Kessel festgehalten, Eltern
       nicht informiert, schimpft er. „Das ist rechtswidrig.“ Nach und nach werden
       die Eingekesselten von der Polizei herausgeführt, fotografiert, ihre
       Personalien aufgenommen. Die meisten erhalten einen Platzverweis, einige
       berichten, sie hätten ihre Handys abgeben müssen. Spricht die Polizei
       zunächst von 300 Festgesetzten, korrigiert sie das später auf gut 1.000
       nach oben. Der elfstündige Kessel toppt damit sogar noch den der
       Blockupy-Proteste 2013 in Frankfurt am Main, wo ebenfalls gut 1.000
       Demonstrierende für neun Stunden festgesetzt wurden – das
       Bundesverfassungsgericht hielt das später für rechtmäßig.
       
       In Leipzig wird erst im Morgengrauen die letzte Person aus dem Kessel
       geführt. Fünfzig werden in Gewahrsam genommen, bei 30 wird ein Haftbefehl
       geprüft. Die Polizei spricht von 50 verletzten Einsatzkräften, drei davon
       dienstunfähig. Polizeipräsident René Demmler spricht von „viel sinnloser,
       extremer Gewalt“.
       
       „Skandalöses Versammlungsverbot“ 
       
       Auf der anderen Seite schimpft auch die Connewitzerin und
       Linken-Landtagsabgeordnete Jule Nagel über ein „skandalöses
       Versammlungsverbot“ am Wochenende. Nagel ist bestens mit der Szene
       vernetzt, hatte im Vorfeld noch dazu aufgerufen, Leipzig „nicht zu
       zerkloppen“. Am Samstagnachmittag war auch sie am Schumann-Park, hatte
       versucht, mit der Polizei über eine Demonstration zu verhandeln –
       vergebens. „Zumindest eine kurze Route hätte geholfen, um Dampf
       abzulassen“, klagt Nagel. „Aber da wurde völlig dichtgemacht.“
       
       Zu den Empörten gehört auch Rechtsanwalt Max Malkus, der einen der
       Beschuldigten vertritt, die bereits am Freitag in Connewitz verhaftet
       wurden. Auch dort war es bereits zu Stein- und Flaschenwürfen auf
       Polizeibeamte und Einsatzfahrzeuge in Connewitz gekommen, auch private Pkws
       wurden beschädigt. Fünf Männer, 20 bis 32 Jahre alt, wurden daraufhin
       festgenommen – alle landeten in U-Haft. Einer davon ist Mandant von Anwalt
       Malkus. Die Haftbefehle seien wegen angeblicher Fluchtgefahr angesichts der
       zu erwartenden hohen Strafen ausgestellt worden, so der Anwalt. „Völlig
       überzogen bei solchen Vorwürfen und in der Sache nicht zu vertreten“,
       schimpft Malkus.
       
       Es habe teilweise 24 Stunden gedauert, bis die Festgenommenen dem
       Haftrichter vorgeführt worden seien. „Und der war inhaltlich überfordert,
       wollte sich aber auch keine weiteren Bereitschaftsrichter heranziehen oder
       Argumente hören. Sein Job war es, einfach alle wegzusperren. Hier sollte
       ein Exempel statuiert werden.“
       
       In Connewitz wollten Linke derweil am Sonntagabend wieder demonstrieren, am
       Herderpark, „gegen Polizeigewalt“. Auch Jürgen Kasek wollte kommen. Aber
       auch diese Demonstration wurde am Sonntag von der Stadt verboten, mit
       Verweis auf die Allgemeinverfügung und eine erneute Eskalationsgefahr. „Das
       ist alles unfassbar“, schüttelt Kasek da nur noch den Kopf. „Die
       Versammlungsfreiheit wurde an diesem Wochenende in Leipzig einfach
       abgeschafft.“
       
       4 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
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