# taz.de -- Krawalle in Frankreich: Der Zorn aus den Vorstädten
       
       > Ein Teenager starb in Frankreich nach einem Polizeischuss, es kam zu
       > Krawallen. Warum findet das Land keine Antwort auf die Wut der Jugend?
       
 (IMG) Bild: Clichy-sous-Bois: Hier eskalierte die Gewalt, als 2005 zwei Teenager auf der Flucht vor der Polizei starben
       
       PARIS/ÎLE-DE-FRANCE taz | Julien Mari aus Marseille, genannt Jul, ist einer
       der bekanntesten Rapper Frankreichs. Für sein neues Video „Ragnar“ war er
       im Mai nach Nanterre gereist. Er versammelte Dutzende junger Männer um
       sich, sie reckten die Finger in die Höhe, sie fuhren durch diese Vorstadt
       von Paris, zogen durch die Straßen. „Ich komme von dort, wo man die Mütter
       schreien hört“, rappt Mari in dem Video.
       
       Bei Minute 5:32 steht ein junger Mann neben Mari: braune Mütze, braune
       Augen, gesenkter Blick. Als Mari das Video vor einigen Wochen drehte,
       kannte niemand diesen jungen Mann. Heute ist er das wohl bekannteste
       [1][Opfer von Polizeigewalt in Frankreich]: Nahel Merzouk, Sohn algerischer
       Einwanderer, am 27. Juni im Alter von 17 Jahren bei einer Polizeikontrolle
       in Nanterre erschossen.
       
       Zwei Reihen weiter hinten steht in dem Video ein 13-jähriger Junge. Er ist
       der Sohn von Mornia Labssi. Auch ihre Familie stammt aus Algerien, sie
       wuchs im selben Viertel auf wie die Merzouks. Eine Woche nach dem Tod
       Nahels sitzt sie in einem schwarzen Kleid mit goldenen Fingernägeln im Café
       Voltaire in Paris. Dort arbeitet sie als Arbeitsinspekteurin. Labssi
       kontrolliert, ob Betriebe Vereinbarungen zu Arbeitszeiten und dem
       Mindestlohn einhalten.
       
       ## Sie wusste, dass es ihr Kind war
       
       Mehr als eine Woche nach dem Tod Nahels versucht sie im Café Voltaire noch
       immer zu begreifen, was geschehen ist. Als die Nachricht vom Tod Merzouks
       auf Facebook die Runde machte, „waren wir nicht schockiert“, sagt Labssi.
       „Das passiert dauernd. Wir haben das psychisch in unseren Alltag
       integriert.“ Doch dann, erinnert Labssi sich, habe ihr Sohn zu ihr gesagt:
       „Du kennst ihn auch.“ Nahel habe doch als Essenslieferant gearbeitet. Dann
       verbreitete sich das Video von den Todesschüssen in den sozialen
       Netzwerken.
       
       Der Polizist hatte die Schüsse fast direkt neben der Präfektur abgegeben.
       Labssi ging zu dem Ort. Am Mittag lag die Leiche noch abgedeckt auf dem
       Boden. Nahels Mutter stand an der Absperrung. „Diese Szene werde ich nie
       vergessen. Sie wusste, dass das ihr Kind war. Aber sie durfte nicht zu ihm.
       Er war der einzige Sohn. Sie haben zusammen gelebt. Sie hat jetzt nichts
       mehr.“
       
       Labssi schaut aus dem Fenster und fängt an zu weinen.
       
       Am Abend gingen sie und ihr Sohn zu Nahels Mutter nach Hause, brachten
       Essen. Viele Menschen aus dem Viertel waren da.
       
       Von Nahel redeten jetzt alle. Aber es gebe so viele andere, sagt Labssi.
       „Sie behandeln uns wie Tiere. Als ob wir keine Menschen wären.“
       
       Wen meint Labssi mit „sie“ – die französischen Polizeigewerkschaften, die
       kurz nach Nahels Tod von „Horden“ sprachen, gegen die sie nun „im Krieg“
       seien? Nein, sagt sie, wenn es nur die wären. Der Innenminister Gérald
       Darmanin habe genauso geredet, sagt Labssi. Sie zeigt auf ihrem Handy einen
       Artikel: „Il faut stopper l’ensauvagament“, zu Deutsch: „Wir müssen die
       Verwilderung stoppen“, ist er überschrieben.
       
       „Sie halten uns für Wilde“, sagt Labssi.
       
       Ihr Vater, erzählt sie, habe in Algerien bei der FLN im Widerstand gegen
       die Franzosen gekämpft. Im Jahr 1971 kam er nach Frankreich, um Arbeit zu
       finden. Labssi wurde in Nanterre geboren, sie hat sieben Geschwister. Als
       einzige lebt sie noch in der Banlieue, neben der Wohnung der Mutter. Diese
       ist 87 Jahre alt, Französisch spricht sie bis heute nicht.
       
       ## Wer hier wohnt, muss mit Kontrollen rechnen
       
       Wer hier wohne, in der Vorstadt, müsse damit rechnen, mehrmals am Tag
       kontrolliert zu werden, sagt Labssi. Und immer könne das geschehen, was mit
       Merzouk passiert ist: „Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit
       nicht.“
       
       Seit zwei Jahren ist Labssi im Koordinationsrat der Committees pour la
       defense des Quartiers Populaires, einem landesweiten Verband der
       Banlieue-Bewohner.
       
       Früher hießen Viertel, in denen Menschen wie sie leben, „Cité“. „Das
       zeigte, dass dort Bürger wohnen“, sagt Labssi. Die heutigen Worte stehen
       für etwas anderes: „In der Banlieue wohnen keine Bürger. Dort leben
       schlechte Eltern und Delinquenten.“
       
       In den Tagen nach den Krawallen hat Labssi Familien junger Festgenommener
       zu den Gerichtsverfahren begleitet. „Sie klagen sie immer in Gruppen von
       drei oder vier an“, sagt Labssi. Schnellverfahren in Serie seien das,
       allein auf Grundlage vager schriftlicher Anschuldigungen in
       Polizeiberichten. „Die Polizisten machen sich nicht mal die Mühe, zum
       Prozess zu kommen.“ In einem Fall seien zwei Minderjährige wegen
       Brillendiebstahls verurteilt worden. „Der einzige Beweis: dass irgendwo in
       der Nähe eine Tasche mit Brillen gefunden wurde. Das reicht.“
       
       Der rechtsextreme [2][Rassemblement National von Marine Le Pen] sage „schon
       die ganze Zeit, dass die Migranten Islamisten, Gewalttäter und Diebe“
       seien. 70 Prozent der Polizisten wählten Le Pen, glaubt Labssi.
       
       Seit 2017 dürfen Polizisten die Waffe auch dann einsetzen, wenn kein Leben
       bedroht ist und mutmaßliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen
       begangen haben. „Wie können die das rechtfertigen?“, fragt Labssi. Für sie
       zeigt das: „Die Exekutive sieht uns nicht als Bürger, sondern als Feinde.“
       Und deshalb kämpfe die Polizei gegen die Menschen in den Banlieues „wie
       gegen eine fremde Armee.“
       
       ## Gefährliche Entwicklung
       
       Schon vor Jahren hätten antirassistische Gruppen aus den Banlieues gesagt:
       Was sich entwickelt, ist gefährlich. „Aber es wurde abgetan. Der Repression
       wurde politisch nicht entgegengetreten.“ So würden Kinder wie ihr eigenes
       „geboren in ein Land, das sie misshandelt“, sagt Labssi.
       
       Die Antwort des Staates auf die Misere in den Banlieus sei: „Hier habt ihr
       Geld, macht damit schöne Projekte – und dann bleibt in eurem Ghetto.“ Die
       seit Jahrzehnten fließenden Subventionen seien „nicht, damit es besser
       wird, sondern damit wir unter uns bleiben“. glaubt Labssi. Eine Veränderung
       müsse auf zwei Ebenen ansetzen: auf der juristischen Ebene einerseits und
       bei der Stadtplanung andererseits. Das repressive Polizeirecht und die
       ausschließende Architektur der Banlieues: „Das hängt zusammen“, ist Labssi
       überzeugt.
       
       Sie gehört zu einer Gruppe, die am Dienstag eine Petition gestartet hat, um
       die Spendensammlung für die Familie des Polizisten zu stoppen, der Nahel
       Merzouk erschossen hatte. Bis Mittwochnachmittag waren dabei 1,7 Millionen
       Euro zusammengekommen. „Das ist eine klare politische Botschaft: Wer in
       Frankreich einen Araber ermordet, wird Millionär“, sagt Labssi. Gegen diese
       Haltung würden die jungen Leute rebellieren: „Sie sind keine Delinquenten.
       Wir sind da, wir sind Franzosen und wir akzeptieren das nicht mehr.“
       
       Aber so einfach ist es nicht. Ihr eigener Sohn kommt nun genau in das
       Alter, in dem er selbst zum Opfer werden kann. Labssi sagt, sie habe
       deshalb schon darüber nachgedacht, Frankreich zu verlassen.
       
       Den Gedanken hat auch Éléonore Luhaka. Die Tochter eines kongolesischen
       Luftwaffensoldaten wuchs in Aulnay-sous-Bois auf, einem Vorort im Nordosten
       von Paris. Auch dort gab es in den vergangenen Tagen schwere Krawalle.
       
       ## Beamte stellen Blut fest, aber fesseln ihn trotzdem
       
       Im Jahr 2017 wurde ihr Bruder [3][Théo Luhaka von vier Polizisten der
       Spezialeinheit BST bei einer Personenkontrolle mit Stöcken] angegriffen.
       Auf der Wache bemerkt ein Beamter, dass „er aus dem Arsch blutet“. Die
       Beamten stellen die Blutspuren auf dem Sitz des Fahrzeugs und auf seiner
       Hose fest, fesseln Luhaka aber dennoch erst mal an eine Bank. Die Feuerwehr
       bringt ihn schließlich als Notfall in ein Krankenhaus. Dort diagnostizieren
       die Ärzte einen zehn Zentimeter langen Riss im After – einer der Polizisten
       hat einen Schlagstock in Théos Anus eingeführt.
       
       Der Fall gehört zu den bekannteren Polizeigewaltskandalen der letzten Jahre
       – auch weil Éléonore Luhaka sich mit dem Vorfall nicht abfinden will.
       
       Der damalige Präsident Frankreichs, François Hollande, kommt ans
       Krankenbett, hält Théos Hand. Viele Fotos wurden von der Szene gemacht.
       
       Sonst gab es nichts.
       
       Gegen vier der Beamten wurde ermittelt. Der Prozess wurde immer wieder
       verschoben, Anfang 2024 soll er jetzt beginnen. Der Anwalt Luhakas hat
       zwischenzeitlich einen Vorschuss auf eine mögliche Entschädigung geltend
       gemacht, 10.000 Euro gab es. „Wir sollen uns keine Illusionen machen“, habe
       er gesagt, erzählt Éléonore Luhaka. Viel mehr werde es am Ende nicht
       werden.
       
       Ihr Bruder ist dauerhaft erwerbsunfähig geschrieben, er bezieht eine kleine
       Rente. Nach dem Tod von Nahel Merzouk ist Théo mit einem seiner Brüder nach
       Nanterre gefahren. Er hat die Mutter von Nahel besucht.
       
       Éléonore Luhaka sagt: „Bis heute fahren die Polizisten langsam an unserem
       Haus vorbei. Wenn sie meinen Bruder sehen, dann winken sie ihm mit dem
       Schlagstock. ‚Hallo Théo‘, rufen sie dann.“
       
       Eine Drohung?
       
       „Spott.“
       
       Wie oft kommt das vor?
       
       „Dauernd.“
       
       Sie selbst will das Land verlassen. „Aber nicht als Flüchtling.“ Vorher
       will sie etwas aufbauen. Bei der Stiftung des Schwarzen US-Schauspielers
       Forest Whittaker macht sie derzeit eine Fortbildung. Danach will sie ein
       Projekt für benachteiligte Jugendliche in den Banlieues starten.
       
       ## Lange Zeit hat er gar nicht gesprochen
       
       Ihrem Bruder habe ein Psychiater Medikamente gegen die Schlafstörungen
       verschrieben. Eine Psychotherapie konnte er erst vor Kurzem beginnen. Lange
       Zeit habe er fast gar nicht gesprochen. „Sobald es lauter wurde, hat er
       sofort die Kopfhörer aufgesetzt.“ Die Wohnung zu verlassen, falle ihm
       schwer. Eine Reise nach Paris sei für ihn wie eine in ein anderes Land.
       Deshalb wolle er in Aulnay bleiben. „Das gibt ihm Sicherheit, trotz allem.“
       
       Sicherheit will auch Zartoshte Bakhtiari. Er ist Bürgermeister von
       Neuilly-sur-Marne im Südosten von Paris. Auch hier gab es schwere Krawalle.
       Bakhtiari sieht die Dinge grundlegend anders als die Banlieue-Bewohnerinnen
       Labssi und Luhaka.
       
       Als Nahel Merzouk erschossen wurde, war Bakhtiari in Rom: „Die einzige
       Woche Urlaub im Jahr.“ In der zweiten Nacht bekam er eine SMS des Präfekten
       des Departement Seine-Saint-Denis. „Euer Rathaus und eure Lokalpolizeiwache
       könnten gleich in Flammen aufgehen“, sagte der Präfekt. Um 1.40 Uhr in der
       Frühe war das.
       
       Seither hat Bakhtiari keine Ruhe mehr. „Die Tage fließen ineinander, ich
       schlafe immer nur zwei Stunden pro Nacht. Meine Augenringe müssen ganz
       schlimm sein.“
       
       Er ist Anfang 30, im blauen Slimfit-Anzug sieht er aus wie ein
       aufstrebender Banker, er redet schnell, dabei fehlt ihm jede Kühle,
       vielmehr verströmt er eine weiche Freundlichkeit. Sein Rathaus ist seit den
       Krawallen geschlossen. Wer ihn sprechen will, muss ihm eine SMS schicken,
       dann kommt eine Mitarbeiterin und schließt die Tür von innen auf.
       
       In der ersten Nacht schickten Ratsleute ihm Videos: „Wir wurden an allen
       möglichen Stellen angegriffen.“ Sieben Polizeiwagen verbrannten, das
       Wohngeldamt, das Gebäude der Jugendsozialhilfe, ein Teil der Bibliothek,
       eine Grundschule wurden demoliert. Im Stadtteil Fauvette brannten auch ein
       Bistro ab, ein Optiker, das einzige Lebensmittelgeschäft, die Post, die
       Bank mit dem einzigen Geldautomaten. „Die Randalierer leben dort und haben
       all diese Dinge, die sie selbst brauchen, jetzt nicht mehr“, sagt
       Bakthiari. „Das ergibt überhaupt keinen Sinn.“
       
       In der zweiten Nacht verhängte Bakthiari eine Ausgangssperre. Außer ihm tat
       das nur ein weiterer Bürgermeister in ganz Frankreich. „Das hat geholfen“,
       sagt Bakthiari. „In der Nacht davor waren Gruppen von 30 bis 40 Menschen
       unterwegs, nach der Ausgangssperre waren die Gruppen viel kleiner, die
       Polizei konnte sie leichter in ihre Häuser zurückschicken. „Natürlich ist
       das gegen die Freiheit, aber die Situation erforderte das.“
       
       Die vergangenen Tage brachte Bakthiari damit zu, mit Gutachtern zu
       sprechen. Die Mediathek könne frühestens in vier Monaten wieder öffnen, das
       Wohngeldamt nicht vor September. „Dabei sind 2.300 Menschen auf dessen
       Leistungen angewiesen. Die Randalierer haben da ihre eigenen Akten
       verbrannt.“
       
       Vor allem für die privaten Geschädigten sehe es schlecht aus. Vielleicht
       zahle eine Versicherung, vielleicht auch nicht. „Aber die psychischen
       Schäden sind da.“
       
       ## Gründe, woher die Wut kommt
       
       Für viele Menschen in Frankreich ist klar, wo die hinter der Zerstörung
       stehende Wut herkommt: Stigmatisierung, Diskriminierung, sozialer
       Ausschluss, Polizeigewalt. Bakthiari glaubt das nicht. Am Vortag war er bei
       einem Treffen mit anderen Bürgermeistern im Élyséepalast. Dort sei auch der
       Bürgermeister von Nanterre gewesen, ein Kommunist, der habe auch diese
       Erklärungen für die Ausschreitungen parat gehabt. „Ich habe ihm direkt
       widersprochen“, sagt Bakthiari.
       
       Er selbst sei im Stadtteil Fauvette aufgewachsen, bis er 14 Jahre alt war.
       „Ich kann diese Erklärungen keine Sekunde akzeptieren.“ Es gebe dort die
       meisten Bushaltestellen, die meisten sozialen Einrichtungen, die meisten
       Schulen, Parks, Sportanlagen. Es gebe Ärzte, die Gemeinde habe dort die
       meisten Grünanlagen angelegt: „Es ist alles da. Man muss aufhören, nach
       diesen Entschuldigungen zu suchen.“
       
       Seine Eltern seien 1979 aus dem Iran nach Frankreich gezogen, auch er habe
       einen nichtfranzösischen Namen. „Das entschuldigt gar nichts.“ Er,
       Bakthiari, habe sich trotzdem integriert. „Das hier ist mein Land.“
       
       Bakthiari glaubt an andere Ursachen für die Krawalle. Ein Grund sind aus
       seiner Sicht die sozialen Medien. Eine andere Ursache, sagt er, sei die
       Erziehung. „Der jüngste hier Festgenommene war 13 Jahre alt. Er wurde um
       4.30 Uhr mit einem Molotowcocktail vor der Polizeiwache festgenommen. Was
       macht man in dem Alter um diese Zeit auf der Straße?“
       
       Man müsse die Eltern verantwortlich machen, und wenn sie nicht in der Lage
       seien, Verantwortung zu übernehmen, müsse man die Kinder vorübergehend zur
       Erziehung in staatliche Einrichtungen bringen, sagt Bakthiari.
       
       Dort solle es zugehen „wie in einer militärischen Einrichtung“, findet er:
       Um 5 Uhr aufstehen, putzen, Disziplin, Respekt vor Autoritäten lernen; so
       stellt er sich das vor.
       
       Am Dienstag hatte Präsident Emmanuel Macron die Bürgermeister von 200
       Kommunen eingeladen, in denen es Ausschreitungen gegeben hatte. Nach drei
       Stunden, noch bevor das Treffen endete, war Bakhtiari aus dem Élyséepalast
       herausmarschiert und hatte in die Fernsehkameras gesagt, wie enttäuscht er
       sei. „Macron hat bis zu dem Zeitpunkt, wo ich gegangen bin, nichts gesagt“,
       sagt Bakhtiari. Nur die Bürgermeister hätten untereinander gesprochen. „Es
       war wie bei einer Gruppentherapie. Alle haben sich gegenseitig erzählt,
       dass sie übermüdet und wütend sind. Aber die Regierung hatte absolut nichts
       vorbereitet.“
       
       Den Ausschreitungen müsse mit mehr Härte begegnet werden, glaubt er. „Das
       waren hier nur 40 Leute, das sind 0,1 Prozent der Einwohner. Das kann doch
       nicht sein, dass die die anderen 99,9 Prozent terrorisieren und denen Angst
       machen.“ Und so müsse die Polizei sich mehr Respekt verschaffen, findet der
       Bürgermeister. „Ich sage nicht, dass sie den Menschen Angst machen soll.
       Aber es ist besser, wenn 40 Delinquenten Angst vor der Polizei haben, als
       dass die Handvoll Straftäter 40.000 Einwohnern Angst machen.“
       
       ## Urteile müssen schneller gesprochen werden
       
       Gruppen hätten sich immer wieder mit Molotowcocktails dem Rathaus und der
       Polizeiwache genähert. Für solche Fälle brauche auch die lokale Polizei
       Drohnen. „Es heißt, die verstießen gegen das Recht auf Privatsphäre der
       Menschen. Aber die sollen ja nicht in die Wohnungen gucken“, sagt
       Bakhtiari.
       
       Die Urteile, sagt er außerdem, müssten viel schneller gesprochen werden.
       „Ich bin selbst Anwalt“, sagt er und zeigt hinter seinen Schreibtisch, wo
       seine Robe hängt. „Alles muss korrekt sein. Aber schnell.“ Sonst gebe es
       keinen Respekt vor der Justiz.
       
       Das einige Kilometer nördlich gelegene Clichy-sous-Bois war lange der
       Inbegriff explodierender Gewalt in den Pariser Banlieues. Die bis heute
       schwersten Krawalle nahmen hier ihren Anfang, als zwei Jugendliche am 27.
       Oktober 2005 auf der Flucht vor der Polizei von Stromschlägen in einem
       Trafohäuschen tödlich getroffen wurden. Der damalige Innenminister Nicolas
       Sarkozy beschuldigte sie zu Unrecht des Diebstahls. Er sprach davon, wegen
       der über Wochen andauernden Krawalle das „Gesindel“ und den „Abschaum“
       („racaille“) „wegkärchern“ zu wollen.
       
       Bis heute ist das vielen unvergessen.
       
       Im Zentrum von Clichy-sous-Bois stehen auch heute ausgebrannte Autowracks
       um ein verfallenes, verbarrikadiertes Einkaufszentrum im Stadtkern. Wie
       Kadaver liegen sie da, rostige Gerippe, Monumente der Wut. Wohnblöcke ragen
       in den Himmel, nicht sehr hoch, grau, rostrote Fensterläden. In den 1960er
       Jahren waren diese Gebäude ein Versprechen auf Zukunft und Wohlstand –
       moderner Wohnraum für die Massen, die vom Land, aus den verfallenden und
       überbevölkerten Kernstädten und aus den einstigen Kolonien in den
       hochindustrialisierten Pariser Umlandgürtel strömten.
       
       Heute sind nur wenige Menschen auf den Straßen zu sehen. Fast alle diese
       Menschen sind Schwarz oder arabischstämmig.
       
       Nach dem Tod Merzouks blieb es in Clichy-sous-Bois vergleichsweise ruhig.
       Viele glauben, das sei das Verdienst von Mohamed Mechmache. Der Sohn
       algerischer Einwanderer ist in Clichy-sous-Bois aufgewachsen. Am siebten
       Tag nach Nahel Merzouks Tod steht er vor einem kleinen Kulturzentum der NGO
       ACLEFEU, die er 2005 gründete. Im Hof parken zwei Kleinbusse, Freiwillige
       beladen sie, am Nachmittag soll eine Familienfreizeit beginnen. Mechmache
       steht dazwischen und telefoniert.
       
       Von mehr Härte, so wie der Bürgermeister Bakhtiari sie will, hält er
       nichts. „Die Polizeigewerkschaften wollten 2005 auch mehr Repression. Hat
       das was geändert? Nein“, beantwortet er seine Frage sogleich selbst. Er
       selbst habe keine Probleme mit der Polizei, sagt er – er sei, im Gegenteil,
       im Austausch mit ihnen. „Aber viele junge Menschen sind für den Dialog
       nicht mehr offen.“
       
       Er habe nach 2005 das Zentrum aufgebaut, weil es „eine soziale Revolte
       gab“, sagt er. „Die Menschen wollten „soziale Gerechtigkeit und die
       Behandlung nach gleichem Recht“. Doch bis heute gebe es Diskriminierung und
       Stigmatisierung. „Weil man hier wohnt, wegen des Namens, der Hautfarbe. Das
       ist schlecht für eine Anstellung oder eine Wohnung anderswo, es zerstört
       Zukunftsperspektiven.“
       
       Seit 2005 habe seine Organisation auf diese Zustände aufmerksam gemacht.
       „Wir haben gesagt, dass eine Zeit kommen wird, in der die Jugendlichen
       nicht mehr diskutieren wollen, weil sie keine Möglichkeiten sehen, ihre Wut
       zu artikulieren.“ Das entschuldige nichts. „Ich verurteile das, was
       geschieht.“ Aber es gebe auch eine Verantwortung der Politik.
       
       ## Die Bemühungen sind nicht genug
       
       ACLEFEU bietet Antigewalttrainings, eine Lebensmitteltafel, ein
       „Antischulabbruchprojekt“. 300 Freiwillige hat Mechmache rekrutiert, er ist
       in ganz Frankreich für seine Arbeit anerkannt.
       
       Natürlich gebe es Dinge, die seit 2005 vorangekommen seien, sagt er. Die
       Renovierung der Architektur etwa. „Das war zwingend. Die Wohnungen der
       Menschen waren 30, 40 Jahre lang verfallen, das sind dann keine Orte mehr
       für ein würdiges Leben.“ Zum Teil seien sie instandgesetzt worden. „Aber
       das reicht nicht, wenn man die soziale Frage nicht beantwortet“, meint
       Mechmache.
       
       Es gebe heute mehr Infrastruktur, Schulen, ÖPNV, Kultur- und Sportanlagen
       in der Stadt. Die Größe von Schulklassen sei teils verringert worden, um
       bessere Förderung zu ermöglichen.
       
       Aber es sei eben „nicht genug, damit auch andere Menschen hier wohnen
       wollen“. Und solange niemand von außerhalb der Banlieues hier hin kommen
       wolle, gebe es keine soziale Mischung. Das, ist Mechmache überzeugt, sei
       das zugrundeliegende Problem.
       
       7 Jul 2023
       
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       Frankreichs Präsident Macron lässt auch im Rückblick auf die Krawalle keine
       Kritik an der Polizei zu. Staat und Familien bräuchten wieder Autorität.
       
 (DIR) Frankreichs Nationalfeiertag: Hausgemachte Sackgasse
       
       Am Freitag begeht Frankreich zwischen Frust, Gewalt und Pomp seinen
       alljährlichen Nationalfeiertag. Auswege aus der Misere sind nicht in Sicht.
       
 (DIR) Nach den Unruhen in Frankreich: Normalität vor zerstörten Scheiben
       
       In Frankreichs Hauptstadt Paris kehrt nach den Ausschreitungen Ruhe ein.
       Doch die Folgen bleiben im Straßenbild sichtbar – und Ladenbetreiber
       wachsam.
       
 (DIR) Protest gegen Polizeigewalt in Frankreich: 2.000 Pariser trotzen Demoverbot
       
       Eine Kundgebung zur Erinnerung an einen 2016 bei einer Festnahme
       Verstorbenen wird untersagt – eigentlich. Nun wird gegen die Initiatorin
       ermittelt.
       
 (DIR) Politologe über Unruhen in Frankreich: „Es wird einen Rechtsruck geben“
       
       Die Mehrheit der Franzosen verurteilt die anhaltenden gewalttätigen
       Proteste, sagt der Politologe Joseph de Weck. Den Protestierenden fehle ein
       Forderungskatalog.
       
 (DIR) Nach den Unruhen in Frankreich: Aus Angst wird politisches Kapital
       
       In Frankreich sammelt ein rechter Politiker Spenden für den Polizisten, der
       den 17-jährigen Nahel erschoss. Marine Le Pen hält sich auffällig zurück.
       
 (DIR) Unruhen in Frankreich: Kugel ins Herz
       
       Ein Todesschuss und seine Folgen: Jedes Lager in Frankreich pflegt seine
       eigene Erzählung zu den Ereignissen der vergangenen Tage. Ein Essay.