# taz.de -- Neues Sachbuch über Staatenlose: Der Mensch als Rechtskategorie
       
       > Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele Menschen staatenlos. Ein Sachbuch
       > rekonstruiert den politischen und rechtlichen Umgang mit ihnen.
       
 (IMG) Bild: Zertifikat eines jüdischen staatenlosen Kindes im Ghetto des japanisch besetzen Shanghai, 1944
       
       Bevor Staatenlosigkeit die Juristen beschäftigte, handelte es sich dabei
       lediglich um ein literarisches Thema. Romane über Seeleute, die ohne
       Papiere dazu verdammt waren, immer weiter über die Ozeane zu fahren,
       faszinierten die Leserschaft des 19. Jahrhunderts.
       
       Wie die Historikerin Mira L. Siegelberg darlegt, hatte man es, der
       verbreiteten Ansicht unter Völkerrechtlern zufolge, jedoch nicht mit einem
       tatsächlichen Problem zu tun. Zwar gab es durchaus Menschen, die ihre
       Staatsbürgerschaft verloren hatten, doch mussten andere Länder diesen
       Verlust nicht anerkennen.
       
       Erst ein brisanter Gerichtsprozess änderte etwas an dieser Auffassung. Der
       Ingenieur und Manager Max Stoeck ging nach dem Ersten Weltkrieg gegen seine
       Enteignung durch den britischen Staat vor. Der Versailler Vertrag erlaubte
       den Alliierten das Entziehen des Vermögens von Deutschen, die sich auf
       ihren Staatsgebieten aufhielten.
       
       Stoeck allerdings behauptete, eben kein Deutscher mehr zu sein, sondern
       staatenlos. Tatsächlich hatte er bereits viele Jahre vor dem Krieg seinen
       Pass abgegeben, was ihm eine preußische Behörde auch bestätigte.
       
       ## Ausbürgerung akzeptieren?
       
       Die Frage, die das Gericht zu klären hatte, bestand darin, ob
       Großbritannien die durch einen anderen Staat durchgeführte Ausbürgerung
       akzeptieren musste oder ob Staatenlosigkeit weiterhin von juristischer
       Perspektive aus betrachtet nichts weiter war als eine Fiktion.
       
       Der Prozess wurde aus zwei Gründen von Völkerrechtlern mit großem Interesse
       verfolgt. Zunächst war Staatenlosigkeit nach dem Krieg, als ethnisch so
       diverse Reiche wie Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich zerfielen,
       ein Problem, das, abhängig von seiner juristischen Definition, potenziell
       Massen von Menschen betreffen konnte.
       
       Und zum anderen berührte eine mögliche Bestätigung von Staatenlosigkeit
       auch die Machtfülle eines einzelnen Staates im Gefüge des Völkerrechts.
       
       War das juristische System einer Nation befähigt, die Entscheidung einer
       anderen für nichtig zu erklären? Das mit dem Fall betraute Gericht sorgte
       für einen Paukenschlag, indem es diese Frage verneinte und zu Stoecks
       Gunsten entschied. Damit wurde die völkerrechtliche Idee staatlicher
       Souveränität gestärkt.
       
       In dem auf ihrer Doktorarbeit beruhenden und vielfach prämierten Buch
       analysiert die in Cambridge lehrende Mira L. Siegelberg die in den nächsten
       Jahrzehnten fortgeführten Diskussionen über Staatenlosigkeit unter
       Völkerrechtlern. Sie fanden Eingang in Verfassungen, internationale
       Abkommen, Resolutionen des Völkerbunds und später der Vereinten Nationen.
       
       ## Vom Staatenlosen zum Geflüchteten
       
       Stehen heute Geflüchtete im Zentrum der Aufmerksamkeit, war der Staatenlose
       von den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts bis in die Wirren der Jahre
       nach dem Zweiten Weltkrieg eine zentrale Figur in völkerrechtlichen
       Debatten. An ihrem Verständnis formten sich die Grenzen der Macht von
       Staaten, die aus den zerfallenden Imperien hervorgingen.
       
       Das Stoeck-Urteil legte fest, dass von einem anderen Land getroffene
       Entscheidungen über Aus- und Einbürgerung zu akzeptieren wären. Damit war
       jedoch nicht geklärt, auf wessen Schutz all die Millionen Menschen hoffen
       konnten, die in Stoecks Lage waren.
       
       Der neu gegründete Völkerbund nahm sich ihrer an, wodurch der Staatenlose
       zeitweise sogar die Utopie eines Weltbürgers inspirierte, der nicht mehr
       auf die Zugehörigkeit zu einer Nation angewiesen war. Er wäre als einzelner
       Mensch direkt Subjekt des Völkerrechts und nicht mehr indirekt als Bürger
       eines Staates.
       
       ## Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
       
       Diese Hoffnung wurde jedoch bald enttäuscht. Die Allgemeine Erklärung der
       Menschenrechte, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen
       verabschiedet wurde, bekräftigte in Artikel 15 zwar ein Recht auf
       Staatsangehörigkeit, doch war und ist der Katalog nicht bindend.
       
       In der Nachkriegszeit verschärfte sich die Lage für den einzelnen
       Betroffenen sogar, indem Staatsangehörigkeit an soziale Bedingungen
       geknüpft wurde.
       
       Sie beschrieb nun nicht mehr rein formal das Verhältnis zwischen dem
       Inhaber eines Passes und der diesen ausstellenden Nation, sondern war an
       Kategorien wie die kulturelle und sprachliche Zugehörigkeit, an emotionale
       Bindung und die Ansässigkeit auf einem bestimmten Territorium geknüpft.
       
       ## Gekaufte Staatsbürgerschaft
       
       Siegelberg verweist auf den Fall des gebürtigen Deutschen Friedrich
       Nottebohm, der sich vor Beginn des Zweiten Weltkriegs die
       Staatsbürgerschaft Liechtensteins gekauft hatte, um einer Enteignung durch
       Guatemala, das Land, in dem er als Unternehmer lebte, zu entgehen. Doch er
       blieb damit erfolglos, Guatemala erkannte den Wechsel der
       Staatsbürgerschaft nicht an, da Nottebohm nicht über eine soziale Bindung
       zu Liechtenstein verfügte.
       
       1955 wurde das Land vom Internationalen Gerichtshof in dieser Ansicht
       bestätigt. Erneut hatten sich die Vorstellungen über die Souveränität von
       Staaten und die Kriterien von Staatsbürgerschaft stark gewandelt.
       
       Mira L. Siegelberg vollzieht diese Dynamiken am Beispiel ihres Themas nach
       und führt sie immer wieder auf unterschiedliche ideologische Vorannahmen
       zurück. Ihr Buch bietet damit sehr erhellende Einsichten in die junge
       Geschichte des Völkerrechts.
       
       19 Jul 2023
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Wolf
       
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