# taz.de -- Die Grünen in der Krise: Zukunftspartei ohne Zukunft
       
       > Robert Habeck verhedderte sich im Gebäudenergiegesetz und Lisa Paus wurde
       > vom Finanzminister gedemütigt. Warum sich die Grünen in der Zange
       > befinden.
       
 (IMG) Bild: Verhasst von Wagenknecht bis AfD; die Grünen am Boden?
       
       Erst Robert Habecks Absturz über das Gebäudeenergiegesetz, dann die
       [1][Demütigung von Lisa Paus durch den Finanzminister] bei der
       Kindergrundsicherung: Die Grünen sind in der Ampelkoalition zur scheinbar
       chronischen Verliererpartei geworden. Mehr noch: Auch aufgrund der massiven
       Kampagne gegen Habecks „Heizhammer“ (Bild) sind sie in Teilen des Landes
       regelrecht verhasst.
       
       Die Partei befindet sich in der Zange: Während erhebliche Teile der
       Bevölkerung nach dem GEG-Debakel jede entschiedene Klimapolitik ablehnen,
       wird die Kritik speziell der Umweltverbände an den Grünen weiter zunehmen.
       Ihre parteipolitische Gegnerschaft reicht längst von AfD bis Wagenknecht
       („Die Grünen sind die gefährlichste Partei“). Kurzum: Alle gegen die
       Grünen, lautet die Devise.
       
       Tatsächlich wird es für die Partei ungemein schwer werden, in der zweiten
       Hälfte der Legislatur überhaupt noch umwelt- und sozialpolitische Erfolge
       zu erzielen, um die eigene Anhängerschaft zu befriedigen. Alle, die auf
       einen Neustart der Ampel gehofft haben, sind einer Illusion aufgesessen.
       
       Auch für eine Koalition gilt der Leitsatz: „Man springt nicht zweimal in
       denselben Fluss, alles fließt und nichts bleibt.“ Sprich: Die guten
       Startbedingungen gehören längst der Vergangenheit an, da sich in der ersten
       Hälfte der Legislatur alle drei Parteien im Ansehen wie in den Werten
       radikal nach unten gewirtschaftet haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie
       nun umso mehr nur auf eigene Rechnung spielen, ist daher weit größer als
       noch zu Beginn der Koalition. Schon mit Blick auf die wichtigen
       Landtagswahlen am 8. Oktober in [2][Bayern] und [3][Hessen] wird vor allem
       die FDP alles daransetzen, sich selbst zu profilieren und den Wiedereinzug
       in beide Parlamente zu schaffen.
       
       ## Die FDP gibt den Ton an, der Kanzler duldet
       
       Wer noch irgendeinen Zweifel daran hatte, wie die Machtverhältnisse in
       dieser Koalition wirklich aussehen, ist spätestens seit den letzten Tagen
       eines Schlechteren belehrt. In dieser Koalition wedelt der Schwanz mit dem
       Hund. Obwohl die FDP prozentual klar der schwächste Koalitionspartner ist,
       gibt sie in der Regierung allzu oft den Ton an – und zwar dank bewusster
       Duldung des Kanzlers.
       
       Olaf Scholz braucht aus zwei Gründen eine starke, auch für
       Wirtschaftskonservative attraktive FDP: erstens, um damit CDU/CSU zu
       schwächen, und zweitens, weil nur eine zufriedene FDP ihm 2025 die Chance
       auf eine zweite Ampellegislatur eröffnet. Dagegen hat er weit weniger
       Interesse an starken Grünen, die ihm als Führungspartei der linken Mitte
       Konkurrenz machen könnten.
       
       In diesem rein parteiegoistischen Kalkül treffen sich die Interessen von
       SPD und FDP: Auch den Liberalen ist in erster Linie daran gelegen, starke
       Grüne zu verhindern, damit jegliche Zweierkoalition ausscheidet und sie
       auch in der kommenden Regierung dabei sein können – ob in Jamaika oder
       einer weiteren Ampel. Das ist der parteistrategische Hauptgrund, warum die
       Grünen weder eine echte Wärmewende noch eine starke Kindergrundsicherung
       durchsetzen konnten.
       
       Von Beginn der Koalition an setzte die FDP – anstatt teilweise mangelhafte
       grüne Gesetzesentwürfe kooperativ zu diskutieren und zu verbessern – sofort
       auf Konfrontation, als Fundamentalopposition in der Regierung gegen die
       Grünen. Und anstatt entschlossen zu führen und den Streit frühzeitig zu
       schlichten, hüllte sich der Kanzler in Schweigen – und brachte damit
       zugleich zum Ausdruck, dass ihm weder an der Durchsetzung einer
       wirkungsvollen Klimapolitik wirklich gelegen ist noch an grün konnotierter
       Sozialpolitik.
       
       ## Verteidigung materieller Gegenwartsinteressen
       
       Man stelle sich nur einmal vor, dass es sich bei der Kindergrundsicherung
       nicht um ein grünes, sondern um ein SPD-Projekt gehandelt hätte. Völlig
       unvorstellbar, dass der Kanzler dessen Demontage derart unbeteiligt
       zugesehen hätte. Bei alldem zeigt sich: Die von der FDP kreierte
       Vorstellung, hier stünden zwei Linksparteien gegen sie, den angeblich
       letzten Hort der bürgerlich-ökonomischen Vernunft, entpuppt sich dieser
       Tage endgültig als Chimäre: Faktisch agieren in der Regel zwei Parteien,
       nämlich FDP und SPD, in strikter Verteidigung der materiellen
       Gegenwartsinteressen – und damit primär der eigenen Wahlchancen.
       
       Hier aber liegt das eigentliche, strukturelle Kardinalproblem dieser
       Koalition: Der anhaltende Koalitionsstreit zwischen FDP und Grünen verläuft
       vor allem entlang zweier großer Konfliktlinien: Individual- versus
       Gesellschaftsinteresse und Gegenwartsfixierung versus Zukunftsorientierung.
       
       Während die FDP als klassische Klientelpartei vor allem die
       Gegenwartsinteressen der Bessersituierten befriedigen will und die SPD
       immer mehr zum Kanzlerwahlverein mutiert („Olaf Scholz muss Kanzler
       bleiben“), versuchen die Grünen, auch die Interessen der zukünftigen
       Generationen zu vertreten, genau wie es das Bundesverfassungsgericht jeder
       Regierung mit seinem [4][historischen Urteil vom März 2021] ins Stammbuch
       geschrieben hat. Doch mit diesem fatalen Alleinstellungsmerkmal laufen die
       Grünen in der Koalition wie auch in der Mehrheitsbevölkerung gegen die
       Wand.
       
       Immerhin ist einem Teil der Liberalen nicht verborgen geblieben, dass die
       eigene aggressive Strategie gegen die Grünen längst zulasten der gesamten
       Ampelregierung geht. Deren Ansehen befindet sich im freien Fall. Nach der
       urneoliberalen Devise – „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ –
       kann keine Koalition auf Dauer funktionieren.
       
       ## Vogel versus Kubicki
       
       Derzeit ringen in der FDP daher zwei Fraktionen miteinander: eine eher
       sozialliberal ausgerichtete um den Sozialpolitiker Johannes Vogel, die auf
       konstruktive Verständigung mit den Grünen setzt, und eine rein
       populistisch-destruktive um den stellvertretenden Bundestagspräsidenten
       Wolfgang Kubicki und den renitenten Abgeordneten Frank Schäffler. Dabei
       agieren letztere offenbar mit Duldung, wenn nicht sogar mit ausdrücklicher
       Unterstützung von Parteichef Christian Lindner.
       
       Der Grund dafür: Das ausgesprochen gute Ergebnis der FDP bei der letzten
       Bundestagswahl wurde primär mit einer AfD-light-Strategie (gegen die
       Coronapolitik der großen Koalition) erzielt, die die Kubicki-Fraktion seit
       Beginn der Ampel faktisch in eine Anti-Grünen-Politik übersetzt hat und die
       sie mit jeder weiteren Wahlniederlage immer mehr verschärft. Und durch den
       Niedergang der Grünen und erste FDP-Verbesserungen in den Umfragen sieht
       sich der eher rechtspopulistisch ausgerichtete FDP-Flügel in seiner rein
       destruktiven Logik noch bestärkt.
       
       Diese fatale Lage erklärt auch das Aufbegehren der Parteilinken innerhalb
       der Grünen um die Familienministerin. Dabei handelt es sich allerdings mehr
       um einen – obendrein kontraproduktiven – Akt der Verzweiflung, als um ein
       Agieren mit Aussicht auf Erfolg. Faktisch befinden sich die Grünen in der
       Geiselhaft der FDP und ihrer antigrünen Agenda. Deshalb erlebt man seit
       Wochen einen regelrecht demütig auftretenden Robert Habeck, der die
       Koalitionspartner förmlich anfleht, in Zukunft kooperativ zu agieren – weil
       er ganz genau weiß, dass er fast auf Gedeih und Verderb von einer
       konzilianten Haltung speziell der FDP abhängig ist.
       
       Bei alledem gibt es für die Grünen nur eine Chance, die SPD, genauer: den
       Bundeskanzler. Denn inzwischen ist die Krise in aller Härte bei Olaf Scholz
       angekommen, steht er zu Recht selbst im Mittelpunkt der Kritik. Scholz’
       ständigen fast autosuggestiven Aufrufe zu mehr „Optimismus“, „Gelassenheit“
       und „Coolness“ verfangen nicht mehr, beziehungsweise erzeugen die
       gegenteilige Wirkung. Die Kluft zwischen gewaltigem Anspruch und miserabler
       Wirklichkeit dieser heillos zerstrittenen „Zukunftskoalition“ wird immer
       größer; Scholz’ Strategie des Heraushaltens ist gescheitert.
       
       ## Es braucht einen neuen, kollegialen Modus Vivendi
       
       „Ich muss daran denken, was der Feldherr Helmut Schmidt mit uns gemacht
       hätte, wenn wir so gezankt hätten wie die Ampel“, erinnert sich fast schon
       nostalgisch der frühere Innenminister Gerhart Baum (FDP) in der FAZ an die
       sozial-liberale Ära der 1970er Jahre. „Auch früher flogen die Fetzen“, so
       Baum weiter, „aber nicht in der Regierung, sondern zwischen Regierung und
       Opposition. Er [Schmidt] hätte gesagt: Setzt euch gefälligst mal an einen
       Tisch, und zwar ohne Papier. Und dann redet ihr, bis ihr euch einig seid.
       Oder ihr gebt das Projekt auf.“
       
       Genau das, nämlich ein neuer, kollegialer Modus Vivendi dieser Koalition
       ist jetzt erforderlich. Die anstehende Klausur in Meseberg muss in dieser
       Hinsicht endlich einen Anfang machen. Die immer gleiche Beteuerung vor
       immer gleicher Schlosskulisse – wir verstehen uns glänzend und sind auf
       einem guten Weg, um nur einen Tag später wieder wie die Kesselflicker zu
       streiten – wird dafür nicht reichen, sondern den grassierenden Zweifel an
       der Demokratie weiter wachsen lassen wie auch die Werte der AfD.
       
       Auf der Koalition ruht daher eine immense Verantwortung. Und damit vor
       allem auf dem Kanzler, denn er bestimmt die Richtlinien der Politik. Bei
       seinem Amtsantritt hat Olaf Scholz eine „Gesellschaft des Respekts“ zu
       seinem Ziel erklärt. Dieser Respekt gebührt auch der Demokratie. Der
       kurzatmige Parteiegoismus der letzten beiden Jahre muss dafür endlich
       abgestellt werden, getreu dem so oft bloß behaupteten Leitmotiv: Erst das
       Land, dann die Partei.
       
       Der Kanzler muss diese Haltung in besonderer Weise verkörpern. Gewiss, man
       wird aus Scholz keinen schneidigen Redner mit der Autorität Helmut Schmidts
       oder gar einen visionären Charismatiker vom Schlage Willy Brandts machen.
       Aber dass er die Leitlinien seiner angeblich sozial ökologischen Politik
       frühzeitig koalitionsintern definiert und dann auch durchsetzt, nicht
       zuletzt gegenüber der FDP, das in der Tat ist das Mindeste, was man von
       einem Kanzler erwarten darf, der dem Land Führung in schwerer Zeit
       versprochen hat.
       
       27 Aug 2023
       
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