# taz.de -- Kunstfest Weimar: Gedenken und Gartenflucht
       
       > Beim Kunstfest in Thüringen kreisen Performances und Aufführungen um
       > private Paradiese, Nietzsches Schwester sowie die Deutschen und den
       > Klimaschutz.
       
 (IMG) Bild: Kostüme und Bühnenbild von „Ubu“ basieren auf Entwürfen von Joan Miró
       
       Schon im RE von Erfurt nach Weimar sitzt der erste Rechtsextreme.
       Hitler-Frisur, ein Polo mit Reichsadler darauf, vielleicht 25 Jahre alt.
       Mit sanfter, sogar sympathischer Stimme diskutiert er mit seiner Begleitung
       über Proteinriegel. Aber warum sollten Nazis auch immer brüllen oder nur
       über „Ausländer“ sprechen.
       
       Wenn man von Köln aus nach Thüringen fährt, wo der AfD 32 Prozent
       prognostiziert werden, ist die innere Ost-West-Brille nicht auszuschalten.
       Auf dem legendären Theaterplatz in Weimar, dort, wo sich in grauem Erz
       Goethe und Schiller erheben und allmontäglich die Querdenker treffen, ist
       sie erst recht geschärft. In strahlend heller Kleidung sitzt [1][der
       93-jährige Künstler Günther Uecker] auf einem Stuhl und betrachtet die paar
       Weimarer Bürger und West-Touristen, die um ihn herum Steine zu Häufchen
       schichten – Steine, die direkt aus jenem Steinbruch stammen, in dem
       KZ-Häftlinge einst Zwangsarbeit leisteten.
       
       Sein „Steinmal für Buchenwald“ hat Uecker 1999 schon einmal hier realisiert
       – damals war Weimar Kulturhauptstadt – allerdings in der Häftlingskantine
       von Buchenwald. Bundesinnenminister Kanther warnte vor einer
       „Buchenwaldisierung“ der Klassikerstadt.
       
       Nun, zur Eröffnung des Kunstfests Weimar 2023, ist das Steinmal deutlich
       näher zu den Klassikern gerückt. „Erinnern schafft Zukunft“, lautet das
       Motto in diesem Jahr. Zunächst passiert nicht viel auf dem weiträumigen
       Platz, bis auf einen grölenden Holocaust-Leugner, der später festgenommen
       wird – und einen netten Herrn, ehemaliger Studienrat, der findet, dass es
       nun mal genug sei mit dem Gedenken. Gegen Nachmittag füllt sich aber der
       Platz, stellen sich viele ans Megafon, um laut Opfernamen aus Buchenwald
       und ihre Geburtsdaten zu lesen.
       
       ## Die AfD-Erfolge: nur temporäre Verirrungen?
       
       Um die fertigen Türmchen bindet Uecker weißen Stoff, um Heilung ersuchend.
       Der charismatische Künstler, einst DDR-Flüchtling, nun aus Düsseldorf
       angereist, sah als 14-Jähriger die Kriegsleichen aus der Ostsee an den
       Strand treiben. Für ihn sind die AfD-Erfolge nur temporäre Verirrungen:
       „Ich glaube, das ist ein psychischer Prozess, der sich klären wird, von
       konservativen Bürgern, die sich in einer seelischen Abgeschiedenheit
       wähnen. Wenn wir aufhören, als Sieger und Besiegte zu denken, werden wir
       das miteinander überwinden“, sagt er.
       
       Kann Kunst gesellschaftliche Bewegungen gestalten? fragt im Hotel Elefant
       der Moderator den linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, der sich im
       Herbst 2024 in Thüringen zur Wiederwahl stellt. Ramelow, beeindruckend
       belesen, bejaht vehement und erzählt, wie viel es mit Menschen macht, wenn
       in Jena Plätze nach NSU-Opfern benannt oder in Erfurt im Gebäude des
       Auschwitz-Ofenbauers Topf und Söhne, die immer noch das deutsche Patent
       dafür innehaben, ein Gedenkort errichtet wird: „Gedenken schafft Ruhe und
       Verortung“.
       
       Aber Uecker hat vermutlich recht: der Rückzug ins rechte Denken vor der
       Komplexität der Weltkrisen ist ein Erklärungsansatz für den Erfolg der AfD.
       
       ## Die paradiesische Welt einer Weimarer Kleingartenanlage
       
       Dass sich manch einer aber auch einfach in die Kleingartenanlage
       zurückzieht, in private Paradiese, erzählt die Audioinstallation von Martha
       Hennersdorf im idyllischen Weimarer Gartenlokal August Fröhlich. Sie
       untersucht in ihrem schönen, vielstimmigen Feature, wie Schrebergärten die
       Gesellschaft in streng regulierter Gemeinschaft versammeln, von syrischen
       Geflüchtetenfamilien zu Großstadt-Hipstern, führt mit einem strengen
       Schrebergartenaufseher in utopische Paradiese, die eben auch keine wären,
       wenn niemand die Hecken zurückschneiden würde. Nazis, die Schrebergärten ja
       auch gerne mal als Rückzugsorte nutzen, tauchen hier nicht auf – man könnte
       meinen, die Welt in der Weimarer Kleingartenanlage sei in Ordnung. Wenn da
       nur nicht das Buchenwald-Mahnmal hinten auf dem Ettersberg ins Bild ragen
       würde.
       
       Friedrich Nietzsche hat sein spärliches, schwarz gestrichenes Mobiliar wohl
       niemals als sinnvollen Rückzugsort erlebt, schließlich hat er seine größten
       Bücher als reisender Nomade geschrieben. Als er in Weimar ankam, galt er
       schon als geistig umnachtet – was seine Schwester Elisabeth
       Förster-Nietzsche jedoch nicht davon abhielt, seine Räume in der Weimarer
       Villa „Silberblick“ noch zu seinen Lebzeiten als Wallfahrtsort zu
       gestalten.
       
       Die Klassik Stiftung Weimar hat nun erstmals Nietzsches private Gegenstände
       dieser Zeit aus dem Depot geholt. Sie stehen in krassem Kontrast zum von
       Henry van der Velde posthum prächtig gestalteten
       Jugendstil-Nietzschearchiv: ein schäbiges Sammelsurium der Epochen, triste
       Reliquien seiner Krankheit: ein Arbeitssessel zum Toilettenstuhl
       umgestaltet, eine verrutschte Totenmaske, Medikamentenfläschchen.
       
       ## Nietzsches Schwester als PR-Profi
       
       Bewusst werden sie im Neuen Museum Weimar in und auf Kisten ausgestellt,
       den Gegenständen jede Heldenaura ausgetrieben – während im Nebenraum die
       Schauspielerin Judith Rosmair unter einer VR-Brille in der zwanzigminütigen
       Performance „Being Nietzsche“ als Schwester Elisabeth wieder aufersteht als
       maliziös lächelnder PR-Profi, die Nietzsche zur geldwerten Weltmarke macht.
       Unter der Brille reist man mit ihr durch Raum und Zeiten, bis man sich
       selbst wie der Kranke fühlt, der ihrer Fürsorge nicht mehr entgehen kann.
       
       Eine Art Rückzug vor der komplexen Welt steht auch hinter dem Monolog
       „Eschenliebe“ von [2][Theresia Walser], uraufgeführt im Studiotheater
       Weimar und danach auf Tournee in ganz Thüringen, dem luxemburgischen
       Schauspieler Steve Karier auf den Leib geschrieben. Ein Mann gießt in
       heißen Nächten einen Baum. Was zunächst wirkt wie eine liebevolle wie
       wohlfeile Weltrettungsgeste in Dürrezeiten, verwandelt sich in ein
       erotisches Verhältnis, in dem zusehends die Verzweiflung wächst: denn die
       Blätter vertrocknen, die Krone lichtet sich, Rinde und Blätter fallen.
       
       „Das hätte ich nicht gedacht – dass du einer von denen bist, die glauben,
       sie könnten mit zwei Eimern die Welt retten“, höhnt der ebenfalls von
       Karier verkörperte Nachbar – doch die Sehnsucht des Mannes geht tiefer, zum
       Eins- und Allsein mit einer Natur, die bedroht ist und doch überleben wird.
       Fein, aber manchmal etwas zu polternd agiert Karier zwischen
       weltüberdrüssigem Esoteriker, vehementem Naturschützer und sehnsüchtigem
       Romantiker und bringt das kompliziert verdruckste Verhältnis der Deutschen
       zu Natur und Klimaschutz auf den Punkt.
       
       Und dann gibt es da auch noch das groteske Antikriegsstück „König Ubu“ von
       Alfred Jarry von 1896. Eine Persiflage auf Macbeth, Richard III. und alle
       totalitären Herrscher – aufgeführt im Weimarer E-Werk, während viele
       Kilometer entfernt zeitgleich der Tyrann Prigoschin vom Himmel fällt. Der
       legendäre Regisseur Robert Wilson hat das Stück nur „Ubu“ genannt, benutzt
       wenige Text-Fragmente. Wie Puppen sitzen die prächtig mit Zeitungsfetzen
       ausstaffierten Protagonisten auf der Bühne, Sounds und infantiler Text
       kommen aus dem Off – gesprochen etwa von der Schauspielerin Angela Winkler.
       
       Ubu und sein Gefolge stolzieren, tanzen, schwingen zum Musik-Medley über
       die Bühne, fressen, furzen, kämpfen, töten – die Banalität des Bösen
       brachte das Stück immer schon auf den Punkt. Zeitlebens war auch [3][der
       spanische Surrealist Joan Miró] von Ubu besessen, auf dessen Entwürfen
       Bühnenbild und Kostüme beruhen. Die spektakulären Bilder sind ein Rausch
       aus Schwarzweiß, Blutrot und Königsblau und stehen für den Stil des
       legendären US-amerikanischen Regisseur Wilson. Doch letztlich bleiben die
       50 Theaterminuten inhaltsarm und ornamental. Vom Antikriegsaufruf ist hier
       nichts mehr zu spüren. Eher vom putzigen Spiel mit der Wirklichkeitsflucht,
       diesmal mithilfe von Kunst.
       
       27 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Uecker-Institut-in-Schwerin/!5946103
 (DIR) [2] /Salzburger-Festspiele/!5618926
 (DIR) [3] /Portugal-will-85-Miros-versteigern/!5050426
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dorothea Marcus
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Thüringen
 (DIR) Weimar
 (DIR) Theater
 (DIR) Aktionskunst
 (DIR) Rechtsruck
 (DIR) Erinnerung
 (DIR) Weimar
 (DIR) Festival
 (DIR) Theater
 (DIR) Konzentrationslager
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kunstfest Weimar: Blick aus einer wissenden Zukunft
       
       Kunstfest und Nationaltheater Weimar bieten mit „missing in cantu“ neues
       Musiktheater. Und eine Dystopie, die Kräfte fürs Handeln freisetzen könnte.
       
 (DIR) Schräge Formen auf dem Kunstfest Weimar: Wenn Putin wie bei Wagner singt
       
       Klimawandel, Waldgeschichten, Tyrannen und Populisten: Das alles wird beim
       Kunstfest Weimar bearbeitet, oft mit originellem Zugriff auf harte Stoffe.
       
 (DIR) Kunstfest Weimar: Wenn wir ausgestorben wären
       
       Hitze, Fluten, Ausbeutung: Die Sorgen der Welt lasten auf dem Kunstfest
       Weimar. Mit allen Mitteln sucht es nach Erkenntnis.
       
 (DIR) 75 Jahre Befreiung von Buchenwald: Jeder Name ein Schritt
       
       An einem Septembersonntag laufen 200 Menschen von Weimar zum KZ Buchenwald.
       Sie gehen auf den Spuren der damals Inhaftierten und Ermordeten.