# taz.de -- Debatte um Industriestrompreis: Der Kanzler bleibt beim Nein
       
       > Die Bundesregierung kann sich nicht dazu durchringen, einen gedeckelten
       > Strompreis zu beschließen. Auch die Wirtschaft ist sich uneinig.
       
 (IMG) Bild: Energieintensiv: die Stahlindustrie
       
       Im Ziel ist sich die Bundesregierung einig: „Die sichere Versorgung mit
       bezahlbarer Energie ist entscheidend für den deutschen Wirtschafts- und
       Industriestandort“, heißt es im 10-Punkte-Plan, den sie auf Schloss
       Meseberg beschlossen hat. Doch über den Weg dahin ist sie sich weiterhin
       uneins. Während der Grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck sich dafür
       stark macht, dass der Staat energieintensiven Unternehmen möglichst rasch
       einen ermäßigten Strompreis sponsert, sind Finanzminister Christian
       Lindner, FDP, und Kanzler Olaf Scholz, SPD, dagegen.
       
       Scholz und Lindner argumentieren mit Wettbewerbsverzerrungen und der
       drohenden Gefahr einer Dauersubvention mit dem „Füllhorn“. Habeck dagegen
       warnt davor, dass international agierende Unternehmen wegen der hierzulande
       hohen Energiepreise nicht mehr in Deutschland investieren und will ihnen
       unter die Arme greifen, bis genügend grüne und billige Energie zur
       Verfügung steht.
       
       Einer der zentralen Gründe für die Bedenken des Kanzlers und seines
       Finanzministers gegen einen solchen Brücken- oder Transformationsstrompreis
       dürften die hohen Kosten in zweistelliger Milliardenhöhe und die ungeklärte
       Frage sein, woher das Geld kommen soll.
       
       Vor der Kabinettstagung in Meseberg hatte es auch aus den Reihen der SPD
       Druck auf den Kanzler gegeben, sich für einen Industriestrompreis
       auszusprechen. [1][Die SPD-Fraktion] hatte auf ihrer Klausurtagung in
       Wiesbaden am Montag ein Konzept für wettbewerbsfähige Strompreise
       beschlossen, welches auch einen auf fünf Cent und fünf Jahre begrenzten
       Transformationstrompreis vorsieht. Der soll ausgewählten energiefressenden
       Branchen wie der Grundstoffindustrie zugute kommen sowie Unternehmen, die
       entscheidend für die Energiewende sind, etwa Produzenten von Windanlagen
       und Batterien.
       
       ## Der Wirtschaftsstabilisierungsfond könnte helfen
       
       Das Geld soll aus dem [2][200-Milliarden schweren
       Wirtschaftsstabilisierungsfonds] kommen, den die Bundesregierung zur
       Abfederung der finanziellen Folgen der Coronakrise aufgelegt hatte. Eine
       Umwidmung dieser Kredite hält Linder jedoch für verfassungswidrig.
       
       Am Mittwoch meldeten sich zudem sieben Bundesländer mit einem Appell für
       einen subventionierten Strompreis zu Wort, darunter die SPD-regierten
       Länder Niedersachsen und Rheinland-Pfalz. Ohne ein entschlossenes
       Entgegensteuern bestehe die akute Gefahr der Verlagerung von Produktion und
       damit von Arbeitsplätzen ins Ausland, warnen sie. Niedersachsens
       Ministerpräsident Stephan Weil fordert schon seit längerem einen
       Brückenstrompreis und schlug im April einen auf 7 Cent gedeckelten Preis
       vor.
       
       Weil ist dabei vor allem auch als Interessenvertreter der heimischen
       Wirtschaft unterwegs. Im niedersächsischen Stade produziert der Konzern
       [3][Dow Chemical] unter anderem Chlor, die Leitung des Standorts erklärte
       Weil bei dessen Sommerreise, sie könne Investitionsentscheidungen in
       Deutschland nur noch schwer rechtfertigen. In den USA, dem Hauptsitz des
       Unternehmens, profitiert man von günstigen Energiepreisen und den
       Steuersubventionen des Inflation Reduction Act.
       
       Doch auch in der Wirtschaft ist ein Brückenstrompreis umstritten. Der
       Verband der Familienunternehmer ist dagegen und fordert statt
       Milliardensubventionen für wenige lieber Steuersenkungen für alle. Auch
       Wirtschaftswissenschaftler:innen sind sich nicht einig. Der Direktor
       des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, plädiert für einen
       Brückenstrompreis, [4][der Chef des DIW Marcel Fratzscher] hält einen
       subventionierten Strompreis für falsch. Alte Strukturen würden zementiert
       und Geld mit der Gießkanne verteilt, so Fratzscher diese Woche in der taz.
       Fratzscher ging allerdings davon aus, dass ein günstiger
       Industriestrompreis früher oder später kommt.
       
       Möglicherweise in der Form, wie ihn auch die SPD-Fraktion vorschlägt. Die
       will – zusätzlich zum Industriestrompreis – Direktverträge zwischen
       Unternehmen und Wind- oder Solarparks fördern, die langfristig günstige und
       stabile Preise garantieren, sogenannte PPAs (power purchase agreement). Nur
       wenn eine der beiden Seiten nicht liefern kann oder zahlungsunfähig sein
       sollte, springt der Staat ein. Auch im 10-Punkte-Plan der Bundesregierung
       heißt es, man nehme die Stärkung privater Power-Purchase-Agreements in den
       Blick. Ob diese allerdings einen Industriestrompreis ersetzen oder
       allenfalls ergänzen können ist ebenfalls – umstritten.
       
       Aus der Industrie kam am Mittwoch Kritik daran, dass der
       Industriestrompreis nicht beschlossen wurde. Markus Steilemann, Präsident
       des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), sagte: „Deutschlands Industrie
       sendet SOS, aber die Bundesregierung ignoriert weiter die akute Notlage.
       Statt Langfristprogramme brauchen wir schnelle Hilfe bei der
       Krisenbewältigung. Doch die Bundesregierung spielt weiter auf Zeit. Der
       Brückenstrompreis ist ein Must-have, um die Deindustrialisierung zu
       stoppen.“ Wichtige Konkurrenzstandorte wie China und die USA förderten ihre
       Märkte massiv. „Und wir schauen zu, wie unsere heimische Industrie um ihre
       Zukunft kämpft.“
       
       30 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Lehmann
       
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