# taz.de -- Salzburger Festspiele: In der Familienfalle
       
       > Der Roman „Die Wut, die bleibt“ kommt auf die Bühne – mit Reflexionen
       > über das Geschlechterverhältnis während der Pandemie und plakativen
       > Botschaften.
       
 (IMG) Bild: Johanna Bantzer (Helene), durch den Lockdown und mit den Kindern isoliert überlastet
       
       Der Prolog: Johanna Bantzer rezitiert hymnische Sätze über Emotionen beim
       Mutterwerden, über taktile Wahrnehmungen des neugeborenen Körpers, eine Art
       Trance und das „Explodieren“ der Endorphine im Blut. Sie stammen aus
       [1][„Die Wut, die bleibt“, dem Roman der Salzburger Schriftstellerin
       Mareike Fallwickl].
       
       Ihre Worte balancieren trittsicher über ideologische Abgründe, rufen starke
       Bilder hervor, ohne beim Thema Geburt in biologistische oder esoterische
       Gefilde abzubiegen. Ist wenigstens für einen Moment Autonomie möglich gegen
       die patriarchale Kolonisierung des weiblichen Reproduktionsvermögens – in
       der Dyade zweier Menschen, wo noch keine Gesellschaft ist? Die
       Verhältnisse, sie sind doch nicht so.
       
       Die Schlüsselszene: Bantzer klettert auf ein weißes Gerüst und stürzt sich
       über die Brüstung in den schwarzen Hintergrund. Katja Haß skizziert mit
       dieser Konstruktion jene Kleinfamilienzellen und -fallen, in die das
       Theater die kommenden zwei Stunden hineinschauen wird. Wer da springt, ist
       Helene, etwa vierzig, Mutter dreier Kinder vom Krabbelalter bis fünfzehn.
       Ihre beruflichen Perspektiven hat sie zugunsten von Johannes (Max
       Landgrebe) an den Nagel gehängt.
       
       Im Lockdown mit den Kindern isoliert wächst ihre [2][Mental Load] über alle
       Schranken. Sie tut etwas, das Mütter der Mehrzahl und der Erwartung nach
       nicht tun: Sie entzieht sich, springt auf eine allerletzte Kränkung hin vom
       Balkon in die Tiefe. Ein Akt der Verzweiflung, einer letzten Befreiung? Ein
       Fanal, das den Lebensweg derer, die sie zurücklässt, ändern soll. Liegt
       vielleicht sogar eine letzte Form von Zuwendung darin?
       
       ## Wiedergängerin und Spielleiterin
       
       Für die Erinnerung der Trauernden wird Helene wiederkehren, Fragen
       beantworten, neue Rätsel stellen. Die Bearbeitung des Romanstoffs durch
       Jorinde Dröse (Regie) und Johanna Vater (Dramaturgie) für die Koproduktion
       der Salzburger Festspiele mit dem Schauspiel Hannover – Premiere ist dort
       am 10. September – macht die Wiedergängerin regelrecht zur Spielleiterin,
       zur Taktgeberin ihrer Nachwelt.
       
       Sie erscheint allerdings nicht jedem. Sarah (Anja Herden) etwa, Helenes
       bester Freundin seit Kindertagen. Sie ist Schriftstellerin, kinderlos, hält
       sich für emanzipiert und autonom, bemerkt aber, wie sie aus Mitleid für die
       verwaiste Familie in ein Rollenmuster weiblicher Selbstaufopferung gerät,
       entdeckt an sich Konditionierungen, die sie längst überwunden glaubt.
       
       Die fünfzehnjährige Lola (Nellie Fischer-Benson) im Skater:innen-Outfit
       der Nullerjahre kommt mit ihrem popkulturellen Lifestyle-Feminismus und
       seinen bloßen Sprachregelungen nicht weiter. Etwas muss her, das den Bann
       bricht. Mit ihren Freundinnen betreibt sie Kampfsport, um Ohnmachtsgefühle,
       den verinnerlichten männlichen Blick auf den eigenen Körper regelrecht
       wegzuprügeln.
       
       Neue Körpererfahrung drängt zum Tanz, aber es bleibt ein Rätsel der
       Aufführung, warum die Choreos einer Rebellion gegen popkulturell
       oktroyierte Weiblichkeitsbilder sich so nahtlos in gängige
       Videoclipästhetik fügen.
       
       ## Rache à la Tarantino
       
       Dann geschieht doch etwas. Sexuelle Gewalt im Nahfeld lässt die Mädchengang
       zur Tat schreiten. Sie verprügeln den Vergewaltiger und ritzen ihm,
       Tarantino lässt grüßen, ein K in die Backe, „Karma is a bitch“. Die
       imaginierte Gewalt bricht den Bann, der die Täter schützt, manchmal muss
       sie auch ausgeübt werden.
       
       Jorinde Dröses Inszenierung setzt vor allem auf diese spektakulären
       Wendungen im Romanstoff. Was dabei immer wieder verloren geht, ist Mareike
       Fallwickls präzise Beobachtung der politischen Ökonomie der Kleinfamilie in
       Zeiten des Neoliberalismus. Die Individualisierung aller Lebensrisiken von
       Kindern bis zur Pflege geht in der Regel zulasten der Frauen. Die Schere
       zwischen den Geschlechtern droht sich gegen alle Gleichheitspostulate
       wieder zu öffnen.
       
       Der Salzburger Abend setzt vor allem auf plakative Botschaften. Jede Szene
       wird zum Manifest mit einer passenden Punchline aus dem Roman. Vorgetragen
       in einem handwerklich nicht gerade subtilen Jugendtheaterpathos bleiben sie
       als Gemeinplätze und verbale Posen in der Luft hängen. Ihnen ist die
       Selbstironie abhandengekommen, in die [3][Mareike Fallwickl] sie einbettet,
       mit der sie ihre Wut kultiviert und Lust an der Attacke schöpft, die
       kommende Befreiung vorwegdenkt.
       
       Die Wut, die bleibt, verpufft diesmal.
       
       23 Aug 2023
       
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 (DIR) Uwe Mattheiß
       
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