# taz.de -- Aiwanger soll KZ-Gedenkstätte besuchen: Hier gibt es keine Persilscheine
       
       > KZ-Gedenkstätten sollen rechtsextremen Haltungen vorbeugen. Von Hubert
       > Aiwanger wird nun ein Besuch in Dachau erwartet: ein falsches Signal.
       
 (IMG) Bild: Ob Aiwanger wirklich die KZ-Gedenkstätte in Dachau betreten wird?
       
       [1][Hubert Aiwanger] wird wie ein Schuljunge behandelt, auch nach 35
       Jahren. Damals verpflichtete ihn seine Schule, ein Referat über das „Dritte
       Reich“ zu halten. Eine Reaktion auf die widerlichen NS-glorifizierenden und
       die [2][Schoah] verharmlosenden Flugblätter, die in Aiwangers Tasche
       gefunden wurden. Heute ist es die Gedenkstättenfahrt nach Dachau, die ihm
       nahegelegt wird.
       
       Das schlägt ernsthaft der Beauftragte für Jüdisches Leben und
       Antisemitismus in Deutschland, [3][Felix Klein], vor: „Es wäre jetzt ein
       gutes Zeichen, wenn er nicht nur das Gespräch mit den jüdischen Gemeinden,
       sondern auch mit den Gedenkstätten in Bayern sucht und deren wichtige
       Arbeit stärkt, etwa durch einen Besuch in Dachau“, sagte er dem RND.
       
       Dass einer, der es qua Amt besser wissen müsste, jetzt einen solchen
       Vorschlag macht, verstört – und steht doch exemplarisch für den
       bundesdeutschen pädagogischen Umgang mit Antisemitismus und
       Nationalsozialismus. Auf antisemitische Vorfälle reagieren Schulen nämlich
       immer noch gern mit Gedenkstättenfahrten. An diese Gedenkstätten sind seit
       jeher Erwartungen geknüpft. Dort sollen Schüler:innen Demut vor dem Tod
       lernen. Ihnen sollen Emotionen abgerungen werden wie Trauer und Mitgefühl
       für die Opfer des Nationalsozialismus. Ein Gefühl der Betroffenheit soll
       hergestellt werden. Eine kaum zu bewältigende Aufgabe für die
       Mitarbeiter:innen dieser Einrichtungen.
       
       ## Eine Illusion, ein „Fantasiefeld“
       
       Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager sind eine Illusion, ein
       „Fantasiefeld“, wie sie in einer Studie von Marina Chernivsky und
       Friederike Lorenz-Sinai bezeichnet werden.
       
       An diesen Orten konkretisiere sich zwar die Geschichte des
       Nationalsozialismus. Geschichte, die „gesellschaftlich, institutionell und
       familienbiografisch weiterwirkt“; die besonders auf letztgenannter Ebene
       bis heute unzureichend aufgearbeitet ist. In Gedenkstätten verschwimmt
       jedoch der Blick auf die Gewaltgeschichte: steht hier die Opfer- oder
       Täterperspektive im Fokus?
       
       Gedenkstätten werden vorrangig als jüdische Orte verstanden. Ähnlich wie in
       der Debatte um die Aiwanger-Affäre geraten in Gedenkstätten zusehends
       andere Opfergruppen wie politisch Verfolgte, Kommunisten, schwule Männer,
       Sinti und Roma in Vergessenheit. Das verengt den Blick auf die
       NS-Geschichte.
       
       Für die Deutschen ist die Gedenkstätte zu einer Projektionsfläche geworden.
       NS-Taten werden auf diesen einen Ort, auf eine Opfergruppe beschränkt. Mit
       der eigenen unmittelbaren Welt hat dies dann nichts mehr zu tun. Bezüge zu
       familiären Verstrickungen werden schwerlich gezogen – die Gefahr einer
       Entlastung besteht.
       
       ## Gedenkstätte als Projektionsfläche
       
       Gedenkstättenfahrten werden zum Pflichtbesuch mit dem Anspruch eines
       Transformationsprozesses. Durchschreiten die Jugendlichen am Ende des
       Schulausflugs das Lagertor, kommen sie auf der anderen Seite als bewusste,
       antisemitismuskritische Menschen hervor. So der naive Wunsch.
       
       Wie ist all das im Zusammenhang mit Hubert Aiwanger zu begreifen? Auch in
       seinem Fall wird das Problem – seine nicht glaubwürdige Entschuldigung,
       seine Erinnerungslücken und der Unwillen einer ernst zu nehmenden
       Aufklärung – externalisiert und auf einen Ort projiziert. Nach christlichem
       Vorbild soll Aiwanger Buße leisten. Einmal beichten, Ablassbrief erhalten,
       danach ist die Weste wieder weiß. Das Problem aber liegt bei Aiwanger
       selbst, in seinem Verhalten.
       
       In alter deutscher Tradition begreift Felix Klein die Gedenkstätte als
       reinigenden Ort, als Möglichkeit der Wiedergutmachung. Da bleiben sich die
       Deutschen wieder einmal treu in ihrem Verständnis von
       Vergangenheitsbewältigung. Doch Gedenkstätten dürfen niemals zu
       Ausgabestätten von Persilscheinen verkommen.
       
       Die Affäre um Hubert Aiwanger ist politisch abgeschlossen. Das hat Bayerns
       Ministerpräsident Markus Söder am Sonntag deutlich gemacht, indem er seinen
       Vize im Amt ließ. Er hat seine politische Gedenkstättenfahrt längst
       absolviert. Das KZ Dachau braucht es dafür gar nicht mehr.
       
       4 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Erica Zingher
       
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