# taz.de -- Skandal um antisemitisches Flugblatt: Söder schließt die Akte Aiwanger
       
       > Die Affäre um Wirtschaftsminister Aiwanger sei ein Schaden für Bayern,
       > aber kein Grund für eine Entlassung, findet Ministerpräsident Söder.
       
 (IMG) Bild: Nicht zurückblicken: Aiwanger am 3. September beim Volksfest Keferloh
       
       MÜNCHEN taz | Sonntag, 11 Uhr. In so mancher bayerischen Kirche dürfte der
       Pfarrer gerade zur Predigt ansetzen, als Markus Söder vor die Presse tritt.
       Noch schnell ein Schluck Cola light und dann der mächtige Satz: „Ich habe
       eine Entscheidung getroffen.“ Es hat etwas Finales, und das soll es
       natürlich aus der Sicht des bayerischen Ministerpräsidenten auch haben. Zu
       lange schon währt diese Affäre. Ex cathedra, möchte man fast meinen, wird
       hier gerade der Weisheit letzter Schluss verkündet. Zugleich macht es
       Markus Söder, der alte Inszenator, spannend, als gelte es, die Entscheidung
       der Oscar-Jury vorzulesen. So lässt er auch noch einige Minuten
       verstreichen, bis er verrät, wie die Entscheidung tatsächlich ausgefallen
       ist, auch wenn schnell klar wird: The winner is … Hubert Aiwanger! Söder
       hält an seinem Stellvertreter [1][allen Vorwürfen der letzten Tage zum
       Trotz] fest.
       
       Nein, er habe sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht, sagt Söder bei
       der Pressekonferenz im Prinz-Carl-Palais gleich neben der Staatskanzlei in
       München. An genau dieser Stelle hat er am vergangenen Dienstag von der
       Sondersitzung des Koalitionsausschusses berichtet, seinen Ärger über
       Freie-Wähler-Chef Aiwanger zum Ausdruck gebracht und von dem
       [2][Fragenkatalog berichtet, den Aiwanger nun zu beantworten habe].
       
       Die Antworten bekam Söder schon am Freitagabend zurück. Dass diese ihn
       befriedigen würden, davon hatte er es abhängig gemacht, ob er seinen
       Wirtschaftsminister im Amt belasse oder nicht. Wie leicht Söder, angesichts
       der unkalkulierbaren Situation, die eine Entlassung Aiwangers für ihn
       bedeutet hätte, zu befriedigen ist, zeigt sich, als die Staatskanzlei den
       bislang unter Verschluss gehaltenen [3][Fragenkatalog samt Antworten im
       Anschluss an die Pressekonferenz ins Netz stellt]: Die 25 Fragen, die sich
       fast nur mit dem Nazi-Pamphlet aus Aiwangers Schulzeit befassen, dessen
       Urheberschaft er verdächtigt wird, werden von dem Chef der Freien Wähler
       auf vier DIN-A4-Seiten knapp beantwortet. Es enthält gegenüber den wenigen
       bisherigen Aussagen Aiwangers in der Angelegenheit nichts Neues.
       
       Antisemitismus habe keinen Platz in Bayern, schickt Söder seinem Statement
       voraus. Bayern sei ein Bollwerk gegen Rassismus und Antisemitismus, das
       garantiere er persönlich als bayerischer Ministerpräsident. Die Rolle des
       Schutzpatrons ist eine, in der sich Söder in den vergangenen Jahren immer
       öfter präsentierte, sei es in der [4][Pandemie], sei es beim Thema
       Antisemitismus. Gern spricht er dann persönliche Sicherheitsgarantien aus.
       Zuletzt tat ihm auch Charlotte Knobloch, die Vorsitzende der Israelitischen
       Kultusgemeinde München und Oberbayern, den Gefallen, ihn als Schutzpatron
       der jüdischen Gemeinde zu bezeichnen.
       
       ## Söder als König Salomon
       
       Die Vorwürfe, so Söder, die gegen Aiwanger im Raum stünden, schadeten
       Bayern. Bei seiner Entscheidungsfindung sei es ihm aber darum gegangen, ein
       faires, geordnetes Verfahren zu finden. Der Entscheidung, dass Aiwanger
       weiter das Amt des bayerischen Wirtschaftsministers und des
       stellvertretenden Ministerpräsidenten ausüben dürfe, seien die Bewertung
       der Antworten auf Söders 25 Fragen, Aiwangers Äußerungen in der
       Öffentlichkeit und ein langes, persönliches Gespräch am Samstag
       vorausgegangen.
       
       Natürlich ist der vermeintliche König Salomon, der sich hier als Richter in
       der Causa Aiwanger inszeniert, alles andere als eine neutrale Instanz.
       Söder ist nicht Beobachter, sondern Akteur – und letztlich sicherlich einer
       derjenigen, auf den das landespolitische Beben der vergangenen Tage die
       größten Auswirkungen haben dürfte. Eine Entlassung Aiwangers hätte aller
       Voraussicht nach ein Ende der Koalition fünf Wochen vor der Wahl bedeutet,
       da sich die Spitze der [5][Freien Wähler bislang in Nibelungentreue hinter
       ihrem Chef versammelte], das Ganze als reine [6][„Schmutzkampagne“ der
       Süddeutschen Zeitung hinstellte]. Somit wäre auch nach der Wahl eine
       Wiederauflage der Koalition mit anderem Personal schwer vorstellbar
       gewesen. Kurzum: Söder hätte sich wohl in einer Koalition mit den Grünen
       oder der SPD wiedergefunden – mit einem vermutlich gestärkten Aiwanger in
       der Opposition. Ein Szenario, das Söders schlimmsten Albträumen recht nahe
       kommen dürfte.
       
       In der Opposition, wo man für eine Regierungsbeteiligung jederzeit
       bereitstünde, sieht man das freilich ganz anders. Katharina Schulze, Chefin
       der Grünen-Fraktion, spricht von einem „bitteren Tag für unser Bayern“, an
       dem Söder es versäumt habe, Haltung zu zeigen. Und ihr Co-Vorsitzender
       Ludwig Hartmann ergänzt: „Taktik geht bei Markus Söder vor Haltung.“ Er
       toleriere weiter einen stellvertretenden Ministerpräsidenten, an dessen
       demokratischer Gesinnung Zweifel bestünden.
       
       SPD-Chef Florian von Brunn bezeichnet Aiwanger gar als „Schande Bayerns“
       und moniert: „Die Entschuldigungen von Herrn Aiwanger sind zu spät, zu
       unvollständig und auch zu uneinsichtig.“ Und auch FDP-Fraktionschef Martin
       Hagen gibt sich wenig überzeugt von Söders Entscheidung: „Alles, was
       Aiwanger künftig sagt und tut, wird nun auf ihn zurückfallen. Ich bin
       gespannt, wie sehr Hubert Aiwanger diesen Freifahrtschein ausreizen wird.“
       
       Söder selbst räumt ein, Aiwangers Entschuldigung am Donnerstag sei spät
       gekommen – aus seiner Sicht aber nicht zu spät. Zur Erinnerung: Zwei
       Minuten hatte sich der Politiker am Donnerstagnachmittag genommen, um sich
       ganz allgemein für Gefühle, die er eventuell verletzt habe, zu
       entschuldigen. Statt konkretes Fehlverhalten zuzugeben oder zu erklären,
       ging er bei der Gelegenheit allerdings gleich wieder in den Kampfmodus über
       und behauptete, man wolle ihn persönlich und politisch „fertigmachen“. Eine
       Behauptung, die er nun auch bei der Beantwortung des Fragebogens
       wiederholte. Warum eine solche Entschuldigung für Söder ausreicht, darauf
       gibt es am Sonntag keine Antworten. Fragen der Journalisten sind auch
       diesmal nicht gestattet.
       
       Es sei ihm wichtig gewesen, „nicht nur nach Medienberichten zu entscheiden“
       und „ganz bewusst keine Vorverurteilung vorzunehmen“, sagt Söder. Vor allem
       ging es ihm dabei allem Anschein nach um das Flugblatt, das in schlimmstem
       Nazi-Jargon die Opfer des Holocaust verhöhnte und in Aiwangers Schultasche
       gefunden wurde. Sollte es stimmen, dass dieses nicht von Aiwanger, sondern
       von seinem Bruder verfasst worden war, so kann man heraushören, sei die
       Sache ja halb so schlimm. Zu Aiwangers Gunsten sei zu bewerten, dass er
       sich erneut vom Inhalt des Flugblatts distanziert habe und dass ihn die
       Angelegenheit sehr belaste. Es ist ein Satz aus den Antworten auf seine
       Fragen, den Söder besonders positiv hervorhebt: Der Vorfall mit dem
       Nazi-Pamphlet habe bei ihm „wichtige gedankliche Prozesse angestoßen“.
       Welche? Mit welcher Folge? Dazu äußert sich Aiwanger nicht.
       
       Zum Umgang des heutigen Politikers Aiwanger mit den Geschehnissen von
       damals sagt Söder: „Leider war sein Krisenmanagement der letzten Woche
       nicht sehr glücklich.“ Sein Verhalten habe die Glaubwürdigkeit nicht
       erhöht. Aber eine Entlassung sei „nicht verhältnismäßig“.
       
       Letztlich seien es fünf Aspekte gewesen, erklärt der Ministerpräsident, die
       ihn bewogen hätten, Aiwanger nicht zu feuern: Erstens habe er schwere
       Fehler zugestanden, sich zweitens entschuldigt, drittens gebe es keinen
       Beweis, dass er das Flugblatt geschrieben oder verbreitet habe, viertens
       sei seit dem Vorfall nichts Vergleichbares mehr passiert, und überhaupt sei
       das Ganze fünftens 35 Jahre her. Söders generelle Argumentationslinie ist
       klar: Es geht um die Bewertung des damaligen Jugendlichen Aiwanger, nicht
       um den heutigen Politiker. Das hatte er schon in den vergangenen Tagen
       durchscheinen lassen. Und wenn man dann noch das Verhalten des heutigen
       Aiwanger als „unglückliches Krisenmanagement“ durchgehen lässt, fällt es
       umso leichter, unter der Überschrift „Jugendsünde“ einen Haken hinter die
       Affäre zu setzen.
       
       Gegen Ende seines Statements zieht Söder noch einen Trumpf aus der Tasche,
       gewissermaßen das Placet von ganz oben. Er habe am morgen auch mit Knobloch
       und Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in
       Deutschland, gesprochen, berichtet der CSU-Chef. Knobloch gibt kurz darauf
       auch noch eine Pressemitteilung heraus.
       
       Söders Entscheidung sei politisch zu akzeptieren. Aiwanger müsse nun
       „Vertrauen wiederherstellen und deutlich machen, dass seine Aktionen
       demokratisch und rechtlich gefestigt sind“. The winner is …
       
       3 Sep 2023
       
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 (DIR) [4] /Nachrichten-in-der-Coronakrise/!5833332
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