# taz.de -- Roman „Kleine Probleme“: Schöpfungsakte mit Ikea-Bett
       
       > Wenn auf der To-do-Liste „Du sollst dein Leben ändern“ steht. Nele
       > Pollatschek hat eine Mischung aus Bekenntnis- und Schelmenroman
       > geschrieben.
       
 (IMG) Bild: Viele Sechskantschlüssel, aber keine Lösungen für die Probleme des Alltags
       
       Haben Sie schon alle [1][Neujahrsvorsätze] abgearbeitet? Nein? Dann sollten
       Sie vielleicht mal anfangen, bevor es zu spät ist. Ein Lied davon singen
       kann Lars, pathologisch prokrastinierender „Held“ in [2][Nele Pollatscheks]
       Roman „Kleine Probleme“, der in der späten Mitte seines Lebens beschlossen
       hat, dieses Leben grundlegend zu ändern.
       
       Und welche Zeit wäre dafür besser geeignet als die „Tage zwischen den
       Jahren, in denen das Alte schon zu Boden geröchelt ist und das Neue noch
       nicht zugeschlagen hat“, wie der theorieversierte Philosophieabbrecher Lars
       anspielungsreich formuliert. Eigentlich hatte der angehende Schriftsteller
       sich das ganz anders vorgestellt, als er und Johanna vor acht Jahren das
       Haus kauften und Lars seinen Job beim Radio kündigte, um endlich sein
       Lebenswerk – nichts Geringeres als „das beste Buch der Welt“ – schreiben zu
       können.
       
       Das hat dann leider nicht so geklappt, und zwar womöglich weniger, weil
       Lars sich damit zu viel vorgenommen hätte, sondern weil es ihm so schwer
       fällt, irgend etwas „einfach mal zu machen“, wie Johanna ihn oft genug
       ermahnen muss.
       
       Und so steht (sitzt, liegt) er jetzt da, die Kinder sind aus dem Haus oder
       im Ausland, Johanna ist verreist, und Lars will endlich sein Leben
       aufräumen und alles erledigen, was sich in den letzten Monaten und
       Jahrzehnten so angesammelt hat: neben seinem Buch und „es gut machen“ auch
       Neujahrsklassiker wie putzen, Vater anrufen und mit dem Rauchen aufhören.
       
       ## Gott der kleinen Dinge
       
       Wie ein gestandener Gott der kleinen Dinge nimmt Lars sich dafür eine Woche
       Zeit – nur um die natürlich doch wieder zu vertrödeln. Und weil er dann am
       31. Dezember auch noch verschläft, hat er am Ende – also am Anfang des
       Romans – noch einen geschlagenen halben Tag, um seine erdrückende Liste
       abzuarbeiten, bevor zur Silvesterparty alle zurück sein werden.
       
       Es ist ein so überraschendes wie passendes Szenario, das Pollatschek für
       ihre Mischung aus Taugenichts- und Schelmenroman mit Anleihen bei
       Bekenntnisliteratur, Liebesdrama und Schöpfungsgeschichte gewählt hat.
       
       Und es ist so wohltuend, angesichts der beständigen Neuerscheinungen aus
       den Genres Autofiktion, Kindheits- und Herkunftsgeschichte, Politische
       Katastrophen oder andere Großkonflikte einmal wieder eine so humorige,
       selbstironische (Nicht-)Ich-Erzählung über vermeintlich „kleine Probleme“
       zu lesen (die dann natürlich umso überzeugender die wirklich großen
       Probleme des Lebens angeht) – vor allem wenn sie so hervorragend
       geschrieben ist wie diese.
       
       Es ist eine wahre Lust, der 1988 geborenen Autorin mit ihrem 49-jährigen
       Helden durch die Falltüren des Alltags, der Kunst und Lebenskunst zu
       folgen.
       
       ## „Pleumel“ und „Plodden“
       
       Schon der erste Punkt auf der epischen To-do-Liste – ein Ikea-Bett für die
       Tochter aufbauen – gerät zum veritablen Schöpfungsakt: Nachdem Lars
       festgestellt hat, dass lange Ziffernfolgen nicht zum menschenwürdigen
       Unterscheiden von zwanzig Arten von Schrauben geeignet sind, erfindet er
       kurzerhand für sämtliche Einzelteile eigene Namen.
       
       Und dann werden ihm die „Pleumel“ und „Plodden“, die „Flonze“ und „Wörle“
       sowie ihr ingeniöses Zusammenspiel plötzlich zum Sinnbild seines neuen
       Lebens, ja des Menschseins überhaupt: „Vielleicht ist das die Kunst, dachte
       ich, einen Knülp zu erfinden, wenn eine Schraube genügen würde, vielleicht
       ist es das, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.“
       
       Ähnlich spirituell und philosophisch – und kein bisschen weniger witzig –
       wird dann natürlich das Putzen, das erst einmal marxistisch und
       chaostheoretisch im Kopf durchdekliniert werden muss, bevor endlich der
       „Wischer vom Stiel auf den Mopp“ gestellt werden kann. Denn
       selbstverständlich kann es wirkliche Ordnung (in der „alles an seinem Platz
       ist“, so Johanna) in einem Haus gar nicht geben: „Aufräumen bedeutet im
       Grunde, einen Zauberwürfel aus abertausend Steinen lösen zu wollen, und das
       ist doch absoluter Irrsinn. “
       
       So wird dann auch die Steuererklärung nur zur Veranschaulichung der
       Unendlichkeit, und die mühevolle Belegsammlung dient Lars als Aufhänger,
       seine Lebensgeschichten zu erzählen: von seinem politisch perfekt korrekten
       Sohn und seiner Margret Thatcher verehrenden Tochter, von seinem (ein
       „bisschen“) türkischen besten Freund und Agenten – und von seiner
       schließlich nur scheinbar unendlich duldsamen Johanna.
       
       ## Der glückliche Mensch
       
       Da wir uns am Ende aber mit Camus sogar den sisyphoshaften „Steuerzahler
       als glücklichen Menschen vorstellen“ dürfen, kriegt es Lars dann auf
       wundersame Weise doch irgendwie hin und wird beim Nudelsalatmachen zu einer
       Art MacGyver nicht nur der veganen Improvisationsküche, sondern eines
       hoffentlich irgendwann doch noch gelingenden – oder zumindest besser
       scheiternden – Lebens (und ich schwöre, ich bin auf die Metapher gekommen,
       lange bevor der findige Fernsehdetektiv im Buch tatsächlich erwähnt wird –
       das Vorbild war schon deutlich zu erkennen).
       
       [3][Nele Pollatschek] erzählt diese so kreischend komischen wie tragisch
       tiefsinnigen Episoden in einer passagenweise atemlosen, alliterationssatten
       Suada, die freilich immer wieder innehält, um ihre höheren Weisheiten zur
       Geltung zu bringen und gewissermaßen das Prokrastinieren als prekäre
       Conditio humana zu bewahrheiten.
       
       Ein besonderes Erlebnis ist auch die von der Autorin eingelesene
       Hörbuchfassung. Virtuos parliert Pollatschek sich durch ihre
       Paraphrasenpreziosen, tänzelt durch die Tonlagen und Reflexionsschleifen
       und bringt dadurch ihren brillanten Stil richtig zum Strahlen.
       
       7 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
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