# taz.de -- Hessen vor der Landtagswahl: Man kennt sich gut
       
       > Das politische Hessen ist ruhig geworden, die Tage der Aufregung sind
       > seit dem Scheitern der Ex-SPD-Vorsitzenden Ypsilanti passé. Ein
       > Rückblick.
       
 (IMG) Bild: Vor dem Triell ist vor der Wahl: Al-Wazir, Faeser, Rhein
       
       Der Höhepunkt eines lauen Wahlkampfs, der eher vom Frust über die Berliner
       Ampel und dem Streit über die Migration als von hessischen Themen dominiert
       war – am Montag vor der Wahl hat das hr-Fernsehen die SpitzenkandidatInnen
       von CDU, SPD und Grünen zum TV-Triell geladen: „Dreikampf um die
       Staatskanzlei“, so der Titel der Aufzeichnung.
       
       „Hessen ist ein knappes Amt … äh … Land“, verhaspelt sich Boris Rhein,
       Titelverteidiger und Ministerpräsident, auf dem Weg ins Studio. Obwohl es
       um viel geht, begegnen sich die drei Rivalen an diesem Montag auffallend
       freundlich. Rhein tauscht Wangenküsschen mit Bundesinnenministerin Nancy
       Faeser (SPD). Rheins Vize und Koalitionspartner, der Grüne Tarek Al-Wazir,
       betritt das Studio an der Seite der roten Konkurrentin. Man duzt sich, wenn
       die Mikrofone abgedreht sind.
       
       Die drei haben sich alle Optionen offengehalten, sind „zu allem bereit“.
       Die CDU schließt weder eine Koalition mit der SPD noch die Fortsetzung des
       schwarz-grünen Bündnisses aus. Faeser und Al-Wazir haben nur dann eine
       Chance, in die Staatskanzlei einzuziehen, wenn sie zusammen mit der FDP
       eine Ampelmehrheit zustande bringen. Das werden sie versuchen, wenn es
       rechnerisch möglich ist.
       
       „Alle demokratischen Parteien müssen miteinander sprechen können und
       grundsätzlich anschlussfähig sein“, darauf haben sie sich geeinigt. Seit
       fünfzehn Jahren agieren sie in der ersten Reihe der hessischen
       Landespolitik. So lange kennen und schätzen sie sich.
       
       Das war nicht immer so. Lange galt der hessische Landtag mit seinen
       kontroversen Debatten und Ränkespielen als härtestes Landesparlament in
       Deutschland. In den 1970er Jahren regierten SPD und FDP gemeinsam gegen
       eine wütende hessische CDU, die als dunkelschwarze Partei die stärkste
       Fraktion im Wiesbadener Landtag stellte. Deren rechtskonservative
       Vorderleute Alfred Dregger und Manfred Kanther rühmten sich, aus einer
       Honoratiorenvereinigung einen rechten „Kampfverband“ geformt zu haben. Für
       Liberale waren sie schlicht unwählbar.
       
       ## Turnschuhminister Joschka Fischer
       
       Danach regierte mit vierjähriger Unterbrechung Rot-Grün, das erste Mal in
       einem Flächenland. Turnschuhminister Joschka Fischer galt der CDU als
       linksextremistischer Gewalttäter und Steinewerfer, der nannte die
       hessischen Schwarzen konsequent „Stahlhelmfraktion“. Den ersten grünen
       Justizminister, Rupert von Plottnitz, empfanden CDU und FDP als Zumutung
       für den Rechtsstaat, der CDU-Abgeordnete Boris Rhein erklärte ihn noch
       lange nach dessen Ausscheiden aus dem Amt zum Sicherheitsrisiko. Auch die
       Landtagsdebatten dieser Zeit waren vergiftet.
       
       1999 kam CDU-Shootingstar Roland Koch mit einer umstrittenen
       Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft an die Macht.
       Selbst sein liberaler Koalitionspartner hatte diese als rassistisch
       kritisiert. „Wo kann man hier gegen die Ausländer unterschreiben?“, fragte
       an den CDU-Wahlkampfständen der mobilisierte Mob in Hessen.
       
       Tarek Al-Wazir erlebte die unterirdische Kampagne als junger
       Landtagsabgeordneter. Im Spiel mit dem Namen seines jemenitischen Vaters,
       Mohamed, stichelten CDU-Abgeordnete gegen den streitbaren Kritiker der
       Koch’schen Spar- und Privatisierungsorgie jener Jahre. „Geh doch zurück
       nach Sanaa!“, rief CDU-Rechtsaußen Clemens Reif im Landtag dazwischen. Er
       habe lediglich „Der Student aus Sanaa!“ gesagt, gab Reif später zu
       Protokoll. Man sei schließlich „nicht in einem Mädchenpensionat“, mussten
       Kritiker der rauen Sitten sich sagen lassen. Es ging hoch her im Hohen
       Haus.
       
       2003 gewann Koch die absolute Landtagsmehrheit, obwohl er seinen
       „Kampfverband“ mit Millionen aus schwarzen Kassen aufgerüstet hatte,
       getarnt als „jüdische Vermächtnisse“. Der Ministerpräsident hatte zugeben
       müssen, Öffentlichkeit und Parlament über seine Rolle bei der Tarnung der
       Gelder getäuscht zu haben. Das Wahlprüfungsgericht erkannte einen „schweren
       Wahlfehler“ und ordnete Neuwahlen an, das Bundesverfassungsgericht
       kassierte diese Entscheidung. Kochs Koalitionspartner FDP brachte die Krise
       an den Rand einer Spaltung. Diese turbulenten Zeiten waren von
       gegenseitigen Anwürfen, persönlichen Verletzungen und menschlichen
       Enttäuschungen geprägt.
       
       ## Geborene Dill
       
       2008 zündelte Koch erneut: „Ypsilanti und Al-Wazir und die Kommunisten
       stoppen“, warnte die CDU auf Plakaten vor Rot-Rot-Grün. Die
       SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti, geborene Dill, und der grüne
       Spitzenkandidat Al-Wazir, der nach dem Geburtsnamen seiner Mutter Gerhilde
       auch Knirsch hätte heißen können, erkannten darin eine rassistische
       Kampagne. Koch habe bewusst Ressentiments bedient, argumentierte Al-Wazir.
       Nach der Wahl verweigert der Grüne dem Ministerpräsidenten den Handschlag.
       
       Der Versuch von SPD und Grünen, mit den Stimmen der Linken die
       SPD-Vorsitzende Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin zu wählen,
       scheiterte im November 2008 unter spektakulären Umständen. Drei
       SPD-Abgeordnete hatten zuvor in internen Probeläufen dem Koalitionsvertrag
       und der Ministerpräsidentin ihre Stimme gegeben. Am Tag vor der geplanten
       Wahl Ypsilantis schlossen sie sich der SPD-Abgeordneten Dagmar Metzger an,
       die sich von Anfang an an das Wahlversprechen der SPD-Frontfrau Ypsilanti
       gebunden fühlte, auf keinen Fall mit den Linken zusammenzuarbeiten.
       
       Bei den dreien mit den späten Gewissensbissen hatten eher enttäuschte
       Karriereerwartungen den Ausschlag gegeben. Für die meisten kam ihr Schritt
       überraschend, Ministerpräsident Koch wusste wohl früher Bescheid. Seine
       damalige Partei- und Fraktionssprecherin Esther Petry war nämlich in den
       kritischen Wochen mit Ypsilantis innerparteilichem Rivalen Jürgen Walter
       liiert, der als Anführer der Dreiergruppe Ypsilantis Sturz inszeniert
       hatte. Koch sorgte für Neuwahlen.
       
       2009 siegte er, Grüne und vor allem die SPD stürzten ab. Auf Ypsilantis
       Kabinettsliste hatten damals Nancy Faeser als Justizministerin und der
       [1][Grüne Tarek Al-Wazir] als Vize und Umweltminister gestanden. Die
       designierten MinisterInnen überlebten in der Opposition. Roland Koch blieb
       nur mittelfristig im Amt. Vor der nächsten Landtagswahl gab er das
       Ministerpräsidentenamt an seinen Parteivize und Innenminister Volker
       Bouffier ab. Boris Rhein, bis dahin Bouffiers Staatssekretär, rückte zum
       Innenminister auf. Seitdem kreisen die drei also umeinander, in
       unterschiedlichen Rollen und Lagern. Die dramatischen Ereignisse um
       Ypsilanti wirken bis heute nach, doch leiteten sie zugleich eine Wende ein.
       
       ## Neuwahlen
       
       Nach Überzeugung Al-Wazirs war es die „Ausschließeritis“, die zu den
       „hessischen Verhältnissen“ geführt hatte. Vor der Wahl 2008 hatten CDU und
       SPD eine Große Koalition ausgeschlossen; die FDP hatte geschworen, als
       Koalitionspartner ausschließlich für die CDU zur Verfügung zu stehen. Die
       SPD hatte versprochen, sich nicht von den Epigonen der SED tolerieren zu
       lassen, mit Kochs CDU wollten die Grünen um keinen Preis der Welt
       zusammenarbeiten. Die WählerInnen hatten indes mit ihren Stimmzetteln für
       Mehrheitsverhältnisse gesorgt, die nicht zu den Versprechen passten. Die
       „Ausschließeritis“ konnte 2008 nur durch Wortbruch beendet werden. Am Ende
       standen Neuwahlen.
       
       Das Krankheitsbild verschwand 2013 endgültig, als Kochs Nachfolger Volker
       Bouffier mit Al-Wazir die erste schwarz-grüne Koalition in einem
       Flächenland aushandelte. „Stellen wir uns alle mal vor, der andere könnte
       recht haben“, lautete Bouffiers Leitsatz, der in Hessen tendenziell bis
       heute gilt. Lediglich mit der AfD will niemand kooperieren.
       
       [2][Und so streiten die drei zum Auftakt der Wahlwoche eine Stunde lang]
       über den Mangel an bezahlbaren Wohnungen, fehlende Lehrer- und
       ErzieherInnen, die von Gerichten festgestellte Unterbezahlung hessischer
       BeamtInnen, über die Energier- und Verkehrswende sowie über Klimaschutz.
       Sie lassen sich gegenseitig zu Wort kommen, jedenfalls meistens. Nur zwei
       Mal wird es persönlich.
       
       ## Quatsch
       
       Faeser und Al Wazir fordern von Boris Rhein einen klaren Satz zum
       Merz-Geschwurbel über Asylbewerber, die angeblich deutschen Patienten die
       Zahnarzttermine wegnehmen. „Das ist eine Wortwahl, die hätten Sie von mir
       nicht gehört“, mehr Distanzierung ist vom CDU-Landeschef auch auf Nachfrage
       nicht zu haben. „Boris, man kann auch mal ‚Quatsch‘ sagen, wenn einer
       Quatsch sagt“, zeigt sich der grüne Koalitionspartner unzufrieden. Auch
       Faeser und die SPD bekommen ihr Fett weg. Die SPD hatte ein Horrorvideo
       online gestellt, das vor einer vermeintlich drohenden „schwarz-braunen
       Kooperation“ warnen sollte.
       
       [3][Im hessischen Wetzlar] hatten sich der langjährige CDU-Landtags- und
       Bundestagsabgeordnete Hans-Jürgen Irmer und der ehemalige
       Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen mit AfD-PolitikerInnen getroffen.
       Das SPD-Video zeigte in diesem Zusammenhang Fotos der neuen Freunde mit
       denen des CDU-Landeschefs und Ministerpräsidenten, im Spot waren auch
       Bilder von SA-Truppen mit Hitlergruß zu sehen. „Ein ganz schlimmes Video,
       ehrabschneidend, nach Machart der AfD“, beschwert sich Boris Rhein.
       Koalitionspartner Al-Wazir schimpft über ein „schmutziges Stück
       Propaganda“. Das Video war nur kurz online, SPD-Landeschefin Faeser hatte
       es noch am gleichen Tag löschen lassen. „Das ist nicht mein Stil, das tut
       mir leid“, bekennt sie im hr-Fernsehen.
       
       Sie besteht gleichwohl auf einer Stellungnahme Rheins zum CDU-AfD-Treffen
       im hessischen Wetzlar. „Diese Partei ist mit unseren Werten nicht
       vereinbar“, sagt Rhein über die AfD, das Treffen in Wetzlar sei für ihn
       „völlig unakzeptabel“, stellt der CDU-Landeschef fest und fügt hinzu: „Ich
       verstehe auch nicht, was da miteinander zu besprechen war.“
       
       In der hr-Pinte neben dem Fernsehstudio, wo die Journalisten das Triell
       auf einem Bildschirm verfolgt haben, ziehen die drei KandidatInnen
       anschließend Bilanz. „Es muss auch mal zur Sache gehen“, sagt
       Ministerpräsident Rhein. Und Bundesinnenministerin Faeser findet: „Wir
       sind im Umgang nicht so schlimm wie in Berlin.“ Sie hätten in den vielen
       gemeinsamen Jahren Vertrauensverhältnisse aufgebaut, auf die sie in den
       Sondierungen nach der Wahl zurückgreifen könnten, versichern die drei der
       taz; ihre geheimen Handynummern haben sie schon vor Jahren geteilt.
       
       6 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Gruener-Al-Wazir-ueber-Hessen/!5959569
 (DIR) [2] https://www.hessenschau.de/politik/das-hr-triell-in-voller-laenge-hessen-waehlt---dreikampf-um-die-staatskanzlei,video-188436.html
 (DIR) [3] https://mediathek.vrm.de/videos/1711768-kritischer-empfang-fuer-hans-georg-maassen-in-wetzlar
       
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