# taz.de -- Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn: Säure aufs Fundament der Moderne
       
       > Kunst der Postmoderne wirkt wie aus einer fremden Ära. Die Ausstellung
       > „Alles auf einmal“ aber zeigt: Ihre gesellschaftlichen Anliegen sind
       > aktuell.
       
 (IMG) Bild: Auch im Bett der Postmoderne gibt es viele Kämpfe: Masanori Umeda, Tawaraya-Ring von 1981
       
       Kein Jubiläum, auch kein Revival in Sicht, warum also heute eine
       Ausstellung zur Postmoderne? Anregend, vielleicht einsichtsreich mag der
       jetzige Zeitpunkt dafür sein, wo er den einen Erinnerung, den anderen
       Einblick in eine längst befremdlich gewordene Ästhetik bedeutet. Aber
       verdient die Postmoderne überhaupt den Begriff der Epoche, war sie nicht
       eher eine Mode?
       
       Derart schlecht beleumundet, erstaunt, wie einflussreich die Postmoderne
       für die Kunst war. Die so unmittelbaren wie zitatreichen Arbeiten der
       amerikanischen [1][Pictures Generation, etwa von Cindy Sherman oder Robert
       Longo], die Adaption der Graffitikunst bei [2][Jean-Michel Basquiat oder
       Keith Haring], auch die undogmatische Produktivität von Gerhard Richter
       oder Rosemarie Trockel generierten einen bis heute andauernden Boom.
       
       Und doch ist es richtig, wenn die Kuratoren von [3][„Alles auf einmal: Die
       Postmoderne, 1967 – 1992“], Eva Kraus und Kolja Reichert, der Galeriekunst
       eher wenig Platz einräumen und die Ausstellung in der Bonner Kunsthalle mit
       einer Projektionswand für Musikvideos beginnen lassen.
       
       In der Postmoderne war es nicht mehr zu verleugnen: Die technisch
       reproduzierbare, elektrifizierte Musik sowie der Film durchdrangen nahezu
       alle Bereiche der Kultur, sie schufen Realität.
       
       ## Überquellendes Phantasma
       
       So betritt man auch durch die Leinwand hindurch den zentralen
       Ausstellungsraum. Umgehend wähnt man sich in einem überquellenden
       Phantasma. Ästhetische Konzepte aus Pastelltönen wetteifern mit solchen in
       Primärfarben, derweil setzt farbiges Neonlicht Akzente. Wände mit
       großformatigen Fotografien und als überdimensionierter Buchumschlag
       getarnte Hörkabinen verstellen die Sicht auf exzentrisch gestaltete Möbel.
       
       Hier locken Architekturmodelle augenfälliger Bauten, in denen antike
       Säulenportale aus modernen Grundformen wuchern, dort verblüfft ein
       keilförmig-futuristisches Auto auf einer gemalten Straße, und an Pfeilern
       finden sich in Überkopfhöhe montierte Modefotografien, deren coole Models
       sich vom Betrachter abwenden. Tatsächlich, alles auf einmal!
       
       Ist es das Abbild jener Ära, was bedingt dann dieses Chaos? Beim Anblick
       der ersten Werke scheint es, als geriete die Moderne höchstens ein bisschen
       ins Wanken. Eine vier Meter hohe vergoldete und für die Ausstellung
       nachgebildete TV-Antenne, die Architekt Robert Venturi 1963 auf dem Dach
       eines Altenheims in Philadelphia platzierte, was soll sie bieten,
       verglichen mit dem Ausloten aller formalen Grenzen in der Moderne? Ihr
       Regelbruch war nicht allein die Kenntlichmachung des Massenmediums
       Fernsehen, es war das Überdimensionierte, das Schmückende.
       
       Im Jahr darauf fragen Elaine Sturtevants Kunstwerke nach dem Authentischen,
       sind sie doch exakte Kopien von Warhols und Lichtensteins Pop-Art, das
       Simulacrum bemächtigt sich der Kunst. Zeitgleich, 1964, erhält Martin
       Luther King den Nobelpreis.
       
       ## Neue Phase der Identitätspolitik
       
       Unterdrückte Gruppen weltweit sind nicht mehr bereit abzuwarten, bis die
       paternale Moderne ihre Versprechen einlöst. Eine neue Phase der
       Identitätspolitik bricht an, geprägt durch theoretische Texte von Michel
       Foucault oder [4][bell hooks]. Erstmals massiv erklingen auch Fragen nach
       dem Raubbau des Industriezeitalters an der Natur. Säure auf das Fundament
       der Moderne.
       
       Bald boomt dekonstruktivistische oder ornamentverliebte Architektur. Auf
       Fotos, Zeichnungen oder Modellen sind Hans Holleins „Verkehrsbüro“ mit
       goldenen Palmen und Pavillon zu sehen, Ricardo Bofills Wohnungsbaukoloss
       „Espaces d’Abraxas“, ein „Versailles für das Volk“ in einer Pariser
       Banlieue mit labyrinthischen Gängen und Formenzitaten aller Bauepochen oder
       James Wines Zweckbauten, deren Fassade sich briefmarkengleich abzulösen
       scheint. Sie bilden das Rückgrat der Ausstellung, die Gebäude und der Traum
       von ihnen.
       
       Letzterer führt zu phantastischen Skizzen des italienischen Designers
       Ettore Sottsass. In „The Planet as a Festival“ imaginiert er die
       Architektur für eine ewige Party.
       
       Doch der Stein des Anstoßes, den Sottsass, Alessandro Mendini und andere
       Designer der Gruppen Alchimia und Memphis legten, manifestierte sich in
       kleineren Objekten: ein Rokokosessel in Neonfarben, eine Tischleuchte
       gleich einem kubistisch abstrahierten Vogel. Nichts repräsentiert die
       Postmoderne in all ihrem Potenzial so wie das italienische Design der 70er
       und 80er. Dies wird in Bonn gut dokumentiert. Dennoch bleibt Italiens
       Bedeutung unterrepräsentiert.
       
       ## Lagerfeld und Westwood
       
       Heute von der aktuellen Kultur vergessen, erfanden dort Künstler neue
       figurative Malerei, Comics, Literatur und Mode. Leider wird die von Walter
       Albini in den 70ern inszenierte Rückkehr der italienischen Couture und der
       weltweit prägende Paninaro Streetstyle bei der Auswahl der gezeigten
       Kleider nur gestreift. Zu sehen ist dafür der Boom japanischer Avantgarde
       sowie die aufregenden Innovationen Lagerfelds und Westwoods. Ja, bei allem
       Umfang bleibt es eine Ausstellung der Spotlichter.
       
       Der Club als Ort der Freiheit erhält einen Raum, an seinen Wänden Fotos vom
       New Yorker „Studio 54“, dem „Palladium“ und dem Londoner „Blitz“, Ort der
       exzentrischen „New Romantics“. Hier erlebt die Postmoderne heute ihre
       massivste Ablehnung (und im Stillen ihre Verführungskraft): in der Idee
       dekadent gekleideter Menschen, die das Leben feiern und sich mit Objekten
       umgeben, die ihre Funktionalität verleugnen.
       
       Wer diese Menschen waren? Oft Arbeitslose, Übriggebliebene einer
       niedergegangenen britischen Industrie. Die auf einem der Fotos zu sehende
       Londoner Band Spandau Ballet formulierte es so: „Wenn du keinen Stammbaum
       hast, dann hast du das, worin du erscheinst: Du hast deine Kleidung.“
       
       In der Ausstellung kontrastieren einander politischer Aufbruch und
       Ernüchterung über die Versprechungen an eine soziale Welt. Man findet die
       Suche nach Teilhabe wie zugleich die Verweigerung, den zugedachten,
       soziokulturellen Klischees zu entsprechen, ja überhaupt benennbar zu sein.
       Nichts ist festlegbar, Subjekt wie auch Objekt entsagen im spielerischen
       Ornament der Fremdbestimmung.
       
       ## Stilidee des „Hyper-Manierismus“
       
       Kann das als Epoche gelten? – Die postmoderne Malerei Italiens spielte um
       1985 mit der Stilidee des „Hyper-Manierismus“. Und auch die Theorie
       versuchte sich an jener drastischen Kunst des Manierismus, die auf die
       Hochrenaissance folgte und deren Gesetzen der Klassik widersprach. Geradezu
       aufgebracht fragte 1995 der Buchtitel des Kunsthistorikers Stefan Grundmann
       „Moderne, Postmoderne – und nun Barock?“ Der von ihm allein stilistisch
       analysierte Manierismus bleibt bis heute rätselhaft.
       
       Wie kam es um 1520 zu den überstreckten Gliedmaßen in den Bildern
       Parmigianinos und den artifiziellen Farben bei Domenico Beccafumi? Einige
       deuten diese Kunst als strukturelle Konsequenz aus der Perfektion
       Michelangelos. Ein Endpunkt war erreicht, es bedurfte, allein aus
       ökonomischer Perspektive, neuer Stile – so auch in den 1960ern?
       
       Andere verweisen auf den Schock der Reformation, auf die Plünderung Roms
       durch Söldner Kaiser Karls V. anno 1527 und sehen im gespreizten Schick des
       Manierismus ein Echo auf das Ende ewig gültig geglaubter Überzeugungen.
       Wieder andere wie Gustav René Hocke erkennen in seinem artifiziellen und
       labyrinthischen Zweifel das moderne Ich.
       
       ## Perspektiven, Dekonstruktionen, Antithesen
       
       Vielleicht war es all das. Die Postmoderne, sich Ideal und Konsens
       verweigernd, gab der Moderne in einem Crescendo aus neuen Perspektiven,
       Dekonstruktionen, Antithesen und den Forderungen des Ich nach persönlicher
       Freiheit einen Abschluss.
       
       Ob die Postmoderne auf Katastrophen reagierte? – Der aus der Typografie von
       Robert Indianas berühmten „LOVE“-Logo geformte [5][„AIDS“-Schriftzug der
       Künstlergruppe General Idea] füllt die letzten Ausstellungswände. Man wird
       wieder jener beklemmenden Zeit gewahr, in der die Diagnose einer
       HIV-Infekion ein Todesurteil bedeutete. Ihre Erinnerung verliert sich –
       derweil zur Musik jener Tage immer noch getanzt wird. Die kulturelle
       Ideenflut ebbte bereits in den 90ern ab.
       
       Heute wirken Objekte der Postmoderne wie aus einer fremden, exaltierten
       Zeit. Ihre gesellschaftstheoretischen Anliegen beschäftigen uns aber mehr
       denn je. Ist sie also gar nicht vorbei? Gegen Ende der Ausstellung tauchen
       die Musikvideos wieder auf. Für seinen Clip zu New Orders „Bizarre Love
       Triangle“ greift Robert Longo 1987 seine Zeichnungen von wie erschossen
       fallenden Businessanzugträgern auf. Hier nun stürzen sie durch die Luft.
       
       Wann endete die Postmoderne? Vielleicht seit Longos Motiv von den
       stürzenden Anzugträgern nicht mehr nur antikapitalistische Plattitüde ist,
       sondern auch das Entsetzen der Bilder vom 11. September 2001 wachruft, als
       Menschen von den New Yorker Twin Towers springen mussten.
       
       Stefan Grundmanns Befürchtung traf vielleicht ein, nun sind wir im Barock,
       mit seinen Kriegen, Verwerfungen und seinem Ringen um ein neues
       Miteinander.
       
       9 Oct 2023
       
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