# taz.de -- Nachwahlen in Schottland am Donnerstag: Bewährungsprobe für Labour
       
       > Labour muss in Schottland Fuß fassen, um Großbritanniens nächste Wahlen
       > zu gewinnen. In zwei Wahlkreisen kommt der Test gegen die SNP.
       
 (IMG) Bild: Zuversichtlich: Labour-Kandidat Michael Shanks vor seinen Wahlkämpfer*innen
       
       BLANTYRE taz | Vor der alten Friedhofsmauer an der Straßenkreuzung steht
       ein riesiger schwarzer Steinbrocken auf einem Podest. Das Denkmal im
       schottischen Städtchen Blantyre soll an über 200 Männer und Jungen
       erinnern, die hier am 22. Oktober 1877 bei einer Explosion in einem
       Kohlebergwerk ums Leben kamen. [1][Blantyre] südöstlich von Glasgow war
       lange eine Bergbaustadt. Joseph McDade, 74, lebt um die Ecke vom Denkmal in
       einer Seitenstraße, er ist hier geboren und aufgewachsen. „Der Vater meines
       Vaters war Bergarbeiter, genauso wie dessen Vater“, erzählt er.
       
       Charakterlose Reihenhäuser aus der Nachkriegszeit ziehen sich den Hügel
       hinunter, bis zum modernen Mega-Supermarkt mit großem Parkplatz. Das alte
       Gemeindezentrum mit Pub am Rand war einst der Sozialverein der Bergleute.
       Robert Hartley, 82, trinkt hier sein Guinness. Auch seine Vorfahren waren
       Bergleute, erzählt er. Die letzte Grube schloss hier in den 1960er Jahren.
       Die Armut blieb.
       
       In diesen Tagen entscheidet sich in Blantyre womöglich Großbritanniens
       politische Zukunft. Es ist der zentrale Ort des Wahlkreises [2][Rutherglen
       & Hamilton West], wo am Donnerstag neu gewählt wird.
       
       Wenn Labour hier die SNP (Scottish National Party) schlägt, wäre das ein
       Zeichen für die britischen Wahlen nächstes Jahr: Labour braucht schottische
       Zugewinne auf Kosten der SNP, um im britischen Parlament Aussichten auf
       eine eigene Mehrheit zu haben. Der Sieg hier sei Labours Weg zurück an die
       Macht, sagte Labour-Chef Keir Starmer bei einer Veranstaltung im Wahlkreis.
       
       ## Mandatsentzug per Volksentscheid
       
       Die SNP geht mit schlechten Karten in die Nachwahl. Ihre bisherige
       Wahlkreisabgeordnete [3][Margaret Ferrier] verlor ihr Mandat mit Schimpf
       und Schande. Im September 2020 ging sie während eines Coronalockdowns, als
       sie selbst mit Covid infiziert war und das auch wusste, zuerst ins
       Fitnessstudio und hielt dann Reden, erst in einer Kirche und dann im
       britischen Unterhaus in London und fuhr mit der Bahn nach Hause.
       
       Als das bekannt wurde, schloss die SNP sie aus der Fraktion aus, dann wurde
       sie strafrechtlich schuldig gesprochen und im März 2023 aus dem Unterhaus
       suspendiert. Sie trat immer noch nicht freiwillig zurück, aber ein
       Volksbegehren erzwang ihren Mandatsentzug. So gibt es nun Neuwahlen – in
       einem alten Labour-Wahlkreis, der 2015 an die SNP fiel, 2017 zurück an
       Labour und 2019 wieder an die SNP.
       
       [4][Michael Shanks], ein junger rothaariger Mann mit Vollbart und Brille,
       soll Rutherglen & Hamilton West für Labour zurückholen. Er lebt vor Ort
       und arbeitet mit von Armut betroffenen Menschen und Menschen mit
       Behinderungen. Vor vier Jahren verließ er Labour unter Corbyn wegen Brexit
       und trat der Partei erst wieder unter Starmer bei.
       
       Alte Bergleute wie Joseph McDade und Robert Hartley muss Shanks gar nicht
       groß überzeugen. Die Stimme für Labour sei das, was sie mit ihren Vorfahren
       verbinden würde, sagen die beiden unabhängig voneinander. Doch immer wieder
       stößt die taz auch auf Menschen, die auf die Frage nach ihrer Wahlpräferenz
       Antworten geben wie: „Wozu? Die Politiker sind alle gleich. Sie tun nicht,
       was sie versprechen.“ Oder sie suchen gleich das Weite.
       
       In [5][Cambuslang], einer stark verarmten Kleinstadt, erzählt die
       22-jährige Pflegerin Alison vor den Läden eines Betonkomplexes aus den
       1970er Jahren, dass sie zuletzt die SNP unterstützte, jetzt aber wieder
       Labour wählen möchte. „Die SNP behauptet viel und quatscht von
       Unabhängigkeit, aber ich glaube inzwischen, dass wir unabhängig nicht
       überleben könnten.“ Sie wünsche sich Politiker, die den Ärmeren zur Seite
       stehen.
       
       ## Unabhängiges Schottland
       
       Plötzlich mischt sich eine ältere Frau mit stark rot gefärbten Haaren
       unaufgefordert ins Gespräch ein. „Ich habe gehört, dass Sie glauben, wir
       Schotten könnten es nicht als unabhängiges Land schaffen. Das ist
       vollkommener Mist, den Sie da erzählen!“, schimpft sie. Als Alison auf
       Drängen der rothaarigen Frau zugibt, dass sie nichts gegen die
       Königsfamilie habe, regnet es nur noch Worte, bis die mutmaßliche
       SNP-Unterstützerin angegiftet abdreht.
       
       Eine weitere Meinungsverschiedenheit, allerdings in zivilisierterer Form,
       erlebt die taz zwischen Karen Bould, 58 und Tochter Shannon Bould, 31. Auf
       einem riesigen Parkplatz umrandet von gigantisch großen Supermärkten und
       Geschäften in Hamilton West erzählt Karen, dass sie für Schottlands
       Unabhängigkeit sei und deswegen eigentlich immer SNP wähle. Doch Tochter
       Shannon will lieber grün wählen. „Nach Brexit, der Pandemie und dem
       Finanzcrash können wir so was wie die Unabhängigkeit Schottlands nicht
       verkraften“, sagt sie. Sie glaubt, man müsse sich auf anderes
       konzentrieren, etwa das ächzende Gesundheitssystem und mangelhafte
       Bahnverbindungen.
       
       Der ehemalige Taxifahrer Alex McPhee, 69, findet, dass die
       SNP-Regionalregierung Schottlands Bildungs- und Gesundheitssystem
       heruntergewirtschaftet hat. „Wir hatten mal eines der besten
       Bildungssysteme der Welt, heute liegen wir viel weiter unten.“ Solche
       Probleme gestehe die SNP nicht ein, sondern zeige immer nur als Ausrede auf
       die britische Regierung. McPhee wird Labour wählen.
       
       Die SNP steht lädiert da, nach einem Finanzskandal, einem Machtkampf um die
       Nachfolge Nicola Sturgeons als schottische Ministerpräsidentin und einer
       schlechten Bilanz in zahlreichen Regierungsfeldern. Erst vergangene Woche
       musste der neue [6][Partei- und Regierungschef Humza Yousaf] mit ansehen,
       wie seine Vorgängerin Sturgeon sich zusammen mit gegen die schottische
       Regierung streikendem Schulpersonal fotografieren ließ.
       
       Für SNP-Anhänger ist das alles nicht so wichtig. Die verrentete Beamte
       Moira McDonald hat schon per Briefwahl SNP gewählt. Zu den Problemen sagt
       sie: „Die SNP ist jetzt halt so wie alle anderen Parteien.“ Was zähle, sei
       Unabhängigkeit. Sie glaubt, dass die Medien viel Wind machten und die Leute
       vergessen würden, was man alles in Schottland habe, das es in England nicht
       gebe: kostenlose Medikamente, Sehtests und Zahnuntersuchungen,
       gebührenfreie Studienmöglichkeiten, kostenlose Busfahrten für Jugendliche.
       
       Die [7][SNP-Wahlkreiskandidatin Katy Loudon], Bezirksabgeordnete und
       Grundschullehrerin, wirkt im Auftreten selbstsicher und erinnert etwas an
       Nicola Sturgeon. Es gehe alles gut, sagt sie der taz zuversichtlich am Ende
       eines Wahlkampftages. „Die Leute sprechen mit mir über die gestiegenen
       Lebenshaltungskosten, die Politik der Tories und ihren harten Brexit und
       den Wirtschaftsabsturz unter Liz Truss, von dem sich das Land nach einem
       Jahr immer noch nicht erholt hat.“ Was dagegen getan werden kann?
       „Unabhängigkeit!“ Großbritannien sei „ein zerbrochenes System“. Über die
       SNP will sie nicht sprechen. Sie setzt auf ihre Bilanz als
       Bezirksabgeordnete. „Ich habe mich für Mahlzeiten für arme Kinder in den
       Schulen und in den Ferien eingesetzt, worauf ich stolz bin.“
       
       Doch es gibt bei ihrem Wahlkampf Hinweise, dass vielleicht nicht alles ganz
       so rosig ist. So setzt die SNP bezahlte Flugblattverteiler:innen ein,
       angeblich mit Arbeitsverträgen einer Art, die die Partei offiziell
       abschaffen will. Hat die SNP etwa nicht mehr genug Freiwillige? Labour
       hingegen hat nach eigenen Angaben 1.200 Freiwillige aufzubieten, die, wie
       es heißt, an 80.000 Türen klopfen, an manche sogar mehrmals.
       
       ## Hauptsache nicht die Tories
       
       Öffnen sich die Türen für Labour auch in Burnside in Rutherglen? Hier
       stehen alte stolze Villen aus der Zeit, in der Rutherglen sehr wohlhabend
       war, im Cafés muss zum Verzehr von schicken Avocadobrötchen mit Frappucino
       der Tisch reserviert werden. Es ist der einzige Ort, wo bei den
       Regionalwahlen die Liberaldemokraten punkten konnten.
       
       An der Türschwelle einer alten Villa mit Vorgarten und teurem Auto spricht
       ein Bewohner mit der taz, unter der Bedingung, dass er anonym bleiben darf.
       Er sei in Blantyre in Armut aufgewachsen, aber mit seiner
       Kommunikationsfirma aufgestiegen. In England wäre so jemand vielleicht ein
       konservativer Stammwähler. Hier, sagt er, sei es Familientradition, niemals
       die Tories zu wählen. „Ich habe in der Vergangenheit teilweise SNP
       gewählt“, sagt er.
       
       Doch jetzt habe sich die SNP selbst aufgegeben. Labour wirke einfach
       glaubwürdiger. „Alle wissen, dass wir die Tories nur dann loswerden können,
       wenn Labour in Schottland wieder gewinnen kann“, sagt er. Es sei eine Frage
       der Priorität. Ein Ende der Tory-Regierung sei wichtiger, da müsse die
       Unabhängigkeit erstmal warten.
       
       Gibt es überhaupt [8][Konservative] hier? 2019 holten sie immerhin 15
       Prozent. Die taz wird auf dem Gelände eines Bowlingklubs in Rutherglen
       fündig. Eine kleine Gruppe von sechs Spielern, alle über 70 Jahre alt,
       outet sich als konservative Wähler. Das liege an ihrem Militärhintergrund.
       „Unser Land muss zusammenbleiben und seine Kräfte vereinen“, mahnt Tom, der
       einst in Berlin-Spandau den Nazi-Gefangenen Rudolf Heß bewachte. Er
       verweist auf die britischen Atom-U-Boote im schottischen Faslane nicht weit
       von Glasgow. „Wir haben zur Nachwahl bereits eine Strategie“, verrät Tom,
       als handele es sich um ein Kriegsgeheimnis. „Wir werden unsere Stimmen
       Labour schenken, um so die SNP loszuwerden.“
       
       4 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://blantyreproject.com/about-blantyre/
 (DIR) [2] https://en.wikipedia.org/wiki/Rutherglen_and_Hamilton_West_(UK_Parliament_constituency)
 (DIR) [3] https://en.wikipedia.org/wiki/Margaret_Ferrier
 (DIR) [4] https://michaelshankslabour.scot/
 (DIR) [5] https://en.wikipedia.org/wiki/Cambuslang
 (DIR) [6] /Neuer-Chef-von-schottischer-Regierungspartei/!5924346
 (DIR) [7] https://twitter.com/KatyLoudonSNP
 (DIR) [8] https://www.glasgowconservatives.org.uk/news/rutherglen-and-hamilton-west-launch
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
       
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