# taz.de -- Ex-Präsident von Georgien über sein Land: „Niedergang staatlicher Institutionen“
       
       > Giorgi Margwelaschwili kritisiert, dass die heutige Regierung sich an
       > Russland orientiert. Deutschland sehe das nicht, und ein EU-Beitritt sei
       > so noch in weiter Ferne.
       
 (IMG) Bild: Gegen Russland: Graffiti in Tbilissi zeigen Ukraine-Solidarität und den Soldaten Giorgi Antsukhelidze, der 2008 im Kaukasus-Krieg umkam
       
       wochentaz: Wie möchten Sie angesprochen werden? 
       
       Giorgi Margwelaschwili: Herr Präsident, Herr Margwelaschwili, Herr
       Professor – suchen Sie sich aus, was Ihnen am besten gefällt.
       
       Alles klar. Herr Margwelaschwili, die Regierungspartei [1][Georgischer
       Traum] driftet mehr und mehr in Richtung Russland ab. Wie ist das zu
       erklären? 
       
       Zunächst möchte ich an eines erinnern: Als 2013 ein demokratischer
       Machtwechsel stattfand, waren diejenigen, die sich in der Opposition um den
       Georgischen Traum zusammengefunden hatten, prowestlich orientiert. Unser
       Problem war damals nicht der geopolitische Kurs, sondern die
       Menschenrechtslage unter dem damaligen Präsidenten Michail Saakaschwili.
       Mit den Jahren hat sich das komplett geändert. [2][Bidzina Iwanischwili]
       (Gründer des Georgischen Traums, gilt als heimlicher Strippenzieher, Anm.
       d. Red.) hat Leute in die Partei gebracht, die das Land stramm in Richtung
       Russland führen. Das ist einmal mehr nach dem Beginn von Russlands Krieg
       gegen die Ukraine deutlich geworden. Warum das passiert ist, ist schwer zu
       sagen.
       
       Sie wurden 2013 zum Präsidenten gewählt, unterstützt vom Georgischen Traum.
       Erfreulich war die Zusammenarbeit dann nicht. Wieso? 
       
       Iwanischwili meinte mir diktieren zu können, wie ich zu agieren habe. Da
       war ich anderer Meinung. Nach zwei Monaten war unsere Kommunikation
       beendet.
       
       Wie würden Sie die heutige Situation in Georgien beschreiben? 
       
       Ein Niedergang der staatlichen Institutionen. Probleme mit den
       Menschenrechten, den Medien. Dazu kommt Korruption. Das ist das russische
       Modell politischer Führung, das Wladimir Putin seit dem Jahr 2000
       entwickelt hat. Dieses Modell läuft dem historischen Willen des georgischen
       Volkes zuwider.
       
       Ein riesiger Rückschritt also? 
       
       Eine Katastrophe.
       
       Sie haben Michail Saakaschwili bereits erwähnt. Er sitzt seit 2021 in Haft.
       Wie blicken Sie auf den Fall? 
       
       Seit dem ersten Tag war ich immer in Opposition zu Saakaschwili. Aber ich
       habe ihn in der Haft besucht und sammle Unterschriften, damit er auf freien
       Fuß kommt, [3][aus gesundheitlichen Gründen]. Irgendwie ist das eine
       Tragödie. Aber blicken wir noch einmal zurück: Wir haben unseren ersten
       Präsidenten Swiad Gamsachurdia getötet. Sein Nachfolger, Eduard
       Schewardnadse, war Ziel mehrerer Anschläge. Den dritten Präsidenten bringen
       wir langsam um, auch durch Folter. Und das wird dann auch noch auf Video
       aufgenommen. An all diesen Szenarien war Russland beteiligt. Der Fall
       Saakaschwili, wie der Gamsachurdias, hat die Nation gespalten. Auch das ist
       katastrophal.
       
       Sie zeichnen ein düsteres Bild. Aber es gibt auch Positives. Proteste haben
       dieses Jahr verhindert, dass ein geplantes Gesetz über „ausländische
       Agenten“ in Kraft trat.
       
       Sicher, das ist ein kleiner Sieg. Aber angesichts des russischen Kurses der
       Regierung bedeutet er nicht viel.
       
       Dennoch gibt es Zivilgesellschaft und Opposition. Wie sollten die vorgehen? 
       
       Totale Gegenwehr, und das auf jede erdenkliche Art und Weise.
       Protestkundgebungen, Auszug der Parteien aus dem Parlament und keinerlei
       Zusammenarbeit mit der Regierung. Da, wo es um eine Konfrontation mit einem
       autoritären Regime geht, müssen auch die Formen des Kampfes angemessen
       sein. Wer allen Ernstes meint, mit ein paar Änderungen am Wahlgesetz und
       einem schönen Programm für Gesundheitsversorgung und Landwirtschaft hier
       Wahlen gewinnen zu können, hängt einer Illusion an und hat die Zeichen der
       Zeit nicht verstanden. Er hat bereits verloren, weil er Teil des Spiels,
       Teil des Systems ist.
       
       Bis Jahresende will sich Brüssel dazu äußern, ob Georgien den
       EU-Kandidatenstatus erhält. Wie wird die Entscheidung ausfallen? 
       
       Ehrlich gesagt, ich verstehe die Kriterien der EU nicht. Wir sollen ein
       12-Punkte-Programm umsetzen, aber das ist meilenweit von der Realität der
       georgischen Politik entfernt. Wie bitte soll die Konfrontation entschärft
       werden, wenn es politische Gefangene gibt, Medien geschlossen und Politiker
       auf der Straße geschlagen werden? Das alles hat etwas Surreales. Was den
       Kandidatenstatus angeht, so weiß ich nicht, was kommt. Doch selbst, wenn
       man ihn hat, können 15, 16 Jahre vergehen und nichts passiert. Das heißt,
       es ändert sich de facto nichts.
       
       [4][Deutschland will Georgien zu einem sicheren Herkunftsland erklären].
       Was halten Sie davon? 
       
       Für Touristen ist Georgien sicher, nicht aber für diejenigen, die sich an
       politischen Prozessen beteiligen wollen. Aber es ist eben leichter, die
       Augen vor den Realitäten zu verschließen, so wie der Westen das in den
       vergangenen 20 Jahren erfolgreich im Falle Wladimir Putins getan hat. Ich
       fürchte, dass deutsche Diplomaten zu häufig Bidzina-Versteher sind.
       
       Seit dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine sind viele Russ*innen nach
       Georgien gekommen. Das stößt einem Großteil der Bevölkerung auf. Eine
       Gefahr? 
       
       Das alles ist eine Farce. Als ob junge Leute, beispielsweise IT-Experten,
       ein Problem für uns wären. Wir müssen sie aufnehmen. Diese Menschen
       versuchen, nicht zum Mörder zu werden. Jeder von ihnen hier ist einer
       weniger an der Front in der Ukraine. Wenn wir die Möglichkeit haben, sind
       wir moralisch verpflichtet, ihnen Zuflucht zu gewähren. Wer Georgien vor
       Russland schützen will, sollte lieber direkt zum Regierungsgebäude gehen.
       Alles andere ist Heuchelei.
       
       Wie wirkt sich der Krieg auf Georgien aus? 
       
       Spätestens seit Kriegsbeginn kann die georgische Regierung nicht mehr ihr
       Gesicht wahren. Gleichzeitig ist die Position der georgischen Gesellschaft
       eindeutig pro-ukrainisch. Hinzu kommt, dass die Ukraine den Krieg gewinnen
       wird und Russland schon jetzt beginnt, seine Satelliten zu verlieren. Das
       wird Georgien Probleme bereiten. Ein Blick nach Armenien genügt. Wir beide
       haben keine qualifizierten Partner.
       
       Sind Sie wirklich sicher, dass die Ukraine den Krieg gewinnt? 
       
       Sie hat ihn bereits gewonnen, das russische System hat nicht funktioniert.
       Das könnte sich auf Russland genauso auswirken, wie seinerzeit Afghanistan
       auf die Sowjetunion. Wie lange das alles jedoch noch dauert und wie viele
       Opfer zu beklagen sein werden, steht auf einem anderen Blatt.
       
       Es gibt eine gewisse Kriegsmüdigkeit. Fürchten Sie, dass die Unterstützung
       des Westens abnehmen könne? 
       
       Natürlich besteht diese Möglichkeit. Aber jede Regierung, die die Ukraine
       unterstützt, wird dafür verantwortlich sein, dass der Krieg mit einem Sieg
       für die Ukraine endet. Die Beteiligten werden aus der Nummer nicht
       herauskommen. Es gibt keine Exit-Strategie.
       
       Haben westlichen Politiker*innen Fehler gemacht? 
       
       In den vergangenen 30 Jahren wurden kolossale Fehler gemacht, vor allem in
       der Beziehung zu Moskau. Nun ja, es gab lukrative Gasangebote, den Start
       von Nord Stream, europäische Politiker, die Renten von Gazprom beziehen.
       Aber wo war deren Verantwortlichkeit, als in Moskau Politiker und
       Journalisten getötet wurden, sie aber Putin die Hand schüttelten und ihn
       weiter unterstützten? Diejenigen, die nach 2008 [5][(Jahr des
       Kaukasuskriegs Anm. d. R.)] in Georgien sagten, es sei noch unklar, wer den
       Krieg begonnen habe. Diejenigen, die nach der Besetzung der Krim und des
       Donbass immer noch mit Putin redeten. Und was ist das Ergebnis? Ein
       Atomstaat, der versucht, nukleare Spannungen zu erzeugen und einen Teil
       Europas zu besetzen. Wenn wir diese geopolitischen Realitäten anerkennen
       und ihnen keinen Einhalt gebieten, wird das so weiter gehen.
       
       In Deutschland bekommen Ex-Präsidenten einen Ehrensold. Kommen Sie über die
       Runden? 
       
       Gamsachurdia, aber auch Schewardnadze haben seinerzeit eine Residenz
       bekommen. Ich hingegen bekomme vom Staat keine Pension oder sonstigen
       Leistungen, kurz gesagt: Null.
       
       Wie das? 
       
       Bidzina Iwanischwili hat ein entsprechendes Gesetz extra so ändern lassen,
       dass ich leer ausgehe.
       
       Wovon leben Sie und Ihre Familie? 
       
       Ich habe hier ein kleines Ferienhaus gebaut, das ich an Touristen vermiete.
       Ich habe 60 Buchungen im Jahr. Ich habe hier Pferdetourismus entwickelt und
       zudem eine Professur an der Universität in Tbilissi. Das erlaubt mir, nicht
       zu verhungern. Auch frieren müssen meine Familie und ich nicht.
       
       Sie haben einen Sohn mit Behinderung und sind damit immer ganz offen
       umgegangen. Für ein post-sowjetisches Land keine Selbstverständlichkeit. 
       
       Für mich war das eine ganz natürliche Entscheidung. Und die Leute haben
       sehr positiv darauf reagiert, da kam viel Liebe und Wärme rüber. Mein Sohn
       Teimur ist jetzt acht und seit Kurzem in der ersten Klasse. Das ist eine
       öffentliche, wunderbare neue Schule, frisch renoviert. Dort gibt es
       ausgezeichnete Lehrkräfte und er hat einen zusätzlichen Lehrer, der ihm und
       anderen Kindern hilft, die Probleme mit der Eingewöhnung haben. Obwohl wir
       in einer kleinen Stadt leben, würde ich sagen: absolut europäischer
       Standard.
       
       Denken Sie über eine Rückkehr in die Politik nach? 
       
       Ich habe das lange versucht und mit allen Oppositionsparteien gesprochen.
       Dabei ging es um eine Vereinigung, die Schaffung einer Art dritten Zentrums
       und die Radikalisierung des Prozesses. Aber ich konnte sie nicht
       überzeugen. Deshalb beteilige ich mich nicht am politischen Prozess, denn
       er ist eine Farce. Ich möchte in Iwanischwilis Theaterstück keine Rolle
       spielen.
       
       4 Nov 2023
       
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