# taz.de -- Antimuslimischer Rassismus: Wie gehts euch seit dem 7. Oktober?
       
       > Die Debatte nach dem Hamas-Anschlag trifft Menschen mit palästinensischem
       > Hintergrund mit Wucht. Drei Berliner*innen erzählen aus ihrem Alltag.
       
 (IMG) Bild: Kundgebung auf dem Alexanderplatz
       
       ## Die Aktivistin und Beraterin: „Ich würde gern sagen: Chalas. Es reicht“
       
       2003 bin ich aus Palästina-Israel nach Deutschland gekommen – mit der
       Vorstellung, dass die Menschenrechte in Europa wichtig sind. Für mich war
       es ein extremer Schock, dass Rassismus hier doch so groß ist. Erfahren habe
       ich das etwa in der Arbeit mit Geflüchteten, als Aktivistin in der
       Migrationsbewegung, in der Ausländerbehörde, in der [1][Diskussion über
       Oury Jalloh]. Da ist mein Herz gebrochen worden, und ich habe den Glauben
       an das System hier schon etwas verloren. Trotzdem merke ich: Seit dem 7.
       Oktober bin ich sehr, sehr enttäuscht darüber, wie die Diskussion hier
       läuft.
       
       Ich versuche, beide Seiten meiner Identität zu integrieren. Als Jüdin ist
       es auf keinen Fall in meinem Interesse, dass die Polizei Jugendliche in
       Neukölln drangsaliert und dass ihre Wut oder Trauer unterdrückt wird. Und
       es macht auch meine jüdischen Kinder nicht sicherer. Ganz im Gegenteil: Es
       würde helfen, mehr zu sprechen, denn der Schmerz ist legitim.
       
       Als Palästinenserin erlebe ich Rassismus. Und ich sehe: Wir sprechen über
       das Existenzrecht Israels, aber nicht über das Existenzrecht der Menschen
       in Gaza. Israel als Staat ist gerade nicht in Gefahr, denke ich. Ich kann
       nicht fassen, wie Menschen, die keine Beteiligten in diesem Konflikt sind,
       wie zum Beispiel Deutsche, so eine brutale Gewalt akzeptieren und sogar
       befürworten können. Die Weltbevölkerung steht auf der Seite von
       Waffenstillstand, Frieden und Gerechtigkeit. Aber die, die die Macht haben,
       das Desaster zu stoppen, sind ganz woanders. Wenn ich das sehe, denke ich,
       ich verliere meinen Verstand.
       
       ## Das ist wie kopflos
       
       Ich fühle mich sehr hilflos. Ich lese einen Aufruf, ungeöffnete Medikamente
       für Gaza zu sammeln. Und ich verbringe den Tag damit, diese Nachricht zu
       verbreiten, bekomme Antworten von Leuten, die helfen wollen, aber keine
       Medikamente oder keine Zeit haben. Kurz darauf habe ich 1.000 Euro in
       meinem Paypal-Account und versuche herauszufinden, was ich kaufen soll,
       Fiebersaft, Schmerztabletten, Verband, Bandagen für Verbrennungen und
       Verletzungen, Mittel gegen Magen-Darm-Erkrankungen, weil so viele Menschen
       kein sauberes Wasser zum Trinken haben.
       
       Am Ende des Tages komme ich mit drei großen Tüten an der Sammelstelle an.
       Und ich sehe, wie wenig es ist. Eine Million Menschen braucht medizinische
       Hilfe. Das ist nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein. Trotzdem macht
       man so viel. Das ist wie kopflos. Aber nichts zu tun ist auch nicht
       hilfreich.
       
       Ich mache mir Sorgen um meine jüdische Familie in Jerusalem und meine
       palästinensische Familie in Nazareth. Ich würde gern alle umarmen und
       sagen: Chalas, es reicht. Lasst uns uns alle wieder vertragen. Aber ich
       weiß auch, dass es nicht so einfach geht, wenn schon so viel Gewalt und so
       viel Unrecht passiert ist.
       
       ## Ich will Deutschland nicht aufgeben
       
       Auch Deutschland wird Zeit brauchen, um wiedergutzumachen, was hier gerade
       alles gesagt und getan wird. Ich wünsche mir, dass Jüdinnen und Juden in
       Berlin sehen, dass der Rassismus, den die Palästinenser*innen gerade
       erfahren, auch ihr Problem ist.
       
       Ich verstehe, wenn Menschen jetzt überlegen, Deutschland zu verlassen. Aber
       ich habe mein ganzes Erwachsenenleben hier verbracht, ich will Deutschland
       nicht aufgeben. Auch weil ich hier Freunde habe, die nicht so einfach
       weggehen können. Ich kann nicht glauben, dass dieser Satz aus meinem Mund
       kommt, aber: Wir sollten um Deutschland kämpfen. Sonst schafft es sich
       tatsächlich ab.
       
       May Zeidani Yufanyi, 40, Aktivistin, Sozialwissenschaftlerin und
       Antidiskriminierungsberaterin 
       
       ## Der Sozialarbeiter: „Alles ändert sich jetzt“
       
       Was hier das Leben betrifft und die Situation in Gaza, da gibt es vieles,
       weswegen nich mich gerade gar nicht gut fühle. Als Muslim und Palästinenser
       habe ich das Gefühl, dass ich benachteiligt werde. Nicht nur ich, sondern
       auch die Leute, die zu mir kommen.
       
       Die Stimmung ist allgemein gegen Palästina. Es gibt Sachen, die wir nicht
       sagen dürfen. „Wer hat die Kinder getötet?“, haben wir bei einer Kundgebung
       gefragt. Aber das wurde untersagt.
       
       Das verstehe ich nicht. [2][Bei der Demo am Potsdamer Platz] hat die
       Polizei mich angegriffen. Sie haben gesagt, es ist eine ungenehmigte Demo,
       und obwohl in unserer Gruppe Kinder dabei waren, haben sie mich geschubst
       und mit Pfefferspray angegriffen. Ich war ohne Flagge dort, ohne Plakat,
       nur mit einem palästinensischen Schal. Sie haben gedroht, mich zu
       verhaften, das hat die Polizei zu vielen dort gesagt. Da bin ich gegangen.
       [3][Die Demos für Israel] aber, da hat die Polizei kein Problem.
       
       ## Sie hatten auch Pläne und Träume
       
       Diese einseitige Stimmung von der Politik höre ich so zum ersten Mal. Die
       Menschen in Gaza sind für die Politiker nur Zahlen. Die Opfer auf
       israelischer Seite werden [4][mit ihren Wünschen und Träumen gezeigt]. Aber
       auch diejenigen, die in Gaza gestorben sind, hatten Pläne und Träume – und
       sie haben Menschen, die um sie trauern. Doch das sehen wir nicht.
       
       Die Politik sagt jetzt über so vieles, [5][das ist Antisemitismus]. Aber
       Antisemitismus ist ein großer Begriff. Alles kann falsch interpretiert
       werden, wie Polizei und Politiker es wollen. Ich sehe viel Unsicherheit.
       Denn der Begriff ist unklar. In Syrien habe ich eine andere Definition
       gelernt, als sie nun hier in Deutschland gilt.
       
       Das ist problematisch für die Leute, die hierherkommen, für mich auch.
       Dabei würde es gegen die Unsicherheit helfen, wenn sie in der Politik und
       auch in den Schulen mit den Leuten reden und es erklären würden. Aber wenn
       der Bundeskanzler sagt: Gegen jeden Antisemitismus – das ist alles so
       unklar.
       
       ## Viele versuchen, neutral zu sein
       
       Es gibt viele Gerüchte und Lügen. Die Leute kommen zu mir und sagen, sie
       wissen nicht, was sie ihren Kindern sagen können. Mit [6][den neuen Regeln
       versuchen sie, neutral zu sein]. Gleichzeitig haben sie Angst: Sie erzählen
       ihren Kindern nicht alles, weil die in der Schule etwas Falsches oder
       Auffälliges sagen könnten. Das bedeutet, dass sie in der Familie nicht frei
       über Trauer und Sorgen sprechen können. Sie fragen mich ständig: Stimmt
       [7][das mit der Abschiebung, stimmt das mit dem Aufenthalt]?
       
       Bei einem Netzwerktreffen letztens hat eine Sozialarbeiterin ein neues
       Projekt gegen Antisemitismus vorgestellt. Ich habe mich beschwert. Denn in
       Berlin gibt es sehr viele Araber, die sich unsicher fühlen. Gibt es keine
       Projekte für diese Leute? Ich kenne keine offiziellen Stellen, die in
       ähnlicher Weise [8][gegen antimuslimischen Rassismus] angehen.
       
       ## Wir brauchen Prävention
       
       Aber wir brauchen auch Prävention. Um die Menschen zu schützen, aber auch
       um den Hass, der vielleicht als Reaktion kommen kann, einzudämmen und zu
       verhindern.
       
       Denn dass Politik und Medien sich so stark für Israel positionieren, das
       erzeugt am Ende, dass Menschen sich extrem auf eine Seite schlagen. Es
       verhindert Dialog und Verständigung. Alles ändert sich jetzt. Ich bin
       Palästinenser aus Syrien, und als ich vor acht Jahren herkam, habe ich mich
       gefreut, in einem demokratischen Land zu sein. Aber jetzt gibt es ein
       Problem mit der Meinungsfreiheit. Und ich habe Angst um diese Gesellschaft.
       
       Sameh, 34, Sozialarbeiter, Nachname ist der Redaktion bekannt 
       
       ## Die Studentin: „Das hat Einfluss darauf, ob man hier noch glücklich ist“
       
       Die Lage verschlimmert sich. Am Anfang, direkt nach dem 7. Oktober, war es
       ein Schock für alle. Aber man hat schon am ersten Tag gemerkt, dass es sich
       in Deutschland negativ entwickeln würde. Ich kenne die Geschichte der
       Menschen in Gaza, seit ich aufgewachsen bin. Die Reaktionen hier waren für
       mich wie ein Schlag ins Gesicht – als ob wir alle Terroristen wären, die
       töten wollen.
       
       Ich studiere Lehramt, die Universität hat ziemlich schnell die israelische
       Flagge gehisst und öffentlich Mitgefühl ausgedrückt für die israelischen
       Studenten. Von den palästinensischen Studenten – kein Wort. Das fand ich
       erschreckend. Viele dort studieren Politikwissenschaft oder befassen sich
       mit Rassismuskritik. Gerade die Universität sollte doch informieren:
       Darüber, dass das alles nicht am 7. Oktober begonnen hat, dass die Rechte
       der Menschen missachtet werden, dass dort so viele Zivilisten getötet
       werden, dass so vieles nun verallgemeinert und relativiert wird.
       
       Es bräuchte Weiterbildung. Mir fallen wenige Orte ein, an denen es echten
       Austausch über den Konflikt gibt. In der Schule haben wir den
       Nahostkonflikt in der 9. oder 10. Klasse behandelt. Die Auswirkungen für
       die Zivilisten dort, die Vertreibungen, das kommt kaum vor. In der Schule
       könnte man viel mehr dazu machen. Es ist ein sehr verbreiteter Eindruck,
       dass der Konflikt an der Religion liegt und dass es deshalb so kompliziert
       ist. Es hat aber nichts mit Religion zu tun, ich finde es wichtig, das
       klarzumachen.
       
       ## Ich informiere mich auf Instagram
       
       Auch die Medien vermitteln aus meiner Sicht ein einseitiges Bild. Vieles
       wird aufgetischt, als wären es Fakten, dabei wollen sie ihre Sicht
       durchsetzen. Ich informiere mich vor allem auf Instagram. Da gibt es viele
       Menschen, die verschiedene Positionen zeigen. Und es gibt Menschen, die
       direkt aus Gaza berichten, in Echtzeit, und die zeigen, was dort wirklich
       passiert.
       
       Für mich ist das gerade die einzige Quelle. Die Medien in Deutschland
       verschieben Wörter, mein Eindruck ist: Sie stehen schon vorher auf einer
       Seite. Die Bild hat geschrieben, dass wir auf einer Demonstration gerufen
       hätten: „Israel bombardieren“. Auf der Demonstration war ich selbst, das
       wurde definitiv nicht gerufen, gerufen wurde: „Israel bombardiert,
       Deutschland finanziert.“ Wenn ich das sehe, denke ich, es bringt mir gar
       nichts, solche Zeitungen zu lesen.
       
       Was ich auch gern klarstellen würde: Demos für Palästina sind nicht
       antisemitisch, nicht gegen Israel und nicht gegen Juden. Die Bild schreibt,
       dass das alles Judenhasser sind – das ist so verdreht. Wir haben kein
       Problem mit Jüdinnen und Juden. Wir wollen in Frieden leben.
       
       ## Mir geht es um Frieden
       
       Ich gehe regelmäßig auf Demos, meist auf die großen an den Samstagen. Da
       geht es mir als Allererstes um Frieden und Waffenstillstand und darum, zu
       zeigen, dass so viele Menschen dafür sind, dass das Töten aufhört. Man
       sieht immer wieder, wie unsere Meinungen gar nicht zählen, weil wir anders
       denken als die vorherrschende Meinung in der Politik und weil wir anders
       gezeigt werden. Am Anfang gab es viel Berichterstattung, dass die
       propalästinensischen Demos aggressiv sind. Mittlerweile sind die Demos sehr
       friedlich und es kommen sehr viele Menschen, aber darum geht es in den
       Medien nicht. Ich bin traurig, dass unsere Stimmen gar nicht gehört werden
       und dass nichts passiert.
       
       Viele bilden sich eine Meinung, die gegen mich steht, weil ich ein Kopftuch
       trage, weil ich muslimisch bin und arabisch aussehe. Sobald ich sage, ich
       bin Palästinenserin und stehe an der Seite von Palästina, ist die einzige
       Frage, ob ich die Hamas unterstütze. Dass dort nun mehr als 10.000 Menschen
       sterben, dazu kommt nie eine Frage. Wem das nicht unter die Haut geht, dass
       so viele Menschen sterben, so viele Kinder und Jugendliche … Da fehlt mir
       die Menschlichkeit. Die sind nicht einfach so gestorben. Ich sage bewusst:
       Sie wurden ermordet.
       
       Man fühlt sich hier nicht mehr wohl. Es ist erschreckend, dass es in der
       Öffentlichkeit immer noch so krass komplett gegen eine Gruppe geht, vor
       allem von Politikern. Denn sie haben großen Einfluss auf viele Menschen.
       Wir werden anders behandelt, weil die Opfer nicht weiß sind. Das ist
       öffentlicher Rassismus, der von so vielen Seiten bestärkt und getragen
       wird. Als Bürgerin einer Demokratie finde ich das erschreckend. Mit dem in
       Deutschland verbreiteten Rassismus und der Islamophobie leben wir hier ja
       sowieso. Aber dass es sich jetzt noch mal so stark ausweitet, das hätte ich
       nicht erwartet. Das Gefühl von Ausgrenzung, weil wir angeblich von woanders
       herkommen – das hat auch Einfluss darauf, ob man hier noch glücklich ist.
       
       Anonym, 19, Studentin, Name ist der Redaktion bekannt
       
       21 Nov 2023
       
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