# taz.de -- Palästinenser*innen in Deutschland: „Wir haben es mit Tabus zu tun“
       
       > Palästinensische Stimmen fehlen im deutschen Diskurs, sagt die
       > Wissenschaftlerin Sarah El Bulbeisi. Das komme systematischer Gewalt
       > gegen sie gleich.
       
 (IMG) Bild: Immer mehr Palästinenser*innen beteiligen sich an Demonstrationen, wie hier im Oktober in Berlin-Kreuzberg. Sie wollen Sichtbarkeit und Anerkennung
       
       taz: Die Familie Ihres Vaters lebt [1][in Gaza]. Wie geht es Ihnen gerade? 
       
       Sarah El Bulbeisi: Es geht okay. Meine Strategie ist, ein bisschen zu
       verdrängen, was passiert, weil es sonst einfach nicht auszuhalten ist. Ich
       habe ab und zu Kontakt mit meiner Familie und bekomme in Telefongesprächen
       die Angst und Verzweiflung mit. Das ist nur ein Warten auf den Tod. Meine
       Tante meinte, sie hoffe, dass sie bald erlöst werde. Ich habe stundenlang
       gebraucht, um ihr zurückzuschreiben. Ich wusste nicht, was ich antworten
       kann.
       
       Wie haben Sie geantwortet? 
       
       Dass ich bei ihr bin, dass sie nicht alleine ist.
       
       Wie geht es anderen Menschen in der [2][deutsch-palästinensischen
       Community]? 
       
       Sie sind schockiert und wütend. Palästinenser*innen fühlen sich
       entmenschlicht, weil der ganze politische und mediale Diskurs sie als
       Menschen unsichtbar macht. Immer wieder wird das Bild eines symmetrischen
       Konflikts gezeichnet und die ganze systematische Gewalterfahrung der
       PalästinenserInnen ausgeblendet. Das macht etwas mit der Diaspora: Man
       zeigt weniger Kulanz mit der Mehrheitsbevölkerung und ist weniger bemüht,
       deren Wegschauen zu entschuldigen. Die Entfremdung wird immer stärker.
       
       Was meinen Sie mit Entmenschlichung? 
       
       Dass Palästinenser*innen nicht als Betroffene von systematischer
       Gewalt und als betrauernswert wahrgenommen werden. Das geschieht nicht auf
       physischer Ebene, wie wir es jetzt in den besetzten Gebieten sehen, sondern
       auf der diskursiven Ebene.
       
       Können Sie dafür Beispiele geben? 
       
       Abgesehen von der Berichterstattung gibt es darüber hinaus
       Versammlungsverbote. 2022 und 2023 hat die Berliner Polizei beispielsweise
       anlässlich der Gedenkzeremonien an die Nakba Versammlungsverbote
       angeordnet. Man durfte des kollektiven Traumas, das ja auch Teil der
       Identität ist, nicht gedenken. Legitimiert wurde dies mit der Antizipation
       von Gewaltakten. Also für mich ist das eine Form von Entmenschlichung, dass
       man Palästinenser*innen nicht den Raum zugesteht, einen Teil ihrer
       Geschichte kollektiv zu betrauern. Sobald Palästinenser*innen in
       irgendeiner Form sichtbar werden, werden sie zu staatsfeindlichen
       Subjekten, die angeblich die öffentliche Ordnung bedrohen, oder gar zu
       antisemitischen Subjekten gemacht.
       
       Meinen Sie, dass Opfer und Täter klar feststehen? 
       
       Israel wird mit dem Judentum gleichgesetzt und Israel-kritische Positionen
       und palästinensische Stimmen werden mit Antisemitismus gleichsetzt.
       Palästinensische Gewalterfahrung wird nicht nur systematisch unsichtbar
       gemacht, sie wird durch die Opfer-Täter-Dichotomie immer wieder legitimiert
       – durch Medien und den Staat.
       
       Was müsste sich ändern, um den Erfahrungen von Palästinenser*innen
       mehr Raum zu geben? 
       
       Der Diskurs über die Gewalt an Palästinenser*innen müsste verändert
       werden. Begriffe wie Apartheid oder ethnische Säuberung sollten kein Tabu
       sein.
       
       Diese Begriffe werden in Bezug auf Israel als antisemitisch gesehen. 
       
       Diese Wörter werden immer dargestellt, als relativierten sie die Schoa. Sie
       werden als Konkurrenz empfunden. Dadurch wird eine Anerkennung
       systematischer Gewalterfahrungen anderer Völker unmöglich gemacht. Auch der
       koloniale Rassismus und der strukturelle Rassismus Deutschlands und Europas
       werden ausgeblendet.
       
       Die große Angst ist, dass die Schoa und die historische Schuld Deutschlands
       in Vergessenheit geraten. 
       
       Habe ich gesagt, man soll das vergessen? Die Palästinenser*innen
       begreifen die Nakba als Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung, die
       bis heute andauert. Wenn man das anerkennt, wird das gleich als Angriff auf
       die Katastrophalität der Schoa gesehen. Da muss die deutsche Gesellschaft
       ihre Arbeit machen: dass man über die Nakba sprechen kann, ohne dass das
       gleich als Antisemitismus gilt.
       
       Was macht die diskursive Gewalt mit den Palästinenser*innen in
       Deutschland? 
       
       Die Nichtanerkennung ihrer Vertreibungserfahrungen hat die erste
       Migrationsgeneration zutiefst marginalisiert. Ich habe mit
       Palästinenser*innen verschiedener Migrationszeiten gesprochen: jenen,
       die im Zuge der Studien- und Arbeitsmigration in den 60er Jahren nach
       Deutschland kamen, und denjenigen, die im Kontext des libanesischen Kriegs
       aus den Flüchtlingslagern in den 80er Jahren nach Deutschland geflohen
       sind.
       
       Die Palästinenser*innen, die in den 1960er Jahren kamen, haben 1947/48 als
       Kinder die Massenvertreibungen von 800.000 bis 900.000
       Palästinenser*innen selbst erlebt. Die Nakba wurde lange im
       palästinensischen kollektiven Gedächtnis tabuisiert – weil man sich mit
       diesem hegemonialen Narrativ identifiziert hat, dass die
       Palästinenser*innen freiwillig gegangen seien, dass die Nakba nur ein
       Nebeneffekt des Krieges gewesen sei.
       
       Für viele war die eigene Vertreibung und/oder die Vertreibung der Eltern
       daher mit Scham besetzt. Ausgerechnet diese Generation durfte im Zuge der
       Besetzung des Gazastreifens, der Westbank und Ostjerusalems durch Israel
       1967 nicht mehr zurückkehren. Weil Israel am Anfang der Besatzung alle, die
       nicht zu Hause waren, als abwesend ins Zivilregister eingetragen hat. Das
       war eine indirekte Vertreibung. Sie waren gezwungen, in Deutschland zu
       bleiben, ohne dass ihre multiplen Vertreibungserfahrungen von der
       Gesellschaft, in der sie lebten, gesehen wurden. Daraus folgten Melancholie
       und Isolation. Sie haben sich aus der Gesellschaft und aus der Familie
       zurückgezogen und verneinen sich oft selbst.
       
       Bei den Palästinenser*innen, die aufgrund der Vertreibungen von 1947/48
       meist in den libanesischen Flüchtlingslagern geboren und aufgewachsen und
       in den 80er Jahren aus dem Libanon geflohen sind, kam eine sozioökonomische
       Marginalisierung hinzu. Deutschland hat sie nicht als Geflüchtete
       anerkannt, und der Libanon nahm sie nicht zurück, aufgrund ihrer
       offiziellen Staatenlosigkeit. Dies endete in jahrelangen Kettenduldungen.
       
       Und wie hat sich das auf die zweite Migrationsgeneration ausgewirkt? 
       
       Um dem Schmerz zu entgehen, kriminalisiert, statt gesehen zu werden, haben
       viele ihren Kindern gesagt: Sagt nicht, woher ihr kommt. Sie haben quasi
       ein Doppelleben geführt, bei dem sie nur privat das Palästinensischsein für
       sich bewahrt haban.
       
       Es gibt 200.000 Palästinenser*innen in Deutschland. Wo sind ihre
       Stimmen im derzeitigen Diskurs? 
       
       Es wird schon lauter, es sind ganz viele [3][auf den Demos]. Unsere
       Elterngeneration wollte noch Anerkennung von der Mehrheitsgesellschaft.
       Jetzt lässt man sich die Gewalterfahrung nicht mehr absprechen.
       
       Fühlen Palästinenser*innen einen starken Druck, die Öffentlichkeit
       auf das Leid ihres Volkes aufmerksam zu machen? 
       
       Ich spreche jetzt von mir: Das ist so eine Art von Überlebensschuld oder
       Bringschuld, weil man nicht in Gaza ist. Meine Tante und Familie dort
       machen keinen Druck. Alleine, wenn sie mit mir sprechen und ich ihre Angst
       spüre, bringt mich das in eine Schuld. Der Kampf um Leben und Tod in Gaza,
       der war auch mit den Militäroffensiven 2014 oder 2021 existent, das kann
       ich nicht ausblenden. Dieses bedrückende Gefühl war die letzten Jahre immer
       da.
       
       Gibt es Angst, sich öffentlich zu äußern? 
       
       Ja, wir haben es mit Tabus zu tun: Siedlerkolonialismus, Vertreibung,
       ethnische Säuberung, Apartheid. Wenn man über die eigene Erfahrung sprechen
       möchte, braucht man aber Wörter, mit denen man sich identifiziert. Man
       weiß, welche Begriffe außerhalb der Norm anzusiedeln sind, und hat das
       internalisiert. Um im sagbaren Raum zu sein, müsste man das vorherrschende
       Konfliktnarrativ reproduzieren und sich selbst die Erfahrung absprechen.
       Man hat nicht das Gefühl, dass die Gesellschaft einem mit Wohlwollen
       gegenübersteht und es wirklich darum geht zu verstehen.
       
       Sie sagen, die Deutschen wollen korrekt sein im Diskurs. Warum wird das von
       Palästinenser*innen als grausam erfahren? 
       
       Für mich ist diese Korrektheit eher Feigheit. Es ist eine Weigerung, sich
       mit der Realität auseinanderzusetzen, der eigenen Befindlichkeit zuliebe.
       Aber dafür bezahlen Palästinenser*innen den Preis. Wenn der Diskurs
       sich nicht ändert, wird die systematische Gewalt gegen sie weitergehen.
       
       Also wenn es einen weniger schuld- und schambesetzten Diskurs seitens der
       Deutschen gäbe, hieße das nicht, dass Gewalterfahrungen abgesprochen
       würden. Sondern, dass eine Debatte auf Augenhöhe geschaffen werden könnte? 
       
       Wenn die Nakba und die Gewalterfahrungen der Palästinenser*innen
       anerkannt werden und Palästinenser*innen auch Betroffene sein können
       – ohne, dass das gleich bedeutet, das Leid der Jüd*innen zu relativieren,
       ja! Niemanden meiner palästinensischen Bekannten würde ich als
       antisemitisch bezeichnen. Antisemitismus ist strukturell. Den findet man
       auch bei Deutschen, die explizit mit Israel solidarisch sind.
       Gewalterfahrungen existieren nebeneinander und ein Sprechen darüber muss
       möglich sein. Wenn man von Schuld spricht, müsste man auch sagen: Unser
       Nationalsozialismus hat zur Schoa und auch zur Nakba geführt.
       
       Also nicht „Free Palestine From German Guilt“, sondern eine Erweiterung der
       deutschen Schuld auch auf die Nakba und eine Verpflichtung, sie ins
       kollektive Gedächtnis aufzunehmen? 
       
       Ich glaube, der Spruch ist polemisch gemeint. Aber genau. Verantwortung
       wäre vielleicht das bessere Wort. Eine erneuerte Form, Verantwortung für
       die eigene Geschichte zu übernehmen. Sonst macht man sich zum Opfer der
       Schuld.
       
       27 Nov 2023
       
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