# taz.de -- NS-Geschichte und Gaza: Wer Gaza sagt, muss Dresden sagen
       
       > Deutsche Täter sind keine Opfer, hieß es nach den Bombardements deutscher
       > Städte 1943. Wie hängt das mit der Wahrnehmung von Gaza zusammen?
       
 (IMG) Bild: Mahnmal der Bombardierung Berlins am 23. November 1943: Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
       
       Natürlich hinken alle Vergleiche und Geschichte funktioniert selten eins zu
       eins. Aber: Wo unterstellt wird, weiß-christlich-deutsche Solidarität für
       die israelische oder [1][palästinensische Seite] beruhe vor allem auf der
       deutschen Scham über die Shoah, wird ein Aspekt kaum bedacht.
       
       [2][Deutsche Solidarität] könnte auch verhandeln, was im offiziellen
       Gedächtnistheater des Erinnerungsweltmeisters kaum gespielt wird, aber im
       kollektiven Unterbewussten präsent bleibt: der [3][Bombenkrieg gegen
       deutsche] Städte ab 1943.
       
       Es lässt sich vermutlich nicht über den 7. Oktober ohne den Holocaust als
       Fluchtpunkt sprechen. Aber lässt sich über das Bombardement einer totalitär
       regierten Stadt, in der ein genozidales Massaker geplant wurde, sprechen,
       ohne in Deutschland Bilder der Operation Gomorrha (Anm. d. Red.: Codename
       für Luftangriffserie durch Alliierte auf Hamburg 1943) oder den Bomben über
       Berlin aufzurufen? Muss, wer Gaza sagt, auch Dresden sagen?
       
       In der Operation über Hamburg starben in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli
       1943 über 30.000 Menschen, als sich nach tagelangem Bombardement ein
       Feuersturm über die Arbeiterquartiere Rothenburgsort und Hammerbrook legte.
       Dem das Bild prägenden britischen Angriff auf Dresden im Februar 1945
       fielen 25.000 Menschen zum Opfer. Berlin wurde ab November 1943
       bombardiert, bekanntestes Relikt: die am 23. November abgebrannte und als
       Ruine belassene Gedächtniskirche.
       
       ## Harmloser Begriff „Nachkriegsarchitektur“
       
       Aber auch kleinere Städte wie Hameln, Friedrichroda oder Hof verzeichneten
       zivile Opfer im dreistelligen Bereich. Hinter dem harmlosen Begriff
       „Nachkriegsarchitektur“ liegen Fußgängerzonen, die von geschätzten 500.000
       Toten und zehn Millionen Obdachlosen Zeugnis ablegen. Eine enorme
       Verdrängungsleistung und nur Spurenelemente von Erinnerung.
       
       Für damals junge Menschen war die Luftschutzkellererfahrung eine zentrale
       des Krieges. Nicht der Holocaust, das Gefühl, zu Unrecht und unschuldig
       bestraft zu werden, für etwas, was andere („Hitler“) taten, dominierte das
       Narrativ. Gleichzeitig erlaubte die allgemeine Verdrängung der Zeit vor Mai
       1945 kein reales Trauern.
       
       Die Toten wurden aus der Wirtschaftswundergemeinschaft ausgeschlossen,
       Schatten aus einer grauen Vorzeit im Neuaufbau der Städte. Alexander und
       Margarete Mitscherlich konstatierten 1967 eine viel zitierte „Unfähigkeit
       zu trauern“.
       
       Sie bezog sich weniger auf die toten Zivilist*innen als auf den
       verschwundenen „Führer“, entsprang weniger einem kollektiven Trauma als
       einer kollektiven Beleidigung des Selbstwertgefühls. Aus dieser Unfähigkeit
       und Unlust ist die postnazistische Gesellschaft nie ausgestiegen.
       Literarische Zeugnisse gibt es zuhauf, genauso Mahnmale, die aber niemand
       richtig zuordnen kann.
       
       Die offene Trauer über die Bombenopfer wurde Rechten überlassen, während
       sich auf der Linken die Deutung durchsetze, dass alle, die im System der
       NSDAP nicht aktiv Widerstand leisteten, an den deutschen Genoziden teil
       hatten. Die völkerrechtlich schwierig zu bewertenden Angriffe auf deutsche
       Städte wurden so interpretiert, dass sie keine Gewalt gegen
       Zivilist*innen darstellten, sondern gegen eine kollektiv schuldhafte
       Tätergemeinschaft.
       
       „Deutsche Täter sind keine Opfer“ 
       
       Proteste gegen die Vereinnahmung der Dresdener Vergangenheitsbewältigung
       durch Nazis, die bevorzugt vom „Bombenholocaust“ sprechen, standen lange
       unter dem Motto „Deutsche Täter sind keine Opfer“.
       
       Oder, wie es der Herausgeber des linken Magazins konkret, Hermann Gremliza,
       formulierte: „Wer sich in der Tür der Gaskammer den Finger eingeklemmt hat,
       erzähle sein Leid und weine.“ Angesichts der breiten Zustimmung der
       Deutschen zum System bis zum Ende eine punktgenaue Analyse der
       Erinnerungsarbeit.
       
       Tatsächlich starben in großer Zahl Träger*innen des Systems.
       Widersprüche wie die Opfer in der Dresdner Haftanstalt Mathildenstraße, in
       der zahlreiche gefangene Antifaschist*innen starben, mussten in dieser
       Erzählung allerdings ignoriert werden. Das trifft auf das Gaza der
       Gegenwart ebenso zu. Auch in Gaza sind die Sympathien für die Hamas,
       gelinde gesagt, unterschiedlich verteilt.
       
       Oft fällt der Begriff „Faschismus“ für Hamas und ihr verwandte
       Gruppierungen, aber selbst in der europäischen Geschichte des 20.
       Jahrhunderts wird er schwammig verwendet. Wie hat die Hamas die
       Gesellschaft seit ihrer Machtergreifung aus Wahlen heraus umstrukturiert,
       abseits islamistisch-patriarchaler Klassiker? Basiert das System nur auf
       Unterdrückung oder hat die jahrelange Propaganda gefruchtet, sodass die
       Zivilgesellschaft in ihrem alltäglichen Handeln still Zustimmung gibt,
       Mitläufertum, Denunziantentum belohnt wird?
       
       Sicher ist: Breite, offensiv geführte Widerstandsbewegungen sind nicht
       erkennbar. In Deutschland sind Menschen in Gaza zu Spielsteinen der alten
       Debatte geworden, wie sich Schuld in einem System verteilt, das auf
       kollektive Komplizenschaft aufbaut.
       
       ## Identifikation mit mitlaufenden Vorfahr*innen?
       
       Bis heute bleibt der Bombenkrieg gegen deutsche Städte eine Grauzone,
       rechtlich wie emotional. Wer von diesen Toten redet, muss auch die anderen
       erwähnen, die Grausamkeiten, die erst dafür sorgten, dass Menschen solche
       Vernichtungsstürme auszulösen für denkbar halten, den Holocaust, den brutal
       geführten Krieg gegen europäische Nachbar*innen.
       
       Die Angriffe trafen Säuglinge und Kommunist*innen im Widerstand genauso
       wie die vielen Mitläufer*innen und Profiteur*innen. Gleichzeitig sind
       die Bombardierungen Teil der Geschichte des Bezwingens des deutschen
       Faschismus.
       
       Nicht der heroischste Teil, aber dennoch einer, für den Menschen in der
       deutschen Demokratie sogar Dankbarkeit schulden. Dass faschistische Gewalt
       nicht mit Friedensbotschaften und Appeasement zu vernichten ist und
       gleichzeitig Empathie mit den Opfern einfordern – das sagt sich leicht.
       
       ## Überschießende Reaktionen auf Gaza
       
       Eine solche Haltung ist angesichts der emotionalen Macht der Bilder von
       Zerstörung jedoch kaum aufrechtzuerhalten. Es bleibt eine offene Frage, ob
       Deutsche die Bilder staubiger Kinder auf Schuttbergen betrachten können,
       ohne sich an die Bilder vom zerstörten Berlin zu erinnern.
       
       Wie viel Identifikation mit den „ausgebombten“ mitlaufenden
       Vorfahr*innen steckt in den überschießenden deutschen Reaktionen auf die
       Bilder aus Gaza, die bei Social Media als „Menschlichkeit“ verklärt werden?
       Wie viel von der überschießenden Reaktion, die in jedem Palästinenser nur
       den potenziellen Täter sieht, hat mit der Abwehr dieser Identifikation zu
       tun?
       
       Das ungeklärte Verhältnis von Gesellschaft, Täterschaft und zerstörerischer
       Konsequenz zeigt sich nicht nur in der ignoranten Forderung, Palästina von
       deutscher Schuld zu befreien. Es wäre ihr entgegenzusetzen: eher von
       deutscher Trauer.
       
       1 Dec 2023
       
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