# taz.de -- Jüdischsein in Deutschland: Hat es sich geändert?
       
       > Der Literat und KZ-Überlebende Ivanji hat sich nach dem Ende des
       > Nationalsozialismus nie gefragt, wie es ist, als Jude nach Deutschland zu
       > reisen. Nun schon.
       
 (IMG) Bild: Das nach dem Zweiten Weltkrieg zerstörte Köln, im Jahr 1945
       
       BELGRAD taz | Sieben Jahre nach meiner Befreiung aus dem KZ kehrte ich nach
       Deutschland zurück. Am 11. April 1945 wurde ich von Amerikanern aus dem
       Konzentrationslager „Magda“, einem Außenlager von Buchenwald nahe dem Dorf
       Langenstein-Zwieberge, gerettet. 1952 reiste ich als junger Journalist nach
       Deutschland. Man fragte mich, wieso ich nach allem, was ich in
       Konzentrationslagern als Jude erlebt hatte, überhaupt wieder in dieses Land
       fahre. Wieso ich so gerne Deutsch spreche und nicht die Sprache der Nazis
       meide.
       
       Ich sagte, die Sprache der Nazis sei hässlich gewesen, Hitlers Reich habe
       den Krieg verloren, ich aber fahre zur Quelle der Sprache Goethes und
       Schillers. Klingt wie eine Phrase? Mag sein, aber das war nun mal meine
       Antwort.
       
       Seither war ich jedes Jahr meist mehr als einmal in Deutschland. Siebzig
       Jahre lang habe ich die meisten deutschen Großstädte mehr als einmal
       besucht, das letzte Mal in diesem Jahr Ende August in Weimar, für das
       nächste Jahr habe ich schon drei Einladungen nach Deutschland. [1][Nie, bei
       keiner Einladung, bei keiner Reise nach Deutschland habe ich je daran
       gedacht, dass ich Jude bin.]
       
       Ist das jetzt anders?
       
       ## Hatte ich am Ende des Krieges Rachegefühle?
       
       Eines hat mich in diesem Land immer gestört. Wo immer ich vorgestellt wurde
       und werde, heißt es, ich sei Jude und Titos Dolmetscher gewesen. Beides
       stimmt, aber ich hätte es lieber, wenn man stets zuvorderst betonen würde,
       ich sei Literat – obwohl ich weiß, dass Tucholsky meinte, es gäbe nichts
       Schlimmeres, als wenn Literaten Literaten Literaten schimpfen.
       
       Jude sein habe ich in Deutschland stets als Bonus empfunden, hat sich das
       jetzt geändert?
       
       Eine weitere Frage, die ich mir seit Neuestem stelle, lautet: Hatte ich am
       Ende des Krieges, [2][als Deutschland in Schutt und Asche] gelegt wurde,
       Rachegefühle? Noch vor kurzer Zeit hätte ich es energisch verneint. Jetzt
       analysiere ich mein früheres Benehmen, meine Gedanken am Ende des Krieges
       und stutze.
       
       Schon meine Eltern waren Atheisten, ich kannte den jüdischen Glauben nicht.
       
       Aber schaue ich heute noch einmal zurück, denke ich anders über mich.
       
       ## Ich sah, was Bomben angerichtet haben
       
       Am 8. April 1945 wurde im Lager Magda die Arbeit eingestellt, kein Essen
       mehr ausgegeben. Manche von uns, die fit genug waren, konnten von dem Berg
       aus, in dem wir Tunnel gebaut hatten, das 8 Kilometer entfernte Halberstadt
       sehen, das gegen 11 Uhr vormittags bombardiert wurde. Einzelheiten wussten
       wir natürlich nicht, sahen aber schwarze Wolken aufsteigen, Stichflammen
       zum Himmel streben. Später erfuhr ich, dass 540 Spreng- und 50 Tonnen
       Brandbomben abgeworfen worden waren.
       
       Als ich am 14. April durch die Stadt wanderte, sah ich, was die Bomben
       angerichtet hatten: Es sah so aus wie die Bilder, die heute im Fernsehen
       aus der Ukraine oder dem Gazastreifen zu sehen sind. Um zu sehen, was mit
       den Städten passiert ist, die bombardiert wurden, haben wir heute
       Hubschrauber und Drohnen. 1952 musste ich noch 533 Stufen auf den Kölner
       Dom steigen, um diese furchtbare Ansicht in Augenschein zu nehmen.
       
       Ich hätte früher nie eingestanden, dass meine Gedanken damals einem
       jüdischen Rachegefühl entsprungen seien, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich
       habe meine jüdische Herkunft zwar nie geleugnet, aber betont hab ich sie
       eben auch nicht.
       
       Ich war damals in Köln als Journalist den Dom hinaufgegangen und habe nicht
       an die Menschen gedacht, die erschlagen, verbrannt oder „nur“ ihrer
       Wohnungen und Häuser, ihres Hab und Gut beraubt wurden, fragte mich nicht,
       ob die alle Nazis gewesen seien oder „nur“ Mitläufer. Heute muss ich
       gestehen: ich fühlte Genugtuung.
       
       ## Ein einziges Mal war ich zum Gottesdienst in einer Synagoge
       
       In Deutschland kam ich, als Zeitzeuge vor verschiedenen Gremien sprechend,
       nie am Holocaust vorbei. Ein einziges Mal im Leben war ich an einem Samstag
       zum Gottesdienst in einer Synagoge. Und das ausgerechnet in Deutschland, in
       München. Ein evangelischer Pfarrer hatte mich bewogen, mit ihm hinzugehen,
       er war mit dem Rabbiner befreundet. In Gotteshäusern, die ich gerne
       besuche, benehme ich mich als höflicher Gast, setze in Synagogen den Hut
       auf, nehme ihn in christlichen Kirchen ab, ziehe mir in Moscheen die Schuhe
       aus. Den Anfang einiger jüdischer Gebete kenne ich, das Vaterunser
       merkwürdigerweise auf Ungarisch auswendig.
       
       Angeregt, mich mit den verschiedenen Formen von Glauben näher zu
       beschäftigen, haben mich die Bücher des Philosophen Karl Jaspers. Ich
       stellte verwundert fest, dass der erste und bisher letzte Begründer großer
       Religionen, Prinz Siddharta Gautama, der Buddha, der Prophet Mohammed
       historische Personen waren, bei Moses und Jesus ist man sich da nicht so
       sicher.
       
       Wenn sich gute Legenden so lange halten wie der Glauben der Juden und das
       Christentum, werden sie wahrer als jede Wahrheit. Ich habe die Thora auch
       als Liebesroman und Krimi gelesen, Abrahams nur kurz angedeutete Liebe zur
       Sklavin Hagar, die die Urmutter des Islam wurde, in Gedanken so weit
       ausgebaut, dass es ein Roman mit dem Titel „Hineni“ geworden ist.
       
       Warum erzähle ich das alles? Weil ich folgendes feststellen muss: Ich bin
       siebzig Jahre lang durch deutsche Städte spaziert und nie auf
       Antisemitismus gestoßen. Einschränkend muss ich sagen: spaziert bin ich
       hier wie dort ohne Kippa oder andere Besonderheiten, die mich als Jude
       gekennzeichnet hätten. Es ist nun mal meine Erfahrung, dass ich in
       Deutschland keine Antisemiten kannte. Und jetzt soll alles anders sein?
       
       ## Sollte ich Angst haben?
       
       Was mache ich denn nun, wenn ich nächstes Jahr unterwegs auf einer
       deutschen Straße auf einen [3][antiisraelischen, brüllenden Protestmarsch]
       mit aufregender Polizeibegleitung stoße? Ich werde wohl stehen bleiben und
       die wahrscheinlich meist jungen Gesichter betrachten, die mir im Prinzip
       sympathisch wären, die sich für mich, einen bürgerlich gekleideten Greis,
       nicht interessieren.
       
       Sollte ich trotzdem Angst haben? Jude sein auf deutschen Straßen, geht das
       überhaupt noch?
       
       Wie gerne würde ich mit den jungen Leuten ins Gespräch kommen, ihnen sagen,
       dass ich ihre Sache im Grunde genommen bis zum 7. Oktober 2023 befürwortet
       habe. Ich würde sie fragen, ob sie diese Blutrünstigkeit, diesen Mordwahn
       gutheißen. Ich habe einmal etwas Ähnliches versucht. Es ging schief.
       
       Es war in einer staatlichen Berufsschule ausgerechnet in Dachau 2017. Ich
       hielt dort einen Vortrag über Konzentrationslager. Danach kamen einzelne
       Schülerinnen und Schüler zu mir, um Fragen zu stellen. Ein junger Mann
       fragte gehässig: „Warum ermordet ihr Juden uns Palästinenser?“ Ich
       versuchte, ruhig zu bleiben, sagte, es komme nun einmal zu gegenseitigen
       Einzelangriffen mit Todesfolgen und wie schrecklich bedauerlich das sei,
       aber er hörte gar nicht zu, sondern fragte weiter: „Warum habt ihr uns
       unser Land gestohlen?“
       
       Ich schlug vor, er solle im Koran nachlesen, dass Ismail, der Erzvater
       aller Araber, und Isaak, der Erzvater aller Juden, Söhne des gemeinsamen
       Urvaters Abraham oder auf Arabisch Ibrahim gewesen seien und dass die
       beiden geschworen hätten, friedlich miteinander zu leben, und also beide
       Nachfahren Anspruch auf das Land haben.
       
       Aber der junge Mann ging einfach weg.
       
       Als Schüler dieser Eliteschule hatte er sicher Aussichten auf ein gutes
       Leben. Er sprach gut Deutsch, kleidete sich wie die meisten seiner
       Schulkameraden, überwiegend Deutsche. Und trotzdem: ich hielt es für
       möglich, dass dieser Junge einen Sprengstoffgürtel unter seinen Pullover
       anziehen und möglichst viele Menschen in den Tod reißen würde. Dieser junge
       Mann, er war um die siebzehn, blieb als die Personifizierung des Todes in
       meinem Gedächtnis, ich hatte es nur jahrelang verdrängt, jetzt aber, nach
       dem Massaker in Israel, ist er wieder aufgetaucht. Vielleicht wird er, wenn
       ich im nächsten Jahr wieder in Deutschland bin, an mir vorbeigehen,
       vielleicht Fahnen schwenkend, vielleicht schreiend und marschierend. Und
       ich kann nur hoffen, dass er sich wieder von mir abwendet und weggeht und
       nichts Schlimmes passiert.
       
       Vor mehr als zweihundert Jahren schrieb Goethe: „Orient und Okzident sind
       nicht mehr zu trennen.“ Ich frage mich ernsthaft, ob das noch gilt.
       
       13 Dec 2023
       
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