# taz.de -- Die deutsche Linke und Israel: Nie wieder Staatsräson
       
       > Können deutsche Linke eigentlich noch guten Gewissens hinter Israel
       > stehen? Ja, können sie. Aber nicht, weil Deutschland das so will.
       
 (IMG) Bild: Konrad Adenauer (l.) und Ben Gurion in der Wüste Negev, 1966
       
       Am 1. November hielt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck eine
       Rede, [1][die Deutschland fast zu Tränen rührte]. Sigmar Gabriel nannte sie
       „großartig“, Dietmar Bartsch gab dem Minister „recht“, Luisa Neubauer
       bedankte sich für die Worte. Sogar Kritiker*innen der Grünen zeigten
       sich begeistert. Einige meinten, Habecks Rede war „kanzlerwürdig“.
       
       In knapp zehn Minuten Nichtkanzlerrede erzählte Habeck davon, dass sich
       Jüdinnen und Juden in Deutschland seit dem Überfall der Hamas auf Israel
       nicht mehr sicher fühlen, dass jüdische Geschäfte angegriffen und auf
       Demonstrationen gegen Israel gehetzt wird, und das „hier, in Deutschland,
       fast 80 Jahre nach dem Holocaust“. Es fällt der Satz „Israels Sicherheit
       ist deutsche Staatsräson“.
       
       Kollegin Doris Akrap [2][schrieb dazu]: „Dem Vorwurf, Schuldgefühle
       leiteten die deutsche Politik, sollte man in so einer Rede in so einer Zeit
       schon auch begegnen.“ Recht hat sie, denn: Die Geschichte der Staatsräson
       ist mit der deutschen Schuld eng verwoben. Konrad Adenauer, einst
       tatsächlicher Kanzler, sagte 1952 im [3][Luxemburger Abkommen] dem noch
       jungen Staat Israel finanzielle und militärische Unterstützung zu –
       ausdrücklich zur Wiedergutmachung. Das Abkommen war Bedingung für das Ende
       der Besatzung Deutschlands.
       
       [4][Für dieses Verhältnis zu Israel] fand eine andere Kanzlerin, Angela
       Merkel, über 50 Jahre später einen Begriff. Die Staatsräson war geboren.
       Und sie mutierte. Heute wollen deutsche Politiker Migrant*innen ein
       Bekenntnis zum Staat Israel abnötigen, wenn sie Staatsbürger*innen
       werden wollen. Ohne Israel kein Deutschland und keine Deutschen, das wusste
       Adenauer, das wissen Merkel und Habeck.
       
       ## Ein anderes Israel
       
       Nur: Das Israel Adenauers war ein anderes als das Israel heute. Die
       Arbeiterpartei Awoda, die seit der Staatsgründung bis 1977 fast durchgängig
       in Israel regierte, war Teil der Sozialistischen Internationalen. Viele
       Provinzen, die sogenannten Kibbuzim, betrieben Gemeinwirtschaft, manche
       davon bis heute. Heute ist die Awoda faktisch bedeutungslos, Israel wird
       seit Jahren rechts regiert.
       
       Deutschen Linken war das Land, ob links oder rechts, lange ein Dorn im
       Auge. Zur Wiedervereinigung kamen einige Abtrünnige auf die Idee, Israel zu
       verteidigen. Ihre Position war der des zionistischen Vordenkers Theodor
       Herzl nicht unähnlich: Jüdinnen und Juden seien auch in modernen Staaten
       nie sicher, der antisemitische Vernichtungswahn der Deutschen habe das
       schlimmstmöglich belegt. Einige schlussfolgerten: In dieser Welt helfe
       gegen Antisemitismus letztlich ein zur Verteidigung fähiger, jüdischer
       Nationalstaat.
       
       Um Deutschland ging es diesen Linken nie, im Gegenteil: Ihrer Meinung nach
       sollte das Land gar nicht mehr sein. [5][Die erste Welle der sogenannten
       Antideutschen] rief „Nie wieder Deutschland“ und verstand sich als radikal
       antifaschistisch, zionistisch, kommunistisch. Heute ist auch diese Bewegung
       zersplittert und bedeutungslos. Proisraelisch ist man eher für, nicht gegen
       Deutschland. Der antideutsche Kommunist Joachim Bruhn schrieb polemisch,
       die Identität des Deutschen bestünde darin, sich „am genauen Ort, wo
       Vernunft Platz hätte, freiwillig die Staatsräson zu implementieren“.
       
       Staatsräsonist*innen schwadronieren von „Verantwortung“ und meinen
       damit massenhafte Abschiebungen, sie nutzen das Bekenntnis zu Israel, um
       zwischen richtigen und falschen Deutschen zu unterscheiden. Gleichzeitig
       machen sie Geschäfte mit den größten Feinden Israels, etwa dem Iran, der
       als maßgeblicher Finanzierer der Hamas eine Mitschuld am größten Massenmord
       von Jüdinnen und Juden seit der Shoah trägt.
       
       Auf den Vorwurf der Schriftstellerin Deborah Feldman, Deutschland schütze
       Jüd*innen und Juden selektiv – nämlich nur solche, die sich brav der
       Staatsräson fügen –, antwortete Robert Habeck in einer Talkshow, er könne
       als „nichtjüdischer, deutscher Politiker“ Israel keine Vorschriften machen.
       
       Linke müssen aber nicht staatstragend sein und brauchen auch nicht den
       richtigen Sprechort. Sie können benennen, wenn Israel in bewusst
       verzerrender Absicht unterstellt wird, „wie die Nazis“ zu agieren – selbst
       wenn es jüdische Schriftsteller*innen sind, die Gaza mit dem Warschauer
       Ghetto gleichsetzen –, wenn wahrheitswidrig „Zionisten sind Faschisten“
       gerufen und Terror als „Widerstand“ verharmlost wird. Sie können auch
       opponieren, wenn ein israelischer Politiker verlangt, Gaza in eine
       KZ-Gedenkstätte zu verwandeln und Zehntausende Zivilist*innen sterben,
       oder wenn radikalreligiöse Siedler im Westjordanland Jagd auf ihre
       arabischen Nachbar*innen machen.
       
       Zu verneinen, dass dies geht, wäre nicht links, nur „kanzlerwürdig“.
       
       19 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konstantin Nowotny
       
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