# taz.de -- Buch über linke Lethargie: Klassenbewusstsein als Willensakt
       
       > Jean-Philippe Kindlers Buch versucht, linke Debatten vom Individualismus
       > zu befreien. Dabei lässt es Antisemitismus weitgehend aus.
       
 (IMG) Bild: Gemeinsam Zukunft Gestalten: Eine Demo von internationalen Gewerkschaften und linken Initiativen zum 01. Mai 2022 in Berlin
       
       In den sozialen Medien erreichte der Kabarettist Jean-Phillipe Kindler mit
       deftigen Kurzvideos Popularität. Gerne werden seine prägnanten Kommentare
       zur Tagespolitik geteilt. Sein Markenzeichen: eine im radikalen Gestus
       vorgetragene Angriffslust.
       
       Es versteht sich fast von selbst, dass dabei eine sich [1][unter CDU-Chef
       Friedrich Merz weiter nach rechts öffnende CDU] ebenso ihr Fett wegbekommt
       wie Christian Lindners FDP. Auch auf Befindlichkeiten der eigenen linken
       Bubble nahm Kindler selten Rücksicht. So beispielsweise als er polyamouröse
       Beziehungen in den Kontext kapitalistischer Ideologie stellte und dafür
       einen Shitstorm erntete.
       
       Auf solche Kritik ging er oft in seinem Podcast [2][„Nymphe und Söhne“]
       ein. Dort lieferte er regelmäßig ausführlichere Analysen, welche die
       Polemik der Videos kontextualisieren sollten. In bekannter Logik der
       Aufmerksamkeitsökonomie intervenierte er nicht nur provokant in Debatten,
       sondern zeigte sich hinterher auch diskussions- und reflexionsbereit. Man
       fühlt sich dabei an die amerikanischen dirtbag left erinnert, die ebenfalls
       mit einer Mischung aus Vulgarität und Analyse versucht, die dortige Linke
       aus ihrer Lethargie zu lösen.
       
       ## Klassenbegriff unterm Weihnachtsbaum
       
       Kindler gibt es nun auch zum Lesen. Ein kleines, rotes Büchlein. Auf 150
       Seiten soll repolitisiert werden, was durch Neoliberalismus entleert und
       vereinzelt wurde: „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ kam wie
       gelegen als lieb gemeintes Geschenk für Studis, die den Klassenbegriff
       unterm Weihnachtsbaum finden wollen. Aber finden sie den dann auch?
       
       Der Klappentext verspricht „ein wütendes, inspirierendes, langersehntes
       Buch“, und wer nur eines der Kindler Videos kennt, glaubt sich vorstellen
       zu können, was einen erwartet. Doch bei der Lektüre stellt man fest, dass
       sich der Ton des Buchs von Kindlers pointierten Videos unterscheidet. Es
       ist ihm zu ernst, als dass er einfach nur seinen wütenden Markenkern
       ausformuliert. Oder möchte er vielmehr ernst genommen werden?
       
       Die sechs Kapitel des Buchs wollen nicht weniger, als dass die Welt mal
       wieder kopfsteht. Die Diskussionen über Armut, Glück, Klimakrise,
       Demokratie, Linkssein und das gute Leben will Kindler vom
       [3][Individualismus] befreien. Auffällig ist, dass statt der Kritik am
       Kapitalismus vor allem der Neoliberalismus und seine Ideologie kritisiert
       wird. Auch wenn kurzzeitig die liberale Demokratie an den Pranger gestellt
       wird, bleibt offen, ob der Neoliberalismus als neuestes Symptom oder als
       Krankheit gesehen wird.
       
       Unklar bleibt auch, ob Kindler Sympathien für den britischen
       Staatssozialismus der Nachkriegsjahre empfindet – oder ob dieser auch nur
       „Kapitalismus plus Wahlen“ war. Es war die dortige politische Macht der
       Arbeiterschaft, gegen die sich die neoliberale Politik der britischen
       Premierministerin Margaret Thatcher richtete.
       
       ## Aufklärerischer Gestus
       
       Kindlers Forderung staatlicher [4][Regulierungen des Marktes] oder seine
       Sympathien für keynesianische Ökonomiemodelle legen den Verdacht nahe, dass
       seine politischen Vorstellungen ähnlich sein könnten.
       
       Mit einer Mischung aus Ideologiekritik und Angebot zum integrativem
       Selbstverständnis statt Optimierungswahn will Kindler den Druck vom jungen
       und krisengebeutelten Individuum nehmen. Ihnen möchte er eine Perspektive
       auf das gute Leben bieten, von der er sich wohl als Nebenprodukt
       verspricht, dass dies dann auch Arbeiter*innen erreicht.
       
       In aufklärerischem Gestus möchte er die Ideologie als Lüge entlarven –
       fragt aber nicht nach dem eigenen „nötigen, aber falschen Bewusstsein“
       (Adorno). In völliger Ignoranz zahlreicher marxistischer Debatten seit
       Lenin wird das Klassenbewusstsein wieder zum Willensakt verklärt.
       
       Vermissen lässt der Autor auch eine Antwort auf den Rechtsruck. An diesem
       ließe sich sehr deutlich erkennen, dass Ideologie mehr als eine einfach zu
       durchschauende Lüge ist. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen
       wählen nicht einfach nur die AfD, weil die Linke momentan zu keiner
       Organisierung der Massen fähig ist. Die neue [5][Partei Sahra Wagenknechts]
       lässt sich nicht damit aus der Welt schaffen, dass die Linke „ideologisch
       harmonisiert“ auftritt. Im Gegenteil.
       
       ## Anfälligkeit für antisemitische Agitationen
       
       Gerade da, wo die Linke aktuell „ideologisch harmonisiert“ aufritt, wo die
       dirtbag left von massenhafter Solidarität schwärmt, zeigt sich ihre
       [6][Anfälligkeit für antisemitische Agitationen]. Die Bezüge auf eine
       gemeinsame internationale Klassenidentität sind nicht weit, wenn
       Millionen Menschen auf die Straße gehen und die Parole „from the river to
       sea“ anstimmen.
       
       So ist Antisemitismus eine weitere Leerstelle in Kindlers Buch. Er zitiert
       zwar die Theoretikerin [7][Hannah Arendt] – „wer als Jude angegriffen
       würde, müsse sich auch als Jude verteidigen“ –, doch Kindler spricht in der
       Folge von Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit. Nicht vom jüdischen
       oder gar israelischen Recht auf Selbstverteidigung.
       
       Selbst in der Passage, die sich gegen die Personalisierung von
       Kapitalismuskritik ausspricht, sucht man vergebens nach einer Erwähnung des
       Antisemitismus. Nachjustiert wurde hier zuletzt in seinem Podcast.
       
       Kindler ist der Linke im kapitalistischen Realismus. Nichts Neues, nur neu
       gemixt. Ist es die Angst vor den eigenen Ansprüchen als linker
       Emporkömmling und letzte Hoffnung oder doch die vor den großen Idealen in
       kleinen roten Büchlein? Zumindest eine Sache sollte dem Buch dann doch
       gelungen sein: die Anregung zu Diskussionen über den Zustand der Linken.
       
       Anm. der Redaktion: Der Artikel wurde nachträglich gekürzt.
       
       1 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
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