# taz.de -- Ausblick auf das Superwahljahr 2024: Matchball für die Demokratie
       
       > 2024 ist beinahe die Hälfte der Menschheit zu den Urnen gerufen. Was es
       > braucht, ist eine friedliche Massenbewegung für die Prinzipien der
       > Demokratie.
       
 (IMG) Bild: Seine Wiederwahl droht der Welt im November: Donald Trump, hier auf dem Shirt eines Anhängers im September 2023
       
       Im kommenden Jahr finden gleich mehrere Endspiele der Demokratie statt.
       Fast die Hälfte der wahlberechtigten Weltbevölkerung wird 2024 zu den Urnen
       gerufen, nicht nur in der ostdeutschen Provinz, auch in Indien, der
       bevölkerungsstärksten Demokratie der Welt, in den USA, einer der ältesten
       Demokratien, und, nicht zu vergessen, in der Europäischen Union.
       Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen stehen unter anderem in Pakistan
       und Bangladesch, in Namibia und Mali, Peru und El Salvador, Belgien und
       Österreich, Kroatien und Rumänien, Georgien und Litauen an, Kommunal- und
       Regionalwahlen gar nicht mitgezählt.
       
       Diese Häufung ist einerseits eine sehr gute Nachricht, denn die Demokratie
       hat sich weltweit als Standard durchgesetzt. Dass sich selbst Diktatoren
       wie Russlands Wladimir Putin, Syriens Baschar al-Assad und Nordkoreas Kim
       Jong Un Scheinwahlen stellen, bestätigt indirekt die Legitimationsfunktion
       von Wahlen, die unter fairen Bedingungen einen friedlichen Machtwechsel
       bewirken. Auch Donald Trumps Anrufe beim Gouverneur von Georgia im
       US-Präsidentschaftswahlkampf 2020, er möge ihm fehlende Stimmen „besorgen“,
       belegen die normative Kraft elektoraler Mehrheiten.
       
       Andererseits verzeichnet man seit der Jahrtausendwende einen markanten
       Rückgang der Zahl der freien Länder, in denen allgemeine, gleiche, geheime
       und faire Wahlen abgehalten werden. Die repräsentative Demokratie steht
       fünffach unter Stress: In den postkommunistischen Staaten Russland und
       China, genau wie in den meisten Ländern des „arabisch-islamischen Gürtels“,
       ist sie fast komplett gescheitert. In klassischen Demokratien wie den USA,
       Frankreich und Großbritannien steht sie unter dem starken Druck von rechts.
       Multikulturelle Demokratien wie Indien vereinseitigen sich. Neue
       Demokratien wie Ungarn machen auf dem gerade begonnenen Weg wieder kehrt.
       Und in der Sahelzone reißen Militärs die Macht an sich.
       
       Populistische Kritik von rechts und links hat Wahlen abgewertet, und
       Rechtsradikale nutzten sie, um im Fall der Machtübernahme demokratische
       Werte und Regeln außer Kraft zu setzen. Ungarn hat sich durch Wahlsiege
       Viktor Orbáns Schritt für Schritt in eine legitimierte
       „Zustimmungsautokratie“ verwandelt, und im November 2024 droht die erneute
       Wahl Donald Trumps. Diese Wahl macht einen Unterschied ums Ganze, nicht nur
       für die USA. Trump hat nicht nur einen Rachefeldzug gegen vergangene und
       künftige Gegner angekündigt, er will auch die Nato auflösen, die Ukraine
       teilen, Taiwan aufgeben und die Vereinigten Staaten gegen Menschen und
       Waren aus dem Ausland einbunkern.
       
       Das ist nicht die einzige Wahl, die weltweit ins Gewicht fallen wird im
       kommenden Jahr. In Indien, derzeit Nummer fünf der Weltwirtschaft,
       befürchten dortige Oppositionelle und ausländische Beobachter, ein Sieg des
       Premierministers Narendra Modi könnte die prekäre multireligiöse Balance
       zerstören. Es wäre der Sieg einer aggressiven Identitätspolitik über einen
       farben- und glaubensblinden Universalismus, ein Kernstück demokratischer
       Verfassungen, und ein neuer Beweis für die schwindende Attraktivität
       liberaler Grundlagen im sogenannten Globalen Süden.
       
       Das muss alles nicht so kommen. Nicht Joe Biden und Donald Trump, nicht
       Narendra Modi, und erst recht nicht der rechtsextreme AfD-Mann Björn Höcke
       oder der linke Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, entscheiden
       das Spiel – sondern die Wählerinnen und Wähler haben es in der Hand, ob
       2024 ein nur quantitativ außergewöhnliches Wahljahr oder ein Endzeitdrama
       für die Demokratie wird, wie es der irische Schriftsteller Samuel Beckett
       in seinem Theaterstück „Endzeit“ verfasst hat.
       
       Nicht der Putsch ist das erste Mittel der Entdemokratisierung, sondern
       Wahlmanipulationen und -fälschungen, die einen Sieg der Opposition
       ausschließen, flankiert durch die Gleichschaltung der Medien, die
       Behinderung einer rechtsstaatlichen Justiz und die Beschneidung
       finanzieller Mittel. Wo populäre Rivalen wie Alexander Nawalny in Russland
       oder Khaleda Zia in Bangladesch den Potentaten gefährlich werden, sperrt
       man sie weg. Am Wahlabend ist dann alles nach Plan gelaufen, aber nichts
       korrekt.
       
       Doch das Wahlvolk kann – wie der Ausgang der polnischen Wahl im Oktober
       dieses Jahres zeigt – autokratische Abwege auch beenden, und ganz
       Unerschrockene geben selbst Russland noch nicht ganz verloren.
       
       ## Es kommt auf die Wähler an
       
       Da es letztlich auf die Wählerinnen und Wähler ankommt, muss man nicht
       allein auf den gegnerischen Sturm starren, sondern die eigene Verteidigung
       stärken und zum Gegenangriff „umschalten“. Demokratien sind in der
       Geschichte nicht dem „Zangengriff“ der Extremisten erlegen, auch keiner
       beiderseits betriebenen „Polarisierung“ der Meinungen und Milieus, sondern
       dem Einknicken der politischen Mitte. Das war die exemplarische Erfahrung
       der Weimarer Republik, die gewiss Feinde ganz links und ganz rechts hatte,
       doch erst durch die Implosion der Mitte zu einer Demokratie ohne Demokraten
       regredierte.
       
       Dass es rechtsradikale Einstellungen, Verhaltensweisen und Organisationen
       gibt, ist für parlamentarische Demokratien Normalität und an sich kein
       Problem. Problematisch wird es, wenn die viel zitierte Brandmauer fällt,
       wenn also formelle Koalitionen geschlossen und informelle Absprachen
       zwischen den gemäßigten und radikalen Rechten getroffen werden. Und wenn
       sich auf dem Weg dahin Vokabular und Inhalte der rechten Mitte schließlich
       nur noch nuancenweise von denen der Ultras unterscheiden – so, dass
       gewissermaßen der Schwanz mit dem Hund wackelt und die Wählerschaft dann
       gleich das „Original“ wählt, wovor moderne Konservative wie Heiner Geißler
       stets gewarnt haben.
       
       Der [1][CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hatte versprochen, die AfD zu
       „halbieren“], doch in seiner Zeit hat sie landesweit Mandate errungen und
       in einigen Regionen die Meinungsführerschaft gewonnen. Gleichzeitig haben
       Merz und CSU-Chef Markus Söder die Grünen zum „Hauptgegner“ erklärt, und
       Migration zum Superthema dramatisiert.
       
       Programmatik und Rhetorik der französischen, britischen und
       österreichischen Konservativen unterscheiden sich kaum noch von der weiter
       rechts stehenden Konkurrenz. [2][Bei den
       Make-America-Great-Again-Republikanern] ist die Fusion weitgehend
       vollzogen, und in vielen europäischen Ländern sind Christdemokraten und
       traditionelle Konservative auf dem absteigenden Ast. Ihnen ist dringend zu
       raten, sich nicht weiter auf diese abschüssige Bahn zu begeben. Und Wählern
       der radikalen Rechten müsste klar werden, dass sie nicht länger
       „Denkzettel“ austeilen, sondern radikale Kräfte stark machen.
       
       Wir wissen, wie Demokratien sterben – Experten besprechen wortreich ihre
       Schwächen. Doch während die rechten Minderheiten sich weit über ihre reale
       Stärke hinaus in Szene zu setzen vermögen, kommt die Mobilisierung der
       Mehrheit nur schwer in Gang. Mutige Richterinnen und Richter und vor allem
       Frauenbewegungen haben sich quergestellt und eindrucksvolle
       Massendemonstrationen organisiert; dass sie in Hongkong, Belarus, Myanmar
       und andernorts in brutaler Repression endeten, hat sie nicht endgültig
       kapitulieren lassen.
       
       ## Das Beispiel Polen
       
       An Beispielen wie dem [3][Wahlsieg der Opposition in Polen] muss sich eine
       wehrhafte Demokratie orientieren, die noch alle Ressourcen ihrer
       Verteidigung in der Hand hat. Gegen die allgemeine Krisenmüdigkeit und die
       schrecklichen Vereinfacher müssen sich die nach vorn blickenden Kräfte
       sammeln, etwa mit einer überparteilichen Parlamentariergruppe in Land- und
       Bundestagen und im Europaparlament. Vereinte Kräfte, um sich endlich der
       größten Herausforderung der Demokratie, dem Klimawandel und Artensterben,
       zu widmen.
       
       Projekte zur Förderung der Demokratie bleiben oft bei antifaschistischer
       Nabelschau stehen, die Stärkung der Demokratie muss, wie etwa Michel
       Friedman gerade angesichts eines wieder offen artikulierten Antisemitismus
       fordert, die Alltagskultur erreichen, und das heißt: im kontroversen
       Gespräch mit Kolleginnen, Nachbarn, Freunden. Entschiedener Widerspruch und
       ziviler Widerstand gegen die Feinde der Demokratie sind gefragt.
       
       Für 2024 braucht es eine regelrechte levée en masse, eine friedliche
       Massenerhebung für die Prinzipien und Prozeduren der Demokratie. Flankiert
       werden muss das durch die selbstbewusste Affirmation der Werte der
       westlich-liberalen Demokratie, die auch durch narzisstische
       Identitätspolitik und eine kritiklose Parteinahme für den „Globalen Süden“
       geschwächt wird. Demokratische Experimente wie wirkungsvolle Bürgerräte und
       gut dosierte Volksentscheide auf kommunaler Ebene verkleinern den Graben
       zwischen dem Staatsvolk und den Volksvertretungen.
       
       Das Team Demokratie liegt zurück, aber wer ein Spiel nicht von vornherein
       verloren gibt, kann grandiose Siege einfahren.
       
       28 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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