# taz.de -- taz-Recherche zu Tod nach Polizeieinsatz: Als wollte man es einfach vergessen
       
       > Bei einem Polizeieinsatz in Königs Wusterhausen starb ein Mann, eine
       > Recherche der taz deckte Widersprüche auf. War es ein Fall von
       > Polizeigewalt?
       
 (IMG) Bild: Auf dieser Wiese vor einem Wohnblock in Königs Wusterhausen starb Vitali Novacov
       
       An einem regnerischen Tag Mitte April 2023 macht sich ein Mann in einer
       kleinen Stadt in Brandenburg über zwei Journalist:innen der taz lustig.
       Unsinn würde in den Zeitungen stehen, höhnt dieser Mann. Er läuft den
       Journalist:innen nach, krempelt die Ärmel seines roten Pullovers hoch,
       lächelt. Er sagt: „Die Wahrheit wird ans Licht kommen.“ Dann verschwindet
       er hinter der Tür eines Wohnblocks.
       
       Es ist vielleicht keine ungewöhnliche Szene in Zeiten des Misstrauens
       gegenüber Medien. Aber dieser Mann hat mit dem Tod eines Menschen zu tun.
       
       Am Abend des 11. April 2023 ruft eine Bewohnerin eines Neubaublocks in
       Königs Wusterhausen die Polizei. Ein Mann würde randalieren. Königs
       Wusterhausen ist eine Stadt mit etwa 40.000 Einwohnern, 30 Autominuten
       südöstlich von Berlin. Die Webseite der Stadt preist das Wohnen „in
       idyllischer Lage“.
       
       Zwei Polizisten fahren vor, nehmen den angeblichen Randalierer fest, zwei
       Männer aus dem Wohnblock machen mit. Einer von ihnen, das ergeben unsere
       Recherchen später, ist der Mann im roten Pullover. Sie ringen den Mann zu
       Boden, der kriegt keine Luft mehr. Ein Krankenwagen bringt den
       Festgenommenen in eine Klinik im Berliner Bezirk Neukölln. Dort stirbt er
       einen Tag später.
       
       ## Deutschland überlebt der Moldauer nicht
       
       [1][Seit dem Frühjahr beschäftigt uns dieser Tod]. Weil der Mann nach einer
       Festnahme durch die Polizei gestorben ist. Weil unsere Recherche ergibt,
       dass sich die Polizei und die Staatsanwaltschaft widersprechen. Weil das
       Sterben von Menschen mit psychischen Problemen, mit nichtdeutschen Pässen
       infolge polizeilicher Maßnahmen zu oft nur unzureichend aufgeklärt wird.
       
       Vitali Novacov, so heißt der Tote, kommt aus der Republik Moldau. Er hat in
       Russland und in Bulgarien gearbeitet. Deutschland überlebt er nicht.
       
       Die taz bekommt kurz nach der Festnahme Dokumente aus der Klinik zu sehen,
       in der Vitali Novacov gestorben ist. Es sind Teile seiner Patientenakte.
       Sie zeigen: Die Ärzte in der Klinik glauben, Vitali Novacov sei erstickt
       durch die gewaltsame Festnahme.
       
       [2][Wir berichten exklusiv über diese Akten], der Innenausschuss des
       Brandenburgischen Landtags beschäftigt sich schließlich mit dem Fall. Die
       Familie von Vitali Novacov nimmt sich einen Anwalt, der erstattet Anzeige
       wegen Totschlags.
       
       Neun Monate nach dem Tod von Vitali Novacov sind wir nun erneut nach Königs
       Wusterhausen gefahren. Wir sind an weitere Unterlagen gekommen, Dokumente
       der Polizei und des Anwalts. Daraus ergibt sich ein genaueres Bild von dem
       Abend, an dem Vitali Novacov festgenommen wurde. Auch über die Ermittlungen
       erfahren wir mehr. Was wir in den Unterlagen lesen, lässt uns immer mehr
       daran zweifeln, dass bei dieser Festnahme alles mit rechten Dingen zuging.
       
       ## Todesursache: Sauerstoffmangel
       
       Die Meldung, die die Polizei in Königs Wusterhausen am Tag nach der
       Festnahme für die Öffentlichkeit herausgibt, ist knapp: Vitali Novacov habe
       sich „unberechtigt auf einem Grundstück“ aufgehalten und auf Gegenstände
       und Autos geschlagen. Er sei aggressiv gewesen. Nachdem Polizisten und
       Anwohner den Mann gefesselt hätten, sei der ohnmächtig geworden. In einem
       internen Bericht, der der taz nun vorliegt, schreiben die Beamten: Der
       Festgenommene habe sich „permanent Dreck und Sand“ in den Mund gestopft.
       
       Die Polizei stellt eine Strafanzeige gegen Novacov wegen Widerstand gegen
       Vollstreckungsbeamte. Dieses Verfahren läuft auch dann noch weiter, als
       Novacov längst tot ist.
       
       Als wir im April zum ersten Mal nach Königs Wusterhausen fahren, sagen
       einige Anwohner:innen, ja, es sei laut gewesen an jenem Abend, als die
       Polizei kam. Vitali Novacov lebte ebenfalls in dem Block, auf welchem
       Grundstück soll er sich also illegal aufgehalten haben? Wir begegnen dem
       Mann im roten Pullover, der sich über uns lustig macht.
       
       Wir kommen an Teile der Patientenakte aus dem Neuköllner Krankenhaus.
       Darin steht, im Blut von Vitali Novacov konnten weder Alkohol noch andere
       Drogen nachgewiesen werden. Und darin steht die Todesursache: „Schwerste
       anoxische Hirnschädigung“ – Sauerstoffmangel, ausgelöst „durch gewaltsames
       zu Boden Drücken von Kopf und Thorax in Bauchlage“.
       
       Wir erfahren, dass Polizisten in die Klinik gekommen sind und die Kleidung
       von Novacov mitgenommen haben. Eine Blutprobe haben sie auch genommen. In
       einem Amtshilfeersuchen der Brandenburger an die Berliner Polizei heißt es,
       eine Staatsanwältin aus Cottbus habe diese Maßnahmen angeordnet. Die
       bestreitet das auf Nachfrage der taz jedoch.
       
       ## Staatsanwaltschaft ermittelt gegen alle Beteiligten
       
       Ende April machen wir einen Freund von Novacov in Berlin ausfindig: Ivan
       C., die beiden kommen aus demselben Dorf im Süden Moldaus – 3000 Einwohner,
       zwischen Äckern und Weinbergen gelegen, ein Spielplatz, ein Fußballfeld,
       ein Gymnasium. Ivan C. sagt, dass Novacov nach Deutschland gekommen ist, um
       auf dem Bau zu arbeiten.
       
       Die beiden haben sich am Morgen des 11. April noch gesehen, Ivan C. wollte
       seinem Freund helfen, ein Konto bei der Sparkasse zu eröffnen. Das klappt
       nicht. Am Abend telefonieren die beiden nochmal. „Er hat gesagt, er geht
       bald ins Bett“, sagt Ivan C.
       
       Wir telefonieren mit dem Bruder von Vitali Novacov. Er erzählt von Vitalis
       15-jährigem Sohn. Für den habe sein Bruder vor allem gearbeitet, um ihm ein
       besseres Leben zu ermöglichen. Dass Vitali Novacov Drogen genommen hat, wie
       Anwohner:innen behaupten, glaubt sein Bruder nicht. Der habe nicht
       einmal getrunken, weil er keinen Alkohol vertrug. Vitali Novacov sei ein
       ruhiger Typ gewesen, gläubig.
       
       Widerspricht das den Darstellungen der Anwohner:innen und der Polizei?
       Oder redet da ein Bruder einfach nur zu gut über den, den er gerade
       verloren hat?
       
       Inzwischen wissen wir: Die Staatsanwaltschaft Cottbus ermittelt gegen den
       Mann im roten Pullover wegen Totschlags. Sie ermittelt auch gegen die zwei
       Polizisten und einen weiteren Anwohner – also alle, die an der Festnahme
       beteiligt waren.
       
       ## Polizisten sollen „gelogen und sich abgesprochen“ haben
       
       Und der Mann, der uns in Königs Wusterhausen im April verhöhnt hat, soll
       neben Vitali Novacov gekniet haben, als der gefesselt auf dem Boden lag,
       und ihm mit der Faust mehrmals ins Gesicht geschlagen haben. Das ergibt
       sich aus den bisherigen Ermittlungen der Polizei und der Staatsanwaltschaft
       in Cottbus. Der taz liegen Auszüge daraus vor.
       
       Demnach lief der Abend so ab: Die beiden gerufenen Polizisten sehen, wie
       Vitali Novacov vor seinem Wohnblock im Kreis läuft. Sie sprechen ihn an,
       wollen seine Identität feststellen. Novacov reagiert nicht. Ein Beamter
       springt ihn an, Novacov und die Polizisten gehen zu Boden, Novacov wehrt
       sich. Um ihm Handschellen anzulegen, drücken die Polizisten seinen
       Oberkörper auf die Erde. Novacov gerät in Atemnot. Die Beamten drücken
       seinen Kopf in den feuchten Sand, setzen Pfefferspray ein.
       
       Zwei Anwohner kommen dazu. Einer, der Mann mit dem roten Pullover, schlägt
       mit der Faust gegen Novacovs Kopf. Der blutet und wird ohnmächtig, er
       erleidet einen Atem- und Kreislaufstillstand. Die Beamten versuchen,
       Novacov wiederzubeleben, alarmieren den Rettungsdienst und später den
       Notarzt.
       
       [3][Im Mai erstattet der Anwalt von Novacovs Familie Strafanzeige],
       zunächst gegen unbekannt. Erst danach leitet die Staatsanwaltschaft Cottbus
       ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags ein. Ende August beschwert sich
       der Anwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg: Die
       Ermittlungen seien langsam, „tendenziös und unbrauchbar“.
       
       Noch am Einsatzort sollen die beiden Beamten, die mittlerweile als
       Beschuldigte gelten, die beiden anderen Beschuldigten, also die zwei
       Anwohner, vernommen haben. So steht es in der „Fachaufsichtsbeschwerde“,
       die der Anwalt verschickt. Außerdem, schreibt er, dürften die Polizisten
       „gelogen und sich abgesprochen“ haben, etwa bei der Frage, wann die
       Handschellen von Vitali Novacov gelöst wurden.
       
       Im Einsatzprotokoll des Notarztes und einer weiteren Zeugenaussage heißt es
       nämlich, die Handschellen hätten noch angelegen, als der Notarzt eintraf
       und Novacov bereits von Polizisten reanimiert wurde. Aus medizinischer
       Sicht wäre das fatal, eine Reanimation dürfte so weitaus schwieriger
       gewesen sein. Die Polizisten behaupten, sie hätten die Handfesseln früher
       gelöst.
       
       ## „Hochlöbliches“ Verhalten der Polizisten
       
       Der Anwalt fordert in seiner Beschwerde die Generalstaatsanwaltschaft in
       Brandenburg an der Havel auf, die Ermittlungen zu übernehmen. Doch die
       lehnt im September ab. Die Ermittlungen liegen weiterhin bei der
       Staatsanwaltschaft Cottbus. Die schreibt auf taz-Anfrage Anfang Dezember,
       der Sachstand sei unverändert.
       
       Auch in den zuständigen politischen Gremien kommt die Aufklärung nicht
       voran. Ende April tagt im Brandenburger Landtag der Innenausschuss. 15
       Minuten sprechen sie dort auch über den Polizeieinsatz in Königs
       Wusterhausen. Der Staatssekretär des CDU-geführten Innenministeriums nennt
       den Tod von Vitali Novacov ein „ausgesprochen tragisches Geschehen“. Es sei
       jedoch „hochlöblich“, dass die Polizisten versucht hätten, Novacov zu
       reanimieren.
       
       Der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses, Björn Lakenmacher (CDU)
       sagt, er zweifle nicht an der Darstellung der Polizei, sondern an der der
       Medien. [4][Er sei froh, dass in diesem Ausschuss nicht der Begriff
       „Polizeigewalt“ gefallen sei]. Lakenmacher hat in Königs Wusterhausen
       Abitur gemacht. Bevor er Politiker wurde, war er Polizist beim Land
       Brandenburg und arbeitete im Bundeskriminalamt.
       
       Im Dezember telefonieren wir noch einmal mit dem Bruder von Vitali Novacov.
       Er erzählt, sein Vater sei nach der Beerdigung zusammengebrochen, sie
       hätten ihn in ein Krankenhaus bringen müssen. Er sagt über seinen Bruder:
       „Ich kann bis heute nicht glauben, dass er nicht mehr da ist.“ Neun Monate
       nach dessen Tod hofft er noch immer auf Aufklärung.
       
       ## Beteiligte Anwohner teilen rechte Inhalte im Netz
       
       Wir versuchen erneut mit den Beteiligten des Abends zu sprechen. Dem Mann
       mit dem roten Pullover schreiben wir per Facebook. Dort postet er Fotos von
       Familienausflügen und Restaurantbesuchen. Er fragt einen anderen Nutzer, ob
       der etwa keine Waffen zur Verteidigung habe? Er selbst „schütze meine
       Familie und hab und gut“. Uns schreibt er nicht zurück.
       
       Der andere Mann, der bei der Festnahme dabei war, präsentiert sich bei
       Facebook als Rocker – breites Kreuz, tätowiert, Sonnenbrille. Er gibt an,
       als Waffenhändler zu arbeiten, und schwärmt in einer Diskussion von dem
       Buch „Rasse, Evolution und Verhalten“ des Kanadiers John Philippe Rushton.
       Rushton hat drei Menschenrassen erfunden und behauptet genetische
       Unterschiede zwischen ihnen. Sein Fan antwortet nicht auf unsere Anfrage.
       
       Anfang Dezember fahren wir wieder nach Königs Wusterhausen. Es liegt Schnee
       auf der Wiese, auf der Vitali Novacov festgenommen wurde und keine Luft
       bekam. In den Fenstern hängt Weihnachtsbeleuchtung. Der eine Anwohner macht
       nicht auf, als wir klingeln. Der Name des Mannes im roten Pullover, der
       Name des Mannes, der aufklären könnte, wie Vitali Novacov starb, steht
       nicht mehr am Klingelschild. Eine Nachbarin sagt, er sei weggezogen.
       
       24 Dec 2023
       
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