# taz.de -- Omas gegen Rechts: Bunte Omas, schwarzer Block
       
       > Antifaschismus kennt kein Alter, das beweisen die Omas gegen Rechts.
       > Unterwegs mit Frauen, die gegen die AfD kämpfen. Manchmal auch mit
       > Cha-Cha-Cha.
       
 (IMG) Bild: Die Omas gegen Rechts stellen sich klar gegen die AfD, wie hier auf einer Demonstration gegen den AfD Bundesparteitag in Magdeburg
       
       Der Gesang der Omas kommt überraschend. Herbstdonnerstag nachmittags,
       kühler Wind, der graue Tag streckt sich zur Dämmerung, und ein Ernst legt
       sich über die kleine Gruppe: 9. November. Eben liefen sie noch lustig durch
       die Stadt, erzählten Anekdoten, wechselten über Fahrbahnen, sammelten sich
       an Ampeln – jetzt kriecht Gefasstheit unter Funktionsjacken, in Filzmäntel.
       
       Auch ohne Herbstwind ist Chemnitz eine herbe Schönheit: Was der Zweite
       Weltkrieg übrig ließ, zerfurchte die Stadtplanung mit Verkehrsschneisen.
       Diese hier, Ausfallstraße nach Südwesten, ist nach Gustav Freytag benannt,
       öffnet sich vor der Nummer 3 zur breiten Kreuzung: stetiger Verkehr, zur
       Autobahn, nach Leipzig oder Zwickau.
       
       Nummer 3 ist ein grauer Riegel, schmale Flanke zur Straße, karger Charme
       der 1950er Jahre. Sieben ältere Menschen stellen sich zum Halbkreis, Rücken
       zur Fahrbahn, eine Aktion der Omas gegen Rechts. Zwei Männer, mutmaßlich
       Großväter, sind auch dabei. Es geht jetzt nicht um Gustav Freytag, seinen
       Roman „Soll und Haben“ von 1855 voller antisemitischer Stereotype, die
       Chemnitzer Omas gegen Rechts schauen auf den Boden. Zwischen Gehwegplatten
       sind zwei Stolpersteine eingelassen.
       
       Protest und Aktivismus, Erinnerungsarbeit, der bunte Strauß dessen, was zu
       politischem Engagement außerhalb von Parteien gezählt wird, wirkt oft wie
       eine Domäne der Jugend. Stimmt nur teilweise, erzählen Befragungen des
       „[1][Weizenbaum Reports“ zu politischer Partizipation] von 2022 oder der
       Bericht über politische und gesellschaftliche Partizipation [2][des
       Statistischen Bundesamts von 2021].
       
       Die Daten sind nicht ganz taufrisch, haben Covid und die
       Desinformationspandemie nicht endgültig verdaut, aber Tendenzen werden
       deutlich: alles meistens leicht rückläufig. Ende 2021 waren nur noch 13
       Prozent der Bürger*innen bei Demonstrationen, 5 Prozent weniger als im
       Jahr davor. Kaum mehr als fünf von hundert wollen Lebenszeit und Energie
       für Parteien und Bürgerinitiativen verwenden. Die Bereitschaft zum
       Engagement in sozialen Organisationen ist erneut gesunken.
       
       ## Besonders Ältere interessieren sich für Politik
       
       Das Bundesamt hat ermittelt, dass die 18- bis 29-Jährigen ein wenig
       häufiger bei Unterschriftensammlungen mitmachen, öfter zu Demonstrationen
       gehen, sich seltener in Vereinen engagieren als Ältere. Bei Parteien und
       Bürgerinitiativen sind es gerade 3 Prozent. Vor allem wenden sie sich sehr
       viel seltener an Politiker*innen, um sich zu beschweren oder Interessen
       anzumelden.
       
       Vielleicht wurzelt der Aktivismus der Älteren darin, dass es ab dem 60.
       Lebensjahr mehr Menschen gibt, die angeben, sich „sehr stark“ oder „stark“
       für Politik zu interessieren – Spitzenwert unter allen Altersgruppen. Einer
       aktivistischen Großmutter stellen sich trotzdem Fragen: Was treibt sie an,
       Zeit auf windigen Straßen zu verbringen, auf Demonstrationen Plakate
       hochzuhalten, sich gegen Aufmärsche von Rechten zu stellen?
       
       Immerhin ist jetzt eine Generation alt geworden, die oft noch gute Renten
       bezieht. Wenn sie Kinder hat, sind die längst aus dem Haus, die Großeltern
       könnten reisen, Tage mit Opernbesuchen und Ausstellungen füllen, ab und an
       Streuselkuchen backen. Erste Erkenntnis nach einem Nachmittag mit den Omas
       gegen Rechts in Chemnitz: Das machen sie auch. Aber es reicht ihnen nicht.
       
       Zum Treffen in einem der wenigen Cafés, in dem der Espresso beinahe
       schmeckt, ist ein Dutzend Aktivist*innen gekommen. Sie erzählen von den
       Ereignissen von 2018, Zusammenschlüssen von Rechtsradikalen mit Bürgern,
       gewalttätigen Demonstrationen.
       
       Die Polizei schaute eine Weile zu, [3][Menschen wurden bedrängt, gejagt,
       verprügelt.] Rechte Trupps patrouillierten durch die Innenstadt, die AfD
       lief neben Neonazis. Kurz danach trafen sich eine Handvoll Omas, inzwischen
       sind etwa 14 regelmäßig dabei. Die Fluktuation ist hoch, mal muss ein
       Partner länger gepflegt, mal ein Enkel betreut werden.
       
       ## Das Jahr 2018 als Schlüsselereignis
       
       Am Cafétisch macht sich Aktivistenstimmung breit: Sie lassen einander
       ausreden, bitten darum, Gedanken noch ausführen zu können; Handzeichen.
       Wenn man fragt, warum sich die Omas engagieren, schält sich eine Haltung
       heraus, die sich aus Lebensläufen speist: Britta Mahlendorff, geboren 1962,
       ist in Vorständen von Kleingartenverein und den Grünen, bietet
       Jugendbildung bei FAIREwelt Chemnitz an. Halbtags arbeitet sie als
       Regionalkoordinatorin für kirchliche Flüchtlingsarbeit, außerdem ist sie
       Referentin für politische Bildung im Evangelischen Forum. Auch halbtags.
       Wir sehen doch, sagt sie, dass man so etwas wie Gemeinwesen verteidigen
       muss.
       
       Die Erinnerung an den Schreck von 2018 wird immer mal wieder wach: [4][Im
       März 2023 verprügelten polizeibekannte Rechte drei Kulturmanager nach einer
       Konferenz, weil sie in der Innenstadt Englisch sprachen.] Im Jahr davor
       erklärte der Generaldirektor der Kunstsammlung ein paar Jungs, dass er
       weder ihre Hitlergrüße noch das Sieg-Heil-Gebrülle anregend fand. Sie
       schlugen auf ihn ein. Die Omas erinnern sich, wie schnell Rechtsextreme
       Massen in die Stadt mobilisieren konnten. Erzählen von Enkeln, die manche
       Ecken der Stadt am Abend mieden.
       
       Margitta Rühling, geboren 1944, hat lange als Bewährungshelferin
       gearbeitet. Als sie die Bilder im Fernsehen und in der Lokalzeitung sah,
       erkannte sie viele von denen, die bei den Rechten in der ersten Reihe
       standen. Sie hat da erst verstanden, sagt sie, dass das gewachsene
       Strukturen waren. Die waren alle organisiert und sind es noch.
       
       Die Idee zu den Omas gegen Rechts ist ein Import: Zuerst 2017 in Österreich
       gegründet, trommelte im Jahr darauf eine Aktivistin in Nagold im
       Nordschwarzwald die erste Gruppe in Deutschland zusammen. Sie erhielt
       Applaus und Hassbotschaften, rückte später für die SPD in den Rat der Stadt
       ein. Inzwischen, sagt zumindest ihre Internetseite, gebe es 15.000
       Mitglieder.
       
       Der Name ist nicht geschützt: In Berlin arbeitet eine Gruppe mit dem Zusatz
       „Deutschland-Bündnis“ neben solchen, die den Zusatz weglassen. Die einen
       sind ein eingetragener Verein, die anderen verstehen sich als loser
       Zusammenschluss. Warum sollte es anders sein als beim Protest der Jüngeren,
       Empörung bringt sie zueinander, in den Mühen der Organisation geht man sich
       auch mal auf die Nerven, manchmal trennt einen die Empörung wieder.
       
       ## Mit Cha-Cha-Cha gegen Höcke
       
       Wir sind uns klar darüber, sagt Birgit Gatz, geboren 1961, dass wir in
       unserem Alter nicht mehr überall vorneweg laufen können. Gatz hörte von
       ihrer Yogalehrerin vom ersten Treffen der Omas, ging direkt nach der Stunde
       hin. Da wusste sie schon, dass man in ihrem Alter eine beruhigende Wirkung
       auf Demonstrationen haben kann. Vielleicht etwas respektvoller behandelt
       wird.
       
       Birgit Gatz hat ihren Mann mitgebracht, nach Chemnitz und in die Runde –
       und er den singenden Tonfall seiner fränkischen Heimat. Konrad Gatz,
       Jahrgang 1947, sagt, seine Frau habe einen fantasievolleren Zugang zu all
       diesen Dingen, fantasievoller jedenfalls, als nur herumzubrüllen und zu
       pfeifen.
       
       Als Björn Höcke in Chemnitz auftrat, standen sie bei den Linken, nach einer
       Weile des Brüllens und Pfeifens merkten sie, dass ihnen die Energie
       ausging. Oder die Perspektive. Lass uns Cha-Cha-Cha tanzen, habe sie
       gesagt, so viel Kraft hatten sie noch, tanzten zwischen Polizei, Höcke,
       dessen Unterstützern, dem Schwarzen Block. Auf der nächsten Demo, erzählt
       Birgit Gatz, hätten sich Jüngere gefreut: Da sind ja die, die tanzen. Sie
       gingen häufiger zwischen die Linien bei den Konfrontationen, bunt angezogen
       zwischen Schwarzen Blöcken links und rechts. Manchmal könne das
       deeskalieren.
       
       Im Schnitt sind Chemnitzer*innen 52 Jahre alt, hier lebt die älteste
       Bevölkerung aller Regionen in Europa. Am Cafétisch und in der Stadt
       erzählen die Omas von einer schweigenden Mitte. Die wolle rechte Übergriffe
       eher nicht wahrhaben, fremdle vor politischem Engagement. Schon ihr
       Gruppenname macht da Probleme, es gibt hakelige Debatten über die
       Präposition: Man könne nicht nur gegen etwas sein. Die Diskussion flackert
       unter Omas und denen, die ihnen mit Sympathie begegnen, immer mal wieder
       auf.
       
       Wenn man eine Weile mit ihnen zusammensitzt, merkt man, dass die Runde viel
       für sich ist: Sie lernen, rechtsradikale Symbole zu erkennen,
       Sprachwendungen, rüsten sich gegen Parolen und Argumente. Und wollten
       schnell davon wegkommen, immer nur auf den Takt der Rechten, ihre
       Aufmärsche, ihre Aktionen zu reagieren: überlegen sich Lesungen, Workshops,
       Aktionen, die sie in die Stadt tragen. Im kulturellen Raum erzählen alle,
       mit denen man spricht, dass in Chemnitz rechte Begriffe oft den Alltag
       prägen.
       
       ## Protest im Alter ist nicht neu
       
       Margitta Rühling ballt kurz die Faust, denkt noch einmal an 2018: Wir haben
       uns so sehr über all die geärgert, die einfach neben den Nazis gestanden
       haben. Auch nicht weggingen, als die ihre Parolen brüllten. Ihr Vater war
       ein überzeugter Nationalsozialist.
       
       Birgit Gatz erzählt, dass sie auch mal den Schwarzen Block (links) davon
       abhält, sich zu vermummen. Ihr seid doch hübsche Jungs, ruft sie ihnen dann
       zu, steht doch zu eurer Haltung. Britta Mahlendorff wiederholt: Uns geht es
       darum, etwas für die Demokratie zu tun.
       
       Dann ist Aufbruch, in der ganzen Stadt werden Stolpersteine geputzt, die
       Gruppe trennt sich. Vor dem Tresen hält Mahlendorff kurz inne, erzählt,
       dass sie hier keine Flugblätter mehr auslegen könnten. Der Mann dahinter
       trägt eine halbe Entschuldigung im Gesicht, sagt, dass sie das jetzt so
       handhaben müssten. Sie hätten eben gern, dass Scheiben ganz blieben, nicht
       wieder beschmiert würden.
       
       Ein wenig Soziologie tut immer gut, und [5][Dieter Rucht erforscht seit
       vielen Jahren Grundlagen für Protest und Zivilgesellschaft.] Außerdem
       betreffe ihn Protest im Alter ja auch selbst, sagt er am Telefon. Rucht ist
       Jahrgang 1946, rollt noch das R des Allgäus.
       
       Kleiner Disclaimer gleich zu Beginn des Gesprächs: Über Aktivismus im Alter
       weiß die Soziologie wenig bis nichts. Er kenne überhaupt niemanden, der
       oder die das zum Gegenstand von Forschungen machen würde, sagt Rucht. Also
       keine Untersuchungen, nicht einmal jemand, der zum Thema arbeite. Ist
       Protest im Alter so neu? Rucht findet, nein: In Bergbaustädten Englands
       hätten ältere Menschen Proteste gegen Premierministerin Thatcher
       unterstützt.
       
       Es gebe immer lokale Themen – Bürgerinitiativen gegen Schließungen von
       Altersheimen zum Beispiel. Altersdiskriminierung, Rentenfragen hatten Graue
       Panther oder die Seniorenpartei vor Jahrzehnten in den politischen Raum
       eingespeist. Aber es waren Randphänomene – auf Länderebene oder
       republikweit gebe es heute keine altersspezifische Mobilisierung.
       
       ## Gedenken an Widerstandskämpfer
       
       Aber mit der [6][Boomergeneration] gingen jetzt viele in den Ruhestand, die
       bei großen Protesten der Nachkriegszeit vorn dabei gewesen wären. Menschen
       mit politischen Biografien, die zu organisieren verstünden. Sie hatten
       Arbeitsgruppen gegründet, bei Anti-AKW-Gruppen mitgemischt oder in der
       Studentenbewegung (hieß in den 1960er Jahren so, Frauen waren eher
       mitgedacht). Heute nähmen sie dann das ein, was Rucht eine generalisierte
       politische Position nennt: prodemokratisch, eher links, oft
       bündnisorientiert.
       
       Gustav-Freytag-Straße 3. Bevor sie singen werden, nimmt eine der Omas
       Blätter aus einer Plastikhülle, liest vor: Marek Muszkatblat, 1909 in
       Warschau geboren, Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Der Wind wird
       kühler, erste Regentropfen, alle schauen auf die beiden Stolpersteine im
       Gehweg, jemand holt Kiesel, damit die elektrische Kerze im Plastikbecher
       nicht wieder umfällt.
       
       Die Muszkatblats kamen Ende 1914 nach Chemnitz, 1929 begann Marek ein
       Medizinstudium, trat in die KPD ein, wurde 1932 „wegen kommunistischer
       Betätigung“ exmatrikuliert. Am 20. April, ausgerechnet. Tyla Wajdenbaum,
       geboren 1911, lernte er im Pariser Exil kennen. Sie heirateten, machten bei
       der Résistance mit.
       
       Ein kleiner Junge bleibt stehen, schüchtern, vielleicht zehn Jahre alt,
       dunkle Haut, Kapuze tief im Gesicht, fragt leise, um was es hier geht.
       Britta Mahlendorff erklärt ihm, dass sich heute überall in der Stadt
       Menschen an die erinnern, die von den Nationalsozialisten vertrieben,
       deportiert, ermordet wurden. Über 300 solcher kleinen Gedenkorte gibt es in
       Chemnitz inzwischen, gerade hat jemand mal wieder einen Stolperstein
       herausgerissen, der Staatsschutz ermittelt.
       
       Tyla Muszkatblat wurde 1942 verhaftet, Marek im Jahr darauf. Sammellager
       Drancy, Deportation nach Auschwitz: Tyla wurde im August 1942 ermordet,
       Marek fast auf den Tag genau ein Jahr später. Die beiden Steine im
       Plattenweg neben der Ausfallstraße haben die Chemnitzer Omas organisiert.
       Fußgänger kommen hier selten vorbei. Der Junge dreht sich, geht mit
       langsamen Schritten weg.
       
       ## „Das mit der CDU könnte passen“
       
       In Berlin-Adlershof sitzt Heike Mahlkow, geboren 1965, mit dem Rücken zur
       cremefarbenen Wand mit grauen Schleifspuren. Eine fensterlose Bäckereikette
       im Supermarkt, sonst hat alles schon zu. Mahlkow arbeitet ums Eck, sie ist
       Abteilungsleiterin innere Verwaltung im Jobcenter Treptow-Köpenick.
       
       Sie muss mal schauen, sagt sie, wie sie sich da einbringen kann, ein wenig
       Unsicherheit in der Stimme – sie stürzt sich öfter in Dinge, die ihr zu
       viel zumuten. Und hat chronische Migräne: keine gute Kombination. Eine
       Woche vor dem Treffen in der Bäckerei war sie das erste Mal auf der
       Monatssitzung der Omas von „KreuzKölln“. Da will sie jetzt mitmachen.
       
       Dort gibt es Frauen, die in der Sozialistischen Einheitspartei
       Westberlins waren, andere saßen in der Mutlanger Heide und protestierten
       gegen die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen. Heike Mahlkows
       politische Biografie ist anders: Sie wuchs in Köpenick auf, ihre Eltern
       waren in der SED, vom Sozialismus überzeugt. Dann warf die Partei ihrem
       Vater Verfehlungen bei der Disziplin vor. Kurz vor der Wende beendete
       Mahlkow ihr Studium der Finanzwirtschaft, Spezialisierung Staatshaushalt.
       Mit dem Ende der DDR war es für sie auch mit Parteien vorbei. Die waren
       dann nicht mehr so meins, sagt sie.
       
       Als ihre Söhne auf die Schule gingen, stürzte sie sich in die Elternarbeit,
       danach suchte sie sich eine Gruppe bei Amnesty International. Wie schätzt
       sie sich politisch ein? Immer links. Links von der Mitte. Angela Merkel
       wählte sie dann doch, eine ostdeutsche Frau, die sich gegen Männer und
       Widerstände durchsetzte. Mahlkow dachte: Jetzt bin ich auch etwas
       gesetzter, das mit der CDU könnte passen.
       
       ## Immer mehr Nachbarn wandern nach rechts ab
       
       Sie lebt am Stadtrand. Und der motiviert sie, zu den Omas zu gehen: In
       Rahnsdorf stehen Einfamilienhäuser, umkränzt von Gärten, davor größere
       Autos. Aber irgendetwas kippe da, aus dem Schweigen zu seltsamen
       Behauptungen sei öfter eine Haltung geworden: fest und überzeugt. Immer
       mehr Nachbarn, Bekannte reden, als wären sie jetzt bei der AfD, sagt sie.
       
       Auf einer Party im Sommer betete einer vor, [7][was Friedrich Merz später
       zum Grundübel der Gesundheitsversorgung erklären wollte:] Ältere Menschen
       bekämen keine Termine beim Orthopäden, alles voll mit Ukrainern. Die Fäden
       der wirren Diskussionen über Covid werden weitergesponnen: Die da oben.
       Schlimm. Und wir hier unten müssen es ausbaden. Am Gartenzaun Gerede
       darüber, was die Asylanten alles bekämen.
       
       Mahlkows Mann arbeitet auch beim Jobcenter. Wir wissen beide, dass das
       allermeiste, was so erzählt wird, Unsinn ist. Aber – sie robbt sich
       vorsichtig zu einem Thema vor, schneidet es an, umschifft es gleich wieder,
       als wolle sie für jedes Wort immer zwei zurücknehmen – was mich wirklich
       aufgerüttelt hat, sagt sie, sind Familienangehörige. Ihr Mann sei zwar bei
       der Orthopäden-Ukrainer-Tirade dazwischengegangen; richtig weit davon, was
       rechte Organisationen wie ein Mantra vor sich hertragen, siedeln aber
       längst nicht alle.
       
       Die Erzählung, dass Geflüchtete nur fürs Geld herkämen, den Staat, also
       unsere Steuern, wegschaffen würden, sickert in Unterhaltungen zu Hause.
       Nicht alle, sagt Mahlkow, sind so reflektiert, dass wir uns dann wieder auf
       vernünftige Argumente einigen können. Was sie machen würde, wenn ihre
       Freunde, vielleicht ihr Mann die AfD wählen würden? Heike Mahlkow stutzt,
       holt kurz Luft. Darüber hat sie noch nicht nachgedacht. Also mit ihrem
       Mann, da wäre dann schon ein Problem.
       
       ## Kekse gegen die AfD
       
       Mitte Dezember, beißende Kälte in Berlin-Neukölln: Auf dem schmalen
       Karl-Marx-Platz schreien Marktverkäufer letzte Mandarinen aus, am
       Richardplatz stehen Zeltdächer, Holzbuden, eine kleine Bühne. Wer zum
       Rixdorfer Weihnachtsmarkt will, kommt an einer Brandmauer vorbei,
       vielleicht eins vierzig breit, gebaut aus braunen Pappkartons, etwas über
       einen Meter hoch: 15 Omas der Ortsgruppe „KreuzKölln“ ziehen sich weiße
       Westen über, tragen die Broschen mit ihrem Schriftzug.
       
       Es wird die letzte Aktion des Jahres. Sie verteilen Kekse gegen die AfD,
       halten jedem, der vorbeikommt Zettel hin. Gedanken, Sprüche soll man da
       draufschreiben, wie man die Dinge so sieht und die AfD insbesondere. „Keine
       Akzeptanz für rassistische Partei“ hängt dort schon, eine Überschrift haben
       die Pappkartons auch, roter Edding, sorgfältige Schrift: „Damit niemand
       sagen kann, ‚Das habe ich nicht gewusst‘ “.
       
       Ein Jüngerer steht da, murmelt, dass er sofort gespendet hätte, eine
       Resolution unterschreiben würde. Aber einen Gedanken formulieren, nicht
       einfach. Heike Mahlkow drückt ihm das Klemmbrett in die Hand, lacht.
       
       Ein wenig angespannt, sagt sie, war sie schon. Man kann ihr dabei
       zuschauen, wie sie hin und her läuft. Die meisten hier sind sowieso gegen
       die AfD. Manchmal zieht sie sich nach einer Weile raus aus Gesprächen, die
       nur noch um persönliche Nöte kreisen. Sie will mit denen reden, die
       wackelig sind. Die sie vielleicht noch beeinflussen kann. Das Gesicht rot
       vor Kälte, begeistert.
       
       Gustav-Freytag-Straße 3, Innehalten, Rücken zum Verkehr, Omas und Opas aus
       Chemnitz holen Luft. Sie singen „Schalom chaverim“. Das Lied klingt zart
       zwischen rauschendem Verkehr, die Bilder vom 7. Oktober sind noch frisch.
       „Der Friede geleite euch.“ Ein Lied zum Gruß, zum Abschied. Wenn man sie
       fragt, sagen die meisten, dass sie sich sehr genau überlegen, wem sie
       erzählen, dass sie bei den Omas mitmachen. „Schalom chaverim“, das Lied ist
       so alt, dass man über seine Wurzeln wenig weiß. Man könnte meinen, es wäre
       schon immer da gewesen.
       
       14 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.weizenbaum-institut.de/media/Publikationen/Weizenbaum_Report/Weizenbaum_Report_2023.pdf
 (DIR) [2] https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/Downloads/datenreport-2021-kap-11.pdf?__blob=publicationFile
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       ## AUTOREN
       
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