# taz.de -- Anti-AfD-Proteste: Die Nazis sind leider klug
       
       > Extrem Rechte wissen die Schwachstellen der liberalen Demokratie zu
       > nutzen. Deshalb sind Wohlstandschauvinismus und Weiter-so keine Option.
       
 (IMG) Bild: Die Zivilgesellschaft ist aufgewacht: Protest gegen die AfD in Berlin am 21.01.2024
       
       Die Deportationsfantasien von Nazis in der AfD und ihrem Umfeld haben viele
       Menschen wachgerüttelt. Hunderttausende auch in kleineren Städten und auch
       im Osten [1][demonstrieren gegen Faschismus und Rechtsextremismus.] In
       vielen Medien wird diskutiert, ob und wie sehr die Demokratie bedroht und
       wie mit der Gefahr umzugehen sei. [2][Die Zivilgesellschaft ist wach
       geworden], nachdem es zuletzt fast danach aussah, als könnten die Rechten
       durchmarschieren.
       
       Dennoch ist zu befürchten, dass auch jetzt vor allem eingeübte Reflexe
       wiederholt werden und das eigentliche Problem mindestens teilweise verfehlt
       wird. Faschisten zu stellen, ihnen mit Argumenten zu kommen, seien sie auch
       brutal populistisch vereinfacht, läuft ins Leere, denn ihnen geht es um
       etwas anderes. Es geht ihnen ums Ganze.
       
       Liberale demokratische Ordnungen gewähren ihren Feinden Schutz und die
       gleichen Rechte wie ihren Verteidigern. Sie sind zugleich niemals moralisch
       einwandfrei, sondern geprägt von Streit, Widersprüchen und menschlicher
       Doppelmoral. Sie sind angewiesen auf eine wache und wachsame
       Zivilgesellschaft, funktionierende Institutionen und gut austarierte
       Kontrollmechanismen.
       
       Faschisten wie Martin Sellner und Björn Höcke wissen, dass solche
       demokratischen Gesellschaften Schwachstellen haben, und machen sich diese
       gezielt zunutze. Die Empörung über den Begriff der „Remigration“ ist
       angebracht, aber sie kommt spät, denn sowohl die Nachwuchs-Nazis der
       Identitären Bewegung, deren Sprecher [3][der Österreicher Sellner] lange
       war, als auch der gerichtsoffiziell als Faschist geadelte Geschichtslehrer
       Höcke sprechen und schreiben schon lange davon.
       
       ## Sie nutzen Pop- und Netzkultur
       
       Sie und andere Figuren der politischen Halbwelt wie der völkische Aktivist
       und Verleger [4][Götz Kubitschek] arbeiten seit Jahren an der
       Destabilisierung der Demokratie und haben dabei langen Atem bewiesen. Ihr
       Vorgehen ist leider klug, sie wissen Pop- und Netzkultur gekonnt mit der
       Strategie der historischen Faschisten zu verbinden, die Demokratie und ihre
       Akteure systematisch zu delegitimieren und verächtlich zu machen.
       
       Der Erfolg gibt ihnen recht, sie brauchen kein kohärentes Programm, es
       genügt, die politische Arena und das Netz mit ihrem menschenfeindlichen,
       rassistischen Müll zu fluten, um die gesamte politische Kultur dauerhaft zu
       beschädigen. Ihr einziges Gegenangebot: Sie setzen Vulgarität an die Stelle
       von Geist und niedere Beweggründe an die Stelle von Empathie.
       
       Die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge sollen bis zur Unkenntlichkeit
       verschwimmen, die „vollständige Umwandlung von Kultur in Schleuderware“
       (Franz Neumann) gipfelt schließlich in einem Nihilismus, der auch vor
       Zivilisationsbrüchen und Gewaltexzessen nicht mehr zurückschreckt. Die
       deutsche Vergangenheit wie die eingangs genannten Deportationsfantasien
       lassen grüßen.
       
       So weit, so schlecht. Das weitaus größere Problem ist aber, dass die
       globale Großwetterlage populistischen Demagogen nicht nur aus dem
       faschistischen Lager in die Hände spielt, bekanntermaßen nicht nur in
       Deutschland. Die relative Ruhe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist
       vorbei, im 21. Jahrhundert hat die Moderne wieder zu jenem atemberaubenden
       Tempo zurückgefunden, das sie bereits seit der industriellen Revolution
       hatte.
       
       ## Es ist schwer, Vertrauen in die Zukunft zu haben
       
       Eine vernetzte, hochkomplexe Welt, die sich in rasantem Tempo verändert und
       deren Zusammenhänge auch professionelle Beobachter kaum vollständig
       erfassen können, macht es schwer, Vertrauen in die Zukunft zu haben, die
       apokalyptische Dimension der globalen Klimakrise trübt die Perspektiven
       weiter ein. Hinzu kommt: Das planetarische Ausmaß der Probleme erzwingt
       auch planetarische Lösungen, nicht nur beim Klima.
       
       In der global vernetzten Welt wissen die Menschen im Globalen Süden nicht
       nur um die Verwüstungen der kolonialen Vergangenheit, sondern auch um die
       daraus resultierenden, bis heute bestehenden wirtschaftlichen
       Abhängigkeiten und die ungleich besseren Lebensbedingungen in den Ländern
       des Nordens. Dort ahnt man, dass es so nicht ewig weitergehen wird,
       freilich, ohne die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
       
       Ausnahmslos alle Parteien versprechen unentwegt, den „Wohlstand erhalten“
       zu wollen, mal garniert mit wohlfeiler Veränderungsemphase, mal mit
       unverhohlenem Wohlstandschauvinismus. Selten traut sich jemand, das Ausmaß
       der Veränderungen, jener, die stattfinden, und jener, die kommen, in vollem
       Umfang zu beschreiben – und wer es wagt, riskiert sein politisches
       Überleben. Der Hass auf die Grünen, der vor allem im Netz zu beobachten
       ist, zeigt das.
       
       In diesem Moment existenzieller Krisen beschwören Faschisten wie Höcke und
       Trump jenen Niedergang, den sie für ihre politische Existenz so dringend
       benötigen. Dass demokratische Aushandlung oft mühsam und nervenaufreibend
       ist, dient ihnen als Beleg ihrer grundsätzlichen Korrumpiertheit. Sie
       behaupten, für eine schweigende Mehrheit, für „das Volk“ zu sprechen, ihr
       eigentliches Ziel ist indes ein autoritärer Umsturz, eine dunkle Revolte
       gegen eine zerrissene Moderne.
       
       ## Die Ängste müssen übersetzt werden
       
       Sie haben keinerlei Idee von einer gelingenden Zukunft und versprechen dies
       auch nicht. Stattdessen entfesseln sie dumpfe Ressentiments im Schutz einer
       enthemmten Masse. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, hieß das bei den
       Nazis, „Terror von unten“ nannte es der italienische Antifaschist Ignazio
       Silone.
       
       Die vielen Demonstrationen und Diskussionen, die nun stattfinden, sind
       natürlich begrüßenswert und notwendig. Aber sie werden das Problem nicht an
       der Wurzel packen. Wohlstandschauvinismus und Weiter-so sind keine Option.
       Es braucht eine Erzählung, die Zukunftsängste übersetzt in
       Herausforderungen, die zu schaffen sind. Solange es keine wirkmächtigen
       Vorstellungen einer gelingenden planetarischen Zukunft gibt, wird die
       faschistische Gefahr jedoch weiterwachsen.
       
       25 Jan 2024
       
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 (DIR) Lukas Franke
       
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