# taz.de -- Neue russische Protestbewegung: Rote Nelke, weißes Kopftuch
       
       > Die Filmdoku „Put Domoi“ über eine Initiative von Soldatenfrauen zeigt
       > gesellschaftlichen Unmut in Russland und das Ausmaß der totalitären
       > Diktatur.
       
 (IMG) Bild: Screenshot aus dem Dokumentarfilm einer Protestbewegung von russischen Soldatenfrauen
       
       „Mein Mann spürt seine Beine nicht mehr. Er muss ins Krankenhaus. Aber
       nein, sie wollen ihn an der Front herrichten, damit er so schnell wie
       möglich aufs Neue eingesetzt werden kann. Helfen Sie mir, ihn nach Hause zu
       holen! Teilen Sie dieses Video“, fleht eine Frau um die 40. Eine Jüngere
       konstatiert: „Seit zwei Monaten habe ich keine Nachricht von meinem Mann.“
       
       Seit wenigen Tagen kann man auf dem Youtube-Kanal des russischsprachigen
       Senders „Radio Svoboda – Radio Liberty“ eine Dokumentation über [1][die
       russische Frauenbewegung] sehen: Sie heißt „Put domoi – zurück nach Hause.
       Wir sind die Frauen der zum Kriegsdienst Eingezogenen“.
       
       Im Zentrum des Films von Wladimir Sevrinovskij steht eine Aktivistin der
       i[2][m gesamten Land tätigen Initiative]. Sie beschreibt sich und ihren
       Mann als unpolitisch. „Aber die Politik erreichte uns“, beklagt sie bitter,
       als ihr Mann im September 2022 eingezogen wurde. Bis heute ist er an der
       Front, obwohl man ihm im örtlichen Wehrkreiskommando versicherte, dass er
       höchstens sechs Monate in der Ukraine eingesetzt würde.
       
       ## Alle schweigen
       
       An dieser Diskrepanz entzündet sich der Protest von „Put domoi“. Im
       Frühjahr hatte sich die Protagonistin des Films schriftlich an das
       Verteidigungsministerium gewandt, Lokalpolitiker um Unterstützung gebeten
       und die Presse informiert. [3][Als alle schwiegen, hatte sie verstanden:
       Ihr Anliegen ist tabu.]
       
       Sarkastisch erklärt sie im Film: „Offiziell sind circa 320.000 Soldaten an
       der Front. Denkt ihr wirklich, deren Frauen sind alle zurückgebliebene
       Landeier? Denkt ihr wirklich, unter ihnen ist nicht eine einzige Juristin
       oder Journalistin?“ Dann formiert sich seit dem Sommer vergangenen Jahres
       im Telegram-Kanal auch „Put domoi“.
       
       Zunächst ging es darum, sich gegenseitig zu unterstützen in der Sorge um
       die Männer an der Front. Seit November ist die Gruppe auch im öffentlichen
       Raum sichtbar. Jeden Samstagmittag um 12.00 Uhr finden sich überall in
       Russland Aktivistinnen in kleinen und großen Städten jeweils in der Nähe
       der großen Denkmäler ein, die an die Helden im Großen Vaterländischen Krieg
       erinnern. Ihr Erkennungszeichen ist ein weißes Kopftuch. Sie legen rote
       Nelken ab, als Mahnung an ihre Männer, die sie lebend wieder sehen wollen.
       
       ## Nur Floskeln von der Polizei
       
       Das wird von Vertretern der Staatsmacht als Provokation eingestuft. So
       zeigt die Doku, wie Moskauer „Put domoi“-Frauen einen Polizisten anbrüllen,
       der sie auf dem Weg zum ewigen Feuer aufhält, dem sie ihr Anliegen
       schildern und der nur Floskeln parat hat. Seit Monaten liegen die Nerven
       blank bei den Soldatenfrauen. Ihr Protest wird stärker.
       
       Inzwischen hat die Bewegung ein politisches Manifest veröffentlicht, das
       neben der Hauptforderung – sofortige Demobilisierung – auch auf die
       Einhaltung der Menschenrechte für Soldaten an der Front pocht. Außerdem
       fordern die Frauen ein durch die Verfassung garantiertes
       Demonstrationsrecht. Es ist ein Protest, der allmählich an Stärke gewinnt.
       
       Gerade, weil er sich nicht aus ideologischen Differenzen speist, sondern
       aus dem extremen Eingriff der kriegführenden Staatsmacht in das
       Privatleben, kann er dem Putin-Regime gefährlich werden. „Alle wollen nach
       Hause. Wir können nicht mehr“, sagt Soldat Alexander in einem Video, das
       Mitte Dezember auf Youtube hochgeladen wurde.
       
       Am Silvestertag kommt wieder ein Video von der Front. Soldaten danken darin
       „Put domoi“. Die Frauen schreiben zurück: „Wir wollen, dass ihr so schnell
       wie möglich nach Hause kommt. Egal, ob ihr gewonnen habt oder nicht.“
       Inzwischen wurde das Video von Alexander mehr als eine halbe Million Mal
       geklickt. Er ist seit Kurzem verschwunden. In Russland muss man dann von
       Verhaftung ausgehen.[4][[https://www.youtube.com/watch?v=2r4OathY4Kw]]
       
       11 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Politische-Gefangene-in-Russland/!5952420
 (DIR) [2] /Aktivistin-zu-Antifeminismus-in-Russland/!5974051
 (DIR) [3] /Dekolonisierung-der-russischen-Sprache/!5941267
 (DIR) [4] https://www.youtube.com/watch?v=2r4OathY4Kw
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katja Kollmann
       
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