# taz.de -- Neuer Roman von Haruki Murakami: Auch Einhörner müssen sterben
       
       > Haruki Murakami beendet sein vor vierzig Jahren begonnenes Werk. „Die
       > Stadt und ihre ungewisse Mauer“ handelt von unvollendeter Liebe.
       
 (IMG) Bild: Haruki Murakami in einer Aufnahme vom Oktober 2023
       
       Es ist nicht einfach, sich ein Bild von einem Ich-Erzähler zu machen, der
       uns nicht einmal seinen Namen verrät. So sind sie bei Haruki Murakami oft:
       männlich, gebildet und namenlos und oft mit Eigenschaften versehen (zum
       Beispiel einer gewissen Jazz-Affinität), die ihr Autor dem eigenen Leben
       entnommen und seinen Figuren ver- oder geliehen hat, Realität und Fiktion
       von vornherein verwebend und den Übergang von der einen in die andere Ebene
       verschleiernd.
       
       Dieses gegenseitige Durchdringen verschiedener möglicher Welten ist nicht
       nur ein typisches Verfahren bei Murakami; gleichzeitig ist es – neben einer
       unvollendeten Liebesgeschichte – auch das hauptsächliche Thema in seinem
       neuen Roman. Der Autor schrieb ihn zu einem großen Teil während der
       Coronakrise.
       
       Das erläutert er in einem seltenen Nachwort zum Buch und erklärt, dass er
       mit „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ eine Erzählung fortgesetzt habe,
       die vierzig Jahre zuvor geschrieben worden sei. Was als Frühwerk liegen
       blieb, ist nun als Alterswerk (der Autor ist mittlerweile immerhin 75)
       vollendet worden.
       
       Der erste Teil des Romans, also die ursprüngliche Erzählung, ist,
       ungewöhnlich genug, in Du-Form gehalten. Der Erzähler spricht ein Mädchen
       an, in das er sich verliebt hat, als er siebzehn Jahre alt war und sie
       sechzehn. Die Teenager lernen sich bei der Preisverleihung für einen
       Aufsatzwettbewerb kennen. Sie wohnen an verschiedenen Orten, sehen sich
       daher nicht oft, aber regelmäßig, und überbrücken die dazwischen liegenden
       Zeiten mit langen Briefen.
       
       Bei einem ihrer Treffen erzählt das Mädchen (auch sie bleibt namenlos)
       erstmals von „der Stadt“: Eigentlich, sagt sie, sei das, was der Junge vor
       sich sehe, nur ihr Schatten. Ihr eigentliches Ich lebe in jener Stadt. Sie
       arbeite dort in einer Bibliothek, in der die Träume der Menschen aufbewahrt
       würden. Auch der Junge könne, wenn er wolle, in die Stadt kommen, denn er
       habe die Fähigkeit, diese Träume zu lesen.
       
       ## Der Schatten in der realen Welt
       
       Gemeinsam schmücken sie die Stadt in ihrer Fantasie immer weiter aus, und
       der Junge schreibt alles auf. Bald darauf verschwindet das Mädchen spurlos
       aus seinem Leben. Und ehe er sich’s versieht, findet auch er sich in jene
       Stadt versetzt, wird zum Traumleser in der Bibliothek und trifft das wahre
       Ich des Mädchens, das ihn aber nicht wiedererkennen kann, da es ja nur ihr
       Schatten war, der in der realen Welt lebte.
       
       Der weitaus längere Rest des Romans spielt dreißig Jahre später und
       erweitert die Erzählung um mehrere Ebenen. Der Erzähler, längst zurück in
       der „echten“ Welt, ist inzwischen Mitte vierzig, hält sein Tokioter
       Angestelltendasein nicht mehr aus und zieht in einen entlegenen Ort in den
       Bergen, um die dortige kleine Bibliothek zu leiten. Sein Vorgänger auf
       diesem Posten, ein Herr Mitte siebzig, sucht ihn häufig auf, um längere
       Gespräche zu führen.
       
       Im weiteren Verlauf wird eine Frau eine (Neben-)Rolle spielen, mit der
       es zu einer sachten romantischen Annäherung kommt, sowie ein
       außergewöhnlicher Junge von sechzehn Jahren, den der Erzähler nach dem
       Aufdruck auf dem Shirt, das er trägt, immer nur den
       „Yellow-Submarine-Jungen“ nennt. Irgendwann aber stellt sich heraus,
       dass auch in dieser überschaubaren, beschaulichen Welt längst nicht
       alles so ist, wie es scheint …
       
       „Realistische“ Erzählelemente und solche, die als Symbole oder Metaphern zu
       deuten wären, sind nicht immer eindeutig zu unterscheiden. Der Autor selbst
       hat eine Verständnishilfe für diese Verfahrensweise in „Die Stadt und ihre
       ungewisse Mauer“ eingebaut, indem er seine Romanfiguren über „magischen
       Realismus“ – es fällt explizit der Begriff – sinnieren lässt und eine
       geradezu programmatische Szene aus einem Roman von Gabriel García Márquez
       zitiert, in der vorgeführt wird, wie zwei Wahrnehmungsebenen miteinander
       verschmelzen.
       
       ## Kontext der Weltliteratur
       
       Dass der Autor einen solchen Meta-Diskurs für nötig zu halten scheint, ist
       recht eigentümlich und mutet fast so an, als habe er das Gefühl, bisher oft
       nicht ganz richtig rezipiert worden zu sein, und als melde er damit auch
       seinen Anspruch an, unbedingt i[1][m internationalen Kontext der
       „Weltliteratur“] verstanden zu werden.
       
       Da ist es fast zu schön, um Zufall zu sein, dass fast zur selben Zeit, da
       Murakamis Roman auf den Tischen der deutschen Buchhandlungen landet, Hayao
       Miyazakis Animationsfilm [2][„Der Junge und der Reiher“] auf die Leinwände
       der hiesigen Kinos gekommen ist. Durch die gleichzeitige Rezeption beider
       Werke werden Parallelen sichtbar, die deutlich machen, dass Murakamis
       Schreiben bei aller Weltläufigkeit eben auch sehr japanisch ist.
       
       In der Welt der Anime-Filme, die mit ihren vielen Subgenres ein weites Feld
       zwischen Pop- und Hochkultur bilden, ist der Übergang der realen Welt ins
       Irreale beziehungsweise Surreale geradezu standardmäßig fließend. Und wenn
       man in diesem speziellen Fall Murakamis Buch und Miyazakis Film
       nebeneinander betrachtet, so ist den beiden Werken als zentrales Element
       gemeinsam, dass grundlegende Fragen und Leiden des Menschseins – Liebe und
       Tod, Einsamkeit und Verlust – über eine magische Fantasiewelt verhandelt
       werden.
       
       Bei Miyazaki geschieht das durch eine action- und figurenreiche Handlung,
       bei Murakami geht es eher meditativ zu. Aber auch viele Bilder, die er im
       Roman verwendet, lassen Anklänge an populäre Anime- oder Comic-Ästhetik
       erkennen. Ein besonders auffälliges Beispiel dafür sind die Einhörner, die
       in der Stadt mit der wandelbaren Mauer leben. Aber was bedeuten sie
       eigentlich, und wofür steht diese ganze imaginäre Welt? Ihre Symbolik
       scheint eingängig genug, ist aber nicht letztgültig aufzuschlüsseln.
       
       ## Eine Traurigkeit, die auch tröstet
       
       Ebenso wie die magischen Welten in „Der Junge und der Reiher“ bleibt
       Murakamis imaginäre Stadt und alles, was darin ist, für viele
       Interpretationen offen und nicht in eindeutige Begriffe übersetzbar. Im
       Übrigen ist die Stadt keine, in der unsereins gern dauerhaft leben würde.
       In ihrer Bibliothek gibt es keine Bücher, ihre menschlichen Einwohner essen
       nur eine Mahlzeit am Tag, die Winter sind fürchterlich, und die Einhörner
       sterben massenhaft an Kälte und Unterernährung.
       
       Zu schreiben, dass dies ein zutiefst melancholischer Roman ist, wäre fast
       untertrieben. Die Visionen des menschlichen Daseins, die er bietet, sind,
       bei Lichte betrachtet, reichlich deprimierend: Jeder und jede lebt einsam
       für sich dahin, erfüllte Liebe ist nirgendwo zu finden, und gut reden
       lässt es sich nur mit den Toten. Aber gleichzeitig wohnt auch diesem Buch
       jene verlässliche, seltsame Murakami-Magie inne, die bewirkt, dass seine
       tiefe Traurigkeit paradoxerweise gleichzeitig auch tröstlich schön ist.
       
       Das ist natürlich nicht zuletzt das Verdienst der Übersetzerin Ursula
       Gräfe, die seit vielen Jahren die coole erzählerische Gelassenheit des
       Murakami-Sounds ins Deutsche bringt.
       
       2 Feb 2024
       
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