# taz.de -- Opus magnum von Ursula K. Le Guin: Die Kluft zwischen den Lebenswelten
       
       > Ursula K. Le Guin gilt als Grand Old Lady der Science-Fiction. Ihr
       > Hauptwerk „Immer nach Hause“ liegt jetzt endlich in deutscher Übersetzung
       > vor.
       
 (IMG) Bild: Porträt der US-amerikanischen Autorin Ursula K. Le Guin
       
       Es hat fast vierzig Jahre gedauert, bis „Always Coming Home“, das Buch, das
       mit guten Gründen als Hauptwerk der 2018 verstorbenen Ursula K. Le Guin
       betrachtet werden kann, ins Deutsche übersetzt wurde. Le Guin, die
       zeitlebens als Grand Old Lady der US-amerikanischen Science-Fiction oder
       auch Fantasy galt, passte in Wirklichkeit in keine Schublade.
       
       Sicherlich war es „speculative fiction“, was sie schrieb, und in der Regel
       spielen ihre Stoffe in einer ziemlich fernen Zukunft; doch geht es bei Le
       Guin nicht um fantasievolle neue Technologien und im Grunde wohl nicht
       einmal um die Zukunft selbst, die letztlich eher als Metapher dient.
       
       Le Guins alternative Welten handeln von den grundlegenden Prinzipien
       menschlichen Zusammenlebens; und genau darin umkreist „Immer nach Hause“,
       so nun also der deutsche Titel, sehr facettenreich das Kerngeschäft der
       Autorin.
       
       Inspiriert von der ethnografischen Arbeit ihrer Eltern, insbesondere ihres
       Vaters Alfred Louis Kroeber, der als Professor für Anthropologie in
       Berkeley lehrte und forschte, beschreibt Le Guin in ihrem Opus magnum ein
       Volk, das zu unbestimmter Zeit in der Zukunft in Nordkalifornien „gelebt
       haben werden könnte“, wie es in der gelungenen deutschen Übersetzung heißt.
       
       ## Gedichte und Dramen der Kesh
       
       Die literarischen Mittel, die sie dafür wählt, sind ausgesprochen
       vielgestaltig. Prosa, Lyrik, Drama, alle literarischen Gattungen sind
       vertreten, denn die Autorin präsentiert ihre Erzählung vom fiktiven Volk
       der Kesh eben nicht als Erzählung über dieses Volk, sondern lässt dieses
       Volk selbst sprechen – in seinen Gedichten und Liedern, Dramen und
       Legenden.
       
       Nur ein verhältnismäßig winziger Teil des Buches, das viel zu experimentell
       ist, um „Roman“ genannt zu werden, ist aus der Perspektive einer externen
       Beobachterin geschrieben, einer Figur namens Pandora, die möglicherweise
       eine Zeitgenossin von uns sein – oder gewesen sein – könnte. Pandora aber
       bringt ihre eigene Geschichte nicht mit ein, anders als die wichtigste
       andere Figur im Buch, die sich „Erzählstein“ nennt.
       
       Erzählstein hat nicht immer so geheißen, das sei ihr Letztname, erklärt sie
       uns, und so erfahren wir fast als Erstes über die Kesh, dass die
       Angehörigen dieses Volkes im Laufe ihres Daseins ihre Namen an veränderte
       Lebenssituationen anzupassen pflegen. Erzählstein heißt so, weil sie
       nunmehr in einem Alter ist, in dem sie auf ihr Leben zurückblicken und
       davon erzählen kann.
       
       ## Parallelen zu den Native Americans
       
       Drei Teile dieser Lebenserzählung sind im Buch enthalten, vom behüteten
       Aufwachsen des kleinen Mädchens im Tal der Kesh in der Obhut von Mutter und
       Großmutter über ihr Erwachsenwerden in der kriegerisch organisierten,
       materialistischen Welt ihres Vaters, in der Frauen als Eigentum von Männern
       betrachtet werden, bis hin zu ihrer Rückkehr ins Tal, wo sie ihr altes
       Leben in gleichberechtigter Gemeinschaft und in arbeitsreicher, aber
       naturverbundener Subsistenzwirtschaft zufrieden wieder aufnimmt.
       
       Die Kluft zwischen der Lebensweise der Kesh und der in kalten Regeln
       erstarrten Welt der Dayao, in der Erzählsteins Vater ein großer Heerführer
       ist, spiegelt zweifellos den ganz realen Gegensatz zwischen den
       Lebenswelten der Native Americans, die Le Guins Eltern erforschten und
       dokumentierten, und jenen der europäischstämmigen Kolonisten.
       
       Die Technologie, auf die sich die fiktive Welt in „Immer nach Hause“
       bezieht, mag weiter vorangeschritten sein, doch die kulturellen Gegensätze
       darin sind alles andere als neu. Und weil wir die Welt der Dayao aus
       eigenem Erleben kennen, versammelt die Autorin ausschließlich die fiktiven
       kulturellen Zeugnisse jenes anderen Volkes, dessen Lebensweise so alt ist
       und so lange erfolgreich war, dass sie dereinst, wenn die Welt, die wir
       kennen, längst zerstört worden sein wird, vielleicht wieder erfolgreich
       werden kann.
       
       Gemäß Ursula K. Le Guins eigener [1][Tragetaschentheorie des Erzählens]
       (taz v. 11. 2. 2021), die im Anhang des Buches ebenfalls enthalten ist, ist
       es möglich, dieses dicke Buch so zu lesen, [2][wie auch immer es passt].
       Mal hier eine Erzählung, dort ein Gedicht, dann einen Teil von Erzählsteins
       Leben und den nächsten, um dann irgendwohin zurückzublättern und zu
       versuchen, sich vorzustellen, wie man diese Kesh-Dramen wohl in Szene
       setzen könnte – oder wie wohl ihre Sprache klingt.
       
       Tatsächlich dichtete Le Guin Liedtexte in Kesh-Sprache, die man sich sogar
       im Internet anhören kann. [3][Der Komponist Todd Barton] war so fasziniert
       von den eigentümlichen Musikinstrumenten der Kesh, dass er [4][einen
       umfassenden Soundtrack zum Buch] komponierte. Wie jedes andere Buch auch
       aber kann es natürlich einfach von vorne nach hinten gelesen werden.
       
       23 May 2024
       
       ## LINKS
       
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