# taz.de -- Personelle Aufrüstung in Schweden: Den Ernstfall vor Augen
       
       > In Schweden wird darüber diskutiert, dass das Land auf einen Kriegsfall
       > vorbereitet sein müsse. Der Nato-Beitritt steht bevor.
       
 (IMG) Bild: Schwedische Soldaten bei einer gemeinsamen Übung mit US-Soldaten im September 2023
       
       BERLIN taz | Die Nato-Türsteher haben endlich nachgegeben – Schwedens
       langes Warten auf Einlass wird bald Geschichte sein. [1][Die Zustimmung der
       Türkei ist seit Donnerstagabend amtlich] – „ein entscheidender
       Meilenstein“, twitterte Ministerpräsident Ulf Kristersson.
       
       Und Victor Orbàn hatte angesichts der türkischen Vorwärtsbewegung ja
       ebenfalls in dieser Woche mitgeteilt, dass auch Ungarn bald so weit sein
       werde. Das Timing passt, nach mehr als anderthalb Jahren des Hinhaltens,
       nun seltsam gut: In Schweden war der Januar 2024 geprägt von emotional
       geführten Debatten über Kriegsgefahr, Verteidigungsbereitschaft und die
       Notwendigkeit von batteriebetriebenen Radios.
       
       Den Anfang hatte zum Jahreswechsel schon die Frage um steigende
       Wehrpflicht-Quoten gemacht – was passiert, wenn nicht so viele junge Leute
       zur Armee wollen, wie die Pläne es vorsehen? Kaum hatte man sich noch
       einmal das Konzept Wehrpflicht vergegenwärtigt, schreckten ein paar Reden
       auf der jährlichen Sicherheitskonferenz „Folk och Försvar“ die Schweden
       auf. Es klang am ersten Januarwochenende plötzlich so, als rechne die
       Regierung quasi jederzeit mit einem Angriff aus Russland.
       
       „Ein bewaffneter Angriff auf Schweden kann nicht ausgeschlossen werden. Der
       Krieg kann kommen – auch zu uns“, sagte Verteidigungsminister Pål Jonson
       („Die Moderaten“). Mit der drohenden Gefahr durch Russland erklärte er
       nicht nur die fortgesetzte Unterstützung der Ukraine, sondern auch die
       Absicht, Schweden verteidigungsfähiger zu machen.
       
       ## Geografisch vage
       
       Bis hierher kennt man es so ähnlich aus Deutschland – erst im Oktober hatte
       Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) mit dieser Art Aussage
       aufhorchen lassen, allerdings beließ er es geografisch vager bei „Europa“.
       
       Und in Schweden war das auch noch längst nicht alles. Der Minister für
       Zivilverteidigung, Carl-Oskar Bohlin (ebenfalls „Die Moderaten“) machte aus
       der politischen Weltlage im Handumdrehen ein persönliches Problem für
       jeden: „Wer bist du, wenn der Krieg kommt?“ – diese Frage müssten alle
       Menschen in Schweden für sich beantworten können, forderte er.
       
       Das Bewusstsein dafür, wie ernst die Situation sei, müsse bei jedem
       einzelnen wachsen, und daraus müssten praktische Konsequenzen entstehen, so
       Bohlin weiter: Kommunen müssten sicherstellen, dass eine Notfallversorgung
       im Krieg funktionieren würde, Angestellte sollten ihre Arbeitgeber fragen,
       wo sie im Kriegsfall gebraucht würden, Privatpersonen sollen sich fragen,
       wo sie am nützlichsten sein könnten. Noch sei Zeit dafür, meinte Bohlin –
       doch dass die Vorbereitung auf den Ernstfall nicht schnell genug gehen
       könnte, sei eine Sorge, die ihn nachts wach halte.
       
       Er wurde für seinen alarmistischen Ton kritisiert, unter anderem vom
       früheren sozialdemokratischen Justiz- und Innenminister Morgan Johansson.
       Der sagte im schwedischen Fernsehsender SVT, diese Art Tonfall spare man
       sich üblicherweise für Situationen auf, in denen ein Krieg direkt vor der
       Tür stehe. Bohlin reagierte leicht beschwichtigend: Er habe nicht gemeint,
       die Schweden sollten nachts vor Sorge wachliegen, sondern sich der
       Ernsthaftigkeit der Lage bewusst werden.
       
       ## Auf alles vorbereitet
       
       Schwedens Oberbefehlshaber Micael Bydén legte dann allerdings nochmal nach:
       Er forderte ebenfalls bei SVT, die ganze schwedische Gesellschaft müsse auf
       alles vorbereitet sein. Die kritische Infrastruktur müsste im Kriegsfall am
       Laufen gehalten werden, und wer nicht direkt im Krieg eingesetzt werde,
       müsse auch als Zivilist etwas beitragen.
       
       Danach wurde in Schweden heiß diskutiert, wie dramatisch die Lage
       tatsächlich und wie mit der Aufregung umzugehen sei. Infrage gestellt wurde
       die Notwendigkeit der Warnungen nicht nur von Politikern: Der Kommentator
       der liberalen schwedischen Zeitung Dagens Nyheter meinte, er höre aus den
       Aussagen des Oberbefehlshabers eine heimliche Sehnsucht heraus, endlich die
       Kriegstauglichkeit der eigenen Armee ausprobieren zu können.
       
       Möglicherweise unerwartet kam eine ähnliche These dann aus Russland, wo der
       Parlamentarier Alexej Puschkow auf Telegramm Schwedens „Paranoia“ in Bezug
       auf Russland verhöhnte und die Vermutung anstellte, dass das schwedische
       Militär und einige Journalisten „fast vom Krieg träumten.“
       
       Doch nun waren die Warnungen in der Welt, begleitet von Nachrichten wie
       etwa der, dass Minister Bohlin die Zivilschutzbehörde MSB beauftragt habe,
       einen Plan zur Unterstützung ziviler Behörden zu entwickeln, die sich auf
       Kriegsorganisation umstellen müssen.
       
       ## Landesverteidigung als Pflicht
       
       Auch soll die sogenannte Zivilpflicht wieder eingeführt werden. Seit 2008
       war für diesen Teil der Verteidigungsbereitschaft niemand mehr ausgebildet
       worden. Zu Beginn soll der Rettungsdienst gestärkt werden.
       
       Hier sollen zunächst Menschen ausfindig gemacht werden, die eine Ausbildung
       beim Rettungsdienst gemacht haben, aber nicht mehr in dem Bereich arbeiten,
       wie es die Generaldirektorin der Nationalen Rekrutierungsbehörde Plikt- och
       Prövningsverket, Christina Malm, sagte. In Schweden gilt: Alle von 16 bis
       70 Jahren können im Kriegsfall zur Teilnahme an der Landesverteidigung
       verpflichtet werden – ob direkt in der Armee oder an ihrem Wohnort.
       
       Dass künftig wieder mehr junge Menschen zur militärischen Grundausbildung
       eingezogen werden sollen, um die Verteidigungsfähigkeit der Armee zu
       erhöhen, wurde schon vor vier Jahren beschlossen, kurz nach
       Wiedereinführung der Wehrpflicht.
       
       Noch sind es nur 5000 bis 6000 pro Jahr, die Zahl soll fünfstellig werden.
       Zur Frage, was passiere, wenn man nicht genügend militär-begeisterte junge
       Leute finde, zeigte sich Christina Malm ungerührt: Man könne nicht mehr nur
       nach der Motivation und dem Interesse einzelner Menschen gehen, sagte sie
       der Nachrichtenagentur TT. Das Militär habe Vorrang vor persönlichen
       Interessen. Sie erinnerte nochmal an das Prinzip Wehrpflicht: „Man soll
       nicht glauben, dass das freiwillig ist. So ist es nicht“.
       
       ## Seit zig Generationen
       
       Die Besonderheit: Schweden hält den Weltrekord in der historischen
       Disziplin „Zeit, die seit der letzten kriegerischen Auseinandersetzung
       vergangen ist“. Die Gewissheit, dass Krieg Schweden höchstens indirekt
       betrifft, gehört quasi seit zig Generationen zur Kultur. Umso schwerer
       wiegen die jüngsten Warnungen: Kann es wirklich sein, dass Krieg droht, zum
       ersten Mal seit 1814?
       
       Die Entscheidung, nach dem Beginn der russischen Angriffe auf die Ukraine
       im Februar 2022 die lang gehegte und geliebte Neutralität aufzugeben und
       sich auch offiziell dem Westen, also der Nato anzuschließen, hat gezeigt,
       dass die Zeiten sich geändert haben.
       
       Der damalige sozialdemokratische Verteidigungsminister Peter Hultqvist
       erklärte seine Abkehr von einem traditionellen Nein zu Schweden in der Nato
       damit, es gebe eben eine Zeit vor und eine Zeit nach dem 24. Februar.
       
       Noch während Schweden auf das Ende der Beitritts-Blockaden durch die Türkei
       und Ungarn wartete, wurde schon mit den USA bilateral über eine engere
       militärische Verbindung verhandelt – inzwischen unter der
       bürgerlich-konservativen Regierung von Ministerpräsident Ulf Kristersson
       („Die Moderaten“).
       
       ## Abkommen mit den USA
       
       Das Abkommen, der Defence Cooperation Agreement (DCA), regelt für den
       Krisenfall den Zugang zu 17 militärischen Einrichtungen in Schweden für die
       US-Armee. Nicht als dauerhafte Stützpunkte, aber Operationen von dort aus
       sollen für die USA im Krisenfall vereinfacht werden. Ein solches Abkommen
       haben auch Finnland, Norwegen und Dänemark mit den USA geschlossen.
       
       Dass die Menschen in Schweden den Ukraine-Krieg und seine internationalen
       Implikationen vielleicht nicht mehr richtig auf dem Schirm hatten und die
       Regierung sie nur einmal daran erinnern wollte, galt im Januar als
       wahrscheinliche Erklärung für die warnenden Töne des Kabinetts und
       Militärs.
       
       Da hatte aber längst eine Rekordzahl von Schweden die Broschüre „Wenn die
       Krise oder der Krieg kommt“ von der Website der Zivilschutzbehörde
       heruntergeladen. Im Radio erklärten Experten, was der Unterschied zwischen
       Vorrat anlegen und Hamstern sei.
       
       Lokalzeitungen hakten vor Ort nach: Ist es nicht falsch, dass in diesem
       militärisch genutzten Gebäude auch Büros an den örtlichen ambulanten
       Pflegedienst vermietet werden? Sind militärische Gebäude nicht legitime
       Angriffsziele? In den sozialen Medien kursierten zugleich satirische Videos
       über übertriebenes Preppen.
       
       ## Mehr Sicherheit, mehr Verantwortung
       
       Jetzt, nachdem auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg davon ausgeht,
       dass Ungarns Parlament bei seiner nächsten planmäßigen Sitzung im Februar
       als letztes Nato-Mitglied Schwedens Beitritt ratifiziert, widmen sich
       Medien in Schweden der Frage, was der Beitritt bedeuten werde.
       
       Die zusammen gefasste Botschaft des Senders SVT lautet: Mehr Sicherheit,
       aber auch mehr Verantwortung. Es dürfte etwas Zeit brauchen, bis die Nato
       die neuen Mitglieder Finnland und Schweden in ihre Verteidigungsstrategie
       integriert haben werde. Aber ans Warten ist zumindest Schweden ja
       inzwischen gewöhnt.
       
       26 Jan 2024
       
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