# taz.de -- Die Kunst der Woche: Der heimliche Familienmensch
       
       > Das Stabi Kulturwerk zeigt Franz Kafka von seiner Familienseite. Der
       > Fotograf Bryan Schutmaat sucht in „County Road“ die Nähe zu den
       > ländlichen USA.
       
 (IMG) Bild: Blick in die Ausstellung „County Road“ von Bryan Schutmaat
       
       „Den visionären Blick habe ich nur bei Blitzlicht“, spottete Franz Kafka
       über eine 1910 entstandene Porträtfotografie, die er seiner Verlobten
       Felice Bauer schickte. Bestürzend – selbst für Leute, die wie er meist
       unzufrieden mit dem eigenen Abbild sind – wie viele ausschließlich
       kritische Gedanken sich Kafka zu seinen Porträts gemacht hat. Jetzt können
       wir sie sehen, die bekannten, aber auch die bislang unbekannten, in einer
       [1][Ausstellung des Stabi Kulturwerks] in Berlin.
       
       Sie hat den Schriftsteller aber gar nicht so sehr im Blick. Vielmehr
       blättert die Ausstellung „Das Fotoalbum der Familie Kafka“ auf, von dem
       freilich nur für die Dauer der Ausstellung die Rede sein kann. Denn danach
       verstreuen sich die Bilder wieder, die von Nachfahren von Kafkas Schwestern
       Ottla und Valli stammen, aus der Bodleian Library Oxford, aus dem Nachlass
       des Verlegers und Kafka-Forschers Klaus Wagenbach und nicht zuletzt aus der
       Sammlung von Hans-Gerd Koch, Herausgeber von Kafkas Briefen und Kurator der
       Ausstellung.
       
       Er hat die Bilder der Vorfahren, also der Großeltern väterlicher- wie
       mütterlicherseits, an den Anfang gestellt. Dann sehen wir die Eltern, also
       die Familie Julie und Hermann Kafka und ihre Kindern. Neben den Onkeln,
       Tanten, Cousins und Cousinen werden wir schließlich auch mit den Familien
       der drei Schwestern bekannt. Sie alle sind dann auch in den Aufnahmen von
       Ausflügen und Reisen oder den Strandbildern aus der Sommerfrische an der
       Ostsee und schließlich den Kuraufenthalten zu sehen. Franz Kafka verdrückt
       sich gerne vor den Gruppenaufnahmen der Familie. Was ihm bei den Aufnahmen,
       die bei Ausflügen während der Sanatoriumsaufenthalte in seinen letzten
       Lebensjahren entstanden, nicht gelingt.
       
       Sein letztes Porträt vom Oktober 1923, das er seiner Mutter über die
       Schwester zukommen ließ, entstand im Fotoautomaten des Berliner Kaufhauses
       Wertheim. Die Aufnahme des wie immer gut gekleideten Schriftstellers mit
       seinem konzentrierten, aber offenen Blick ist längst eine Kafka-Ikone. Umso
       mehr verblüfft das winzige – selbstverständlich nur Passbild-große –
       Originalfoto, dessen weißer Rand an der rechten Seite etwas schief
       abgeschnitten wurde. Ein Dreivierteljahr später stirbt Franz Kafka am 3.
       Juni 1924, einen Monat vor seinem 41. Geburtstag.
       
       Unter den vielen Veranstaltungen, Symposien und Textproduktionen zu seinem
       100. Todestages in diesem Jahr, ist die Ausstellung mit ihren 130
       Originalfotografien wohl die überraschendste Erinnerung. Denn die Bilder
       widerlegen die berühmten Aussagen Kafkas über sein entfremdetes Verhältnis
       zur Familie und zum Vater. Die kosmopolitische Großfamilie, aus kleinen
       Verhältnissen ins Prager Bürgertum aufgestiegen, mit Verwandten in Madrid
       oder Paris und Cousins in Süd- und Nordamerika, ist einander ausgesprochen
       zugewandt, wie die zwischen die Bilder gesetzten Zitate aus Briefen und
       Tagebucheinträgen sowie die rege ausgetauschten Postkarten deutlich machen.
       
       Man besucht sich, auch gerne unangemeldet in der Prager Wohnung der Kafkas.
       Und wenn Franz Kafka die Verwandtenbesuche als eine gegen ihn gerichtete
       Bosheit beschreibt, so lässt er seinem Freund Max Brod doch wissen, dass er
       vorbeikommen müsse, der „sehr interessante Cousin aus Paraguay“ sei da. Der
       Autor steht nicht abseits, wie er es gerne darstellt, im Gegenteil, er ist
       fest in diesem Familienverbund verankert. Unter ein Foto, das ihm seine
       Mutter vom Aufenthalt des Ehepaars in Franzensbad schickt, schreibt der
       Vater „Auf der Reise nach Amerika“, eine Verbundenheit signalisierende
       Anspielung auf Kafkas Erzählung „Der Heizer“.
       
       Die Ausstellung und die Neuerscheinung aus diesem Anlass machen uns also
       mit dem bislang unbekannten, „heimlichen Familienmenschen“ Kafka bekannt
       und zeichnen so ein neues Bild von ihm. Tragisch, wie die Familie dann
       zerstört wird. Seine drei Schwestern werden im KZ umgebracht. Ein Onkel
       stirb nach einem Suizidversuch vor der Deportation, sein Sohn im
       Internierungslager in Frankreich. Aber, so zitiert Hans-Gerd Koch eine der
       überlebenden Enkelinnen: „Adolf Hitler wollte auch die Familie Kafka
       auslöschen, heute sind wir mehr als je zuvor.“
       
       ## Elegie auf Nebenstraßen
       
       Das Bild des Esels zeigt am rechten Bildrand ein großes, von einem
       Lidstrich à la Nofretete umrahmtes Auge. Es sticht aus der Fellmasse
       hervor, die zwei Drittel der Bildfläche einnimmt. Über dem Auge ist ein
       typisches Eselsohr zu sehen, das in das diffuse Licht des Himmels ragt. Ein
       ziemlich ungewöhnliches Porträt, aus nächster Nähe aufgenommen, aber dann
       doch distanziert in seiner paradoxerweise letztlich respektvollen
       Perspektive auf das Tier.
       
       Auf den Esel stieß der 1983 in Houston geborene Fotograf Bryan Schutmaat
       als er während der Pandemie auf verlassenen Nebenstraßen von Austin, wo er
       heute lebt, nach Leon County fuhr, wo seine Familie eine Farm besitzt. Die
       Aufnahmen, die unter dem Titel „County Road“ erstmals 2020 in der Lora
       Reynolds Gallery in Austin gezeigt wurden, sind jetzt in Berlin bei
       [2][Kominek] zu sehen.
       
       Bei den gerahmten Schwarzweiß-Abzügen im Format 30,5 x 42 cm handelt es
       sich, so könnte man sagen, um Feld-, Wald- und Wiesenfotografie. Mit dem
       Fotografen begeben wir uns auf sehr einsame Straßen durch Landschaften, die
       nicht erst seit der Pandemie verödet sind. Und dann halten wir vor einem
       verlassenen Gebäude, wie wir es aus Western oder von den Fotos von Walker
       Evans kennen. Es könnte tatsächlich einmal ein Kino gewesen sein.
       
       Ein zugemüllter Bach, zarte Bütenrispen und eine Frühlingssonne im Dunst,
       ein Autowrack, daneben die typischen Monoblocks vor der Wands eines
       leerstehenden Hauses und die ersten Blumen des Jahres sind weitere Motive,
       die Schutmaat mit der großen Fachkamera aufnimmt. Es dauert eine Weile, bis
       der große Holzkasten auf dem Stativ steht und aufnahmebereit ist, und diese
       Zeit scheint sich in der ruhigen, kontemplativen Atmosphäre der Bilder
       widerzuspiegeln. Er suche, sagt der Fotograf in einem Interview, ruhige,
       abgelegene Orte. Das Leben spiele sich zwischen den Blättern und Zweigen
       ab. Man habe da nicht das Gefühl, dass hier etwas nicht stimme.
       
       Und doch ist sein Werk über das ländlichen Amerika eine Elegie. Ein
       Klagelied, denn der Mensch, der in „County Road“ nirgendwo zu sehen ist,
       weil er sich zuhause verbarrikadiert, hat die Reichtümer des Bodens
       weitgehend erschöpft und die natürliche Umwelt größtenteils zerstört, wie
       Schutmaat es beobachten muss.
       
       6 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://stabi-kulturwerk.de/ausstellungen/
 (DIR) [2] https://www.kominekominekominek.com/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Brigitte Werneburg
       
       ## TAGS
       
 (DIR) taz Plan
 (DIR) Berliner Galerien
 (DIR) Franz Kafka
 (DIR) Berlin Ausstellung
 (DIR) Kunst Berlin
 (DIR) zeitgenössische Fotografie 
 (DIR) taz Plan
 (DIR) taz Plan
 (DIR) taz Plan
 (DIR) taz Plan
 (DIR) taz Plan
 (DIR) Kunst Berlin
 (DIR) taz Plan
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Kunst der Woche: Im Kräftefeld entfacht
       
       Ingar Krauss' Porträtfotos erkunden, wie wir in Erscheinung treten. Kerstin
       Drechsels meisterliches Kartenhaus steckt voller heikler Botschaften.
       
 (DIR) Die Kunst der Woche: Hoch, der Horizont
       
       Kerstin Honeit zeigt Berlin im Kreisel der Armut. Doch die Stimmen erheben
       sich. Sharon Stone beweist, dass sie sich auch in Malerei auszudrücken
       weiß.
       
 (DIR) Die Kunst der Woche: Muster und Mäuler
       
       Matisse in Grau und das Grau der Tauben bei James Krone. Alanna Lawley
       lässt Fabelwesen auf Hexen treffen. Friedlich ist ihre Frauengemeinschaft
       nicht.
       
 (DIR) Die Kunst der Woche: Was die U6 uns anspült
       
       Kunst an der Endstation: Auf dem U-Bahnhof Alt-Mariendorf hat mit „Halt
       21/7“ ein neuer Projektraum eröffnet. Das hätte auch Sokrates gefallen.
       
 (DIR) Die Kunst der Woche: Watte, Borsten, Farbenflut
       
       Bei den UdK-Abschlussklassen Bühnenbild wurde das Jobcenter in Watte
       gepackt. Sprüth Magers zeigt Artschwagers Überlegungen zu Zeichen und Raum.
       
 (DIR) Die Kunst der Woche: Sichtbar versteckt
       
       Karolina Jabłońska sucht bei Esther Schipper das ultimative Versteck. Bei
       Sprüth Magers stellt Sylvie Fleury Noten eines egoistischen Mackers aus.
       
 (DIR) Die Kunst der Woche: Figur und Mythologie
       
       Bad Boy Painting mit Zhao Gang. Kate Moss erscheint ganz anders im Bild.
       Und Josephine Baker ist als Bühnenstar und politische Akteurin zu erleben.