# taz.de -- Nahost-Debatten in Deutschland: Kein Freiraum für Kritik
       
       > Der Vorwurf des Antisemitismus wird in Deutschland inflationär verwendet.
       > Progressive Arbeit mit Menschen aus dem Globalen Süden wird so schwierig.
       
 (IMG) Bild: Zu viel Kritik für hiesige Verhältnisse: Forderungen nach Waffenruhe in Gaza bei der Berlinale 2024
       
       Diese Woche hätte in Frankfurt [1][die Global Assembly] stattfinden sollen,
       eine Zusammenkunft von Aktivistinnen aus aller Welt, um nach Lösungen für
       die dringlichen Herausforderungen unserer Zeit zu suchen: autoritäre
       Herrschaft und Demokratisierung, Klimagerechtigkeit und ökologische
       Transformation, Menschen- und Naturrechte. Die Versammlung musste
       kurzfristig abgesagt werden. Das ist sehr traurig, vor allem für jene unter
       uns, die sich von der Zukunft mehr ersehnen als Aufrüstung, Abschottung und
       Ausbeutung.
       
       Der Grund: Einige der Trägerorganisationen trieb die Sorge um, dass
       angesichts des polarisierten Diskurses hinsichtlich der Gewalt in Israel
       und Palästina eine offene Debatte mit unabsehbaren Risiken verbunden sein
       würde: „Unsere Absage ist eine traurige Konsequenz aus dieser Entwicklung.
       Wir werden damit der Verantwortung gerecht, die Möglichkeiten für eine
       wirksame globale Menschenrechtsarbeit nicht zu gefährden.“
       
       Die Entscheidung ist den Initiatoren (ich habe an der Vorbereitung
       mitgewirkt) alles andere als leichtgefallen. Zwei Jahre Arbeit und ein
       Blumenstrauß an Hoffnungen mit einem Schlag dahin und verwelkt. Die Sorge
       ist nicht von der Hand zu weisen. Lädt man achtzig Menschen aus dem
       Globalen Süden ein, lässt es sich kaum vermeiden, dass diese ihre Meinung
       frei äußern. Durch Kritik an verfehlter Politik, ungerechter
       Wohlstandsverteilung und ökologischer Zerstörung oder aber durch eine
       Solidaritätsbekundung für Palästina. Eine solche „Provokation“ würde im
       Schnellkochtopf der medialen Erregung im Nu zu einem Skandal
       zusammengedampft werden.
       
       Wir haben so etwas zuletzt öfter erlebt. Die Entscheidung fiel unter dem
       Eindruck der diesjährigen Berlinale. Es lohnt sich, mit einem gewissen
       Abstand auf den „Skandal der israelkritischen und propalästinensischen
       Interventionen“ während der Preisverleihung zu blicken. Was ist geschehen?
       [2][Ein israelischer Filmemacher spricht von „Apartheid“ im Westjordanland
       und fordert Deutschland auf, keine Waffen mehr an Israel zu liefern.] Diese
       und ähnliche Aussagen werden von Berlins Regierendem Bürgermeister Kai
       Wegner scharf verurteilt. Wenn ein israelischer Bürger von seinem
       demokratischen Recht, die eigene, rechtsextreme Regierung zu kritisieren,
       Gebrauch macht, will ihm ein hiesiger Lokalpolitiker den Mund verbieten.
       Die Enkelkinder der rabiatesten Antisemiten wollen die allerbesten
       Anti-Antisemiten sein. Die Erkenntnis, dass Besserwisserei auch ein Problem
       ist, lässt auf sich warten.
       
       ## Die meisten Menschen sehen beide Seiten
       
       Anstatt eine Debatte zuzulassen und zugespitzte Meinungen auszuhalten, soll
       eine Verbotskultur den Diskurs regulieren. Die Wortwahl der herrschenden
       Kritik war symptomatisch: „Diese Bilder, diese Töne will ich nicht aus
       Berlin sehen und hören.“ Ein Bürgermeister, der Sprechen und Zuhören mit
       einem Verkehrsleitsystem verwechselt. Solche Aussagen lassen sich nur durch
       Schwarz-Weiß-Denken erklären, durch die Vorstellung, dass es nur eine
       Option gibt, die bedingungslose Unterstützung der einen oder der anderen
       Seite. So als könnte von uns nicht verlangt werden, Empathie für alle Opfer
       und Empörung gegenüber allen Tätern zu empfinden.
       
       Die meisten Menschen verurteilen die Massaker der Hamas ebenso wie die
       Kriegsführung der israelischen Armee, empfinden angesichts der
       abgeschlachteten jüdischen Festivalbesucherinnen existenzielles Entsetzen,
       wie auch angesichts der von Bomben zerfetzten palästinensischen Kinder.
       Mitmenschlichkeit ist tief in uns verankert, weswegen es eines enormen
       propagandistischen Aufwands bedarf, um uns abzuhärten. Im Umkehrschluss
       gilt: Wer die Verbrechen der Hamas gutheißt oder die Grauen der
       israelischen Angriffswellen ohne Wenn und Aber rechtfertigt, hat an seiner
       Seele Schaden genommen.
       
       Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn Menschen, die sich dem Kampf
       um Gerechtigkeit verschrieben haben, der Ansicht sind, dass es momentan am
       notwendigen Freiraum fehlt für eine Versammlung diverser Meinungen und
       Positionen?
       
       Weltweit wird mit Unverständnis auf teutonische Besserwisserei und
       Zeigefinger reagiert. Zumal einige der hierzulande demaskierten Antisemiten
       kritische jüdische Intellektuelle sind. Wie anmaßend, den Nachfahren von
       Holocaust-Überlebenden vorzuschreiben, welche Vergleiche sie bemühen und
       welche Formulierungen sie verwenden dürfen. Inzwischen pfeifen es die
       Spatzen von schiefen Dächern, dass selbst Hannah Arendt heute des
       Antisemitismus überführt werden würde. Bekanntlich ist nichts gefährlicher
       als Intellektuelle, die sich ein Leben lang hinter aufklärerischen,
       weltoffenen, toleranten Werken verstecken, um eines Tages mit einer
       Unterschrift unter einem Protestbrief antisemitisch zuzuschlagen.
       
       ## Antisemitismus wird so nicht bekämpft
       
       Die regelmäßig geäußerte Behauptung, der Vorwurf des Antisemitismus sei
       keine Zensur, man könne ihm ja mit Argumenten begegnen, ist verlogen. Wir
       wissen alle, was für eine Wucht dieser Vorwurf in Deutschland entfaltet. Er
       kann ein Individuum, aber auch eine von öffentlichen Förderungen und
       Spenden abhängige Organisation zerstören.
       
       Eine weitere negative Folge ist die Lähmung progressiver politischer
       Arbeit, wie das Beispiel der abgesagten Global Assembly zeigt. Während die
       reaktionären Kräfte sich durch ein deftiges „Wird man doch mal sagen
       dürfen“ profilieren, wird progressives Engagement eher gelähmt. Das ist
       Gift für ein zukunftsgewandtes, um Alternativen bemühtes universell humanes
       Projekt.
       
       Zumal die Verengung der Debatten der Bekämpfung des Antisemitismus eher
       schadet. Wenn der Vorwurf des Antisemitismus inflationär verwendet wird,
       verwischen sich die Unterschiede zwischen einem strukturellen
       Antisemitismus und einer entschiedenen Verurteilung der Politik Israels.
       
       Wie [3][Meron Mendel] von der Bildungsstätte Anne Frank neulich warnte.
       „Wir bekämpfen eine Ideologie des Boykotts des Staates Israel. Nun wird
       versucht, mit den gleichen Mitteln dagegen vorzugehen, nämlich mit Boykott
       von denjenigen, die Israel einseitig kritisieren. Die Antwort auf Boykott
       kann nicht Boykott sein. Die Antwort auf Boykott kann nur Begegnung,
       Diskurs, Streit sein.“
       
       14 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.globalassembly.de/
 (DIR) [2] /Streit-um-die-Berlinale/!5993341
 (DIR) [3] https://www.youtube.com/watch?v=SHfiqGLEaGQ
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilija Trojanow
       
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