# taz.de -- Künstlerin über Erinnerungsort: „Spuren sind kaum noch sichtbar“
       
       > Gut 70.000 Menschen wurden in Bremen 1939-45 als Zwangsarbeiter
       > versklavt. Eine Intervention von Michaela Melián ruft sie in Erinnerung.
       
 (IMG) Bild: Ulrichsschuppen: Die Zeichnung ist per Maschine der Hand entfremdet
       
       taz: Frau Melián, wie kann ein Mahnmal wirken? 
       
       Michaela Melián: Schon das Wort „Mahnmal“ finde ich schwierig, weil es ja
       unmittelbar an einen erhobenen Zeigefinger denken lässt: Das Mal ermahnt
       uns. Für Bremen haben wir uns deshalb für die Formulierung „Erinnerungsort“
       entschieden.
       
       Die klingt etwas weniger didaktisch? 
       
       Es geht hier um [1][Ereignisse, die wichtig sind] und bei denen es auch im
       Interesse einer Gesellschaft liegen sollte, dass sie nicht in Vergessenheit
       geraten.
       
       Obwohl die sich darum im Fall der Kriegsgefangenen- und
       Zwangsarbeiter-Lager lange sehr bemüht hat? 
       
       Spuren dieser Ereignisse sind im Bremer Hafengebiet kaum noch sichtbar,
       jedenfalls nicht am alten Getreidehafen. Und man sieht ja sowieso nur, was
       man weiß. Hier geht es also darum, einen Ort zu markieren und mit anderen
       Spuren in der Stadt zu vernetzen, damit Menschen, die an dieser Geschichte
       interessiert sind, diesen Ort finden, dort hingehen und sich dann, wenn sie
       wollen, weiter informieren können. Der Gestaltungsauftrag für einen solchen
       Erinnerungsort delegiert ja an Künstler*innen eine hochpolitische
       Aufgabe, mit der Fragestellung: Was will und sollte eine Gesellschaft
       wissen und erinnern? Wie funktioniert so ein Kunstwerk als ästhetische
       Formulierung über die Gegenwart hinaus? Wie können wir an diesen Orten
       Sichtbarkeit herstellen?
       
       Zumal die Tatorte beseitigt wurden? 
       
       Die Orte sind ja nicht weg. Sie sind da mit ihren komplexen historischen
       Schichtungen. Alles, was passiert ist, ist, indem es unsere Gegenwart
       konstituiert, noch da. Das Hafengebiet in Bremen ist geformt durch
       Industrie- und Arbeitsgeschichte. Der Hafen war zentral für den Reichtum
       der Stadt, er hat sich über die Jahrhunderte verändert. Heute spiegelt er
       den globalen Waren- und Arbeitsmarkt wider. Aber über seine gewachsene
       Struktur können wir immer auch seine Geschichte erkennen. Für den
       Erinnerungsort ist jetzt seine Gewaltgeschichte Thema, Ereignisse, die,
       obwohl sie sich dem Ort eingeschrieben haben, vielleicht vergessen würden,
       weil er heute anders genutzt wird.
       
       Welche konkret? 
       
       In Bremen geht es um eine unvorstellbar große Menge von Menschen, die
       Zwangsarbeit leisten mussten, im Hafen, in der Industrie, in der
       Landwirtschaft. Insgesamt waren es um die 70.000 Zwangsarbeiter, heißt es.
       
       Der Ulrichsschuppen war nur eins von 40 Lagern allein im Bremer Westen, das
       ganze Netzwerk bestand aus 200 Lagern. Es in einem Kunstwerk zu
       konzentrieren, ist schwierig, zumal Denkmale ja selbst, [2][laut Robert
       Musil, den Hang haben, unsichtbar zu werden]. Wie vermeiden Sie, das Spiel
       der Verdrängung mitzuspielen? 
       
       Das Unsichtbarwerden passiert vielleicht automatisch, wenn wir täglich
       ermahnt werden sollen durch Mahnmale. Das kenne ich ja auch von mir selber,
       immer wieder an Denkmälern vorbeigegangen zu sein, ohne sie richtig
       wahrzunehmen. Im Prinzip kann ein Kunstwerk nicht leisten, dass Geschichte
       nicht verdrängt wird. Denn die Entscheidung, sich mit Vergangenem,
       Geschichten und ihren Kontexten zu beschäftigen, liegt ja bei jeder
       einzelnen Person. Erinnern ist eine Tätigkeit. Und so kann ich als
       Künstlerin vielleicht nur eine Markierung im Stadtraum schaffen, die einen
       Hinweis gibt und vielleicht neugierig macht auf eine komplexe Geschichte.
       
       Was bedeutet das für den Gedenkort? 
       
       Er muss neugierig machen, um zu funktionieren: Erinnern kann man nicht
       einfordern. Es ist also notwendig, das Interesse zu wecken der Leute, die
       vorbeikommen oder davon hören, damit sie nachforschen. Weitergehende
       Informationen werden dann woanders bereitgestellt – in Bremen zum Beispiel
       durchs Kulturhaus Brodelpott in Walle oder im Bunker Valentin. Denn diese
       Zwangsarbeiterlager sind auch Teil einer Sozial- und Industriegeschichte,
       sie sind Teil einer Geschichte von Kapital- und Warenverkehr, von Arbeit
       und Versklavung, von Vertreibung und Verschleppung. Das sind ja sehr viele
       komplexe Zusammenhänge, die da erforscht, eingeordnet und dargestellt
       werden müssen. Die künstlerische Aufgabe ist also für mich, einen Ort zu
       schaffen und zu gestalten, der all diese Zusammenhänge sinnfällig
       antriggert.
       
       Ihr Gedenkort ruft sie erst wieder ins Gedächtnis? 
       
       Es geht in Bremen darum, dass die Spuren der Gewaltgeschichte dieses Ortes
       nicht einfach ausradiert werden, wenn der Ort an die aktuellen Bedürfnisse
       angepasst wird. Gleichzeitig nimmt meine Arbeit in Bremen auch bewusst in
       Kauf, übersehen zu werden. Sie ragt nicht einfach in den Stadtraum, sondern
       liegt auf dem Boden und besetzt die 100 qm große Fläche mit der aus
       historischen Reichziegeln nachgebauten Fassade eines Ulrichsschuppens, der
       ursprünglich hier stand und abgerissen wurde. Umgeben wird dieser Gedenkort
       von hoch aufgetürmten Containern, die zur flach auf dem Boden liegenden
       Fassade einen sinnfälligen Kontrast bilden: Container dienen heute zur
       Lagerung von Waren und werden aber genauso als Module zur Unterbringung von
       Arbeitskräften verwendet.
       
       Wie kamen Sie 2018 zu dem Ort und diesem Anliegen? 
       
       Damals habe ich den Roland-Preis verliehen bekommen und Teil dieses Preises
       ist es, möglichst auch eine Außenarbeit für Bremen entwickeln zu sollen.
       Die Stiftung Bremer Bildhauerpreis hat mich auf Anregung der Leute vom
       Brodelpott, die schon lange zum Thema der Zwangsarbeit im Hafen forschen,
       gefragt, ob ich mir dieses Projekt vorstellen könnte. Eine solche Idee aus
       der Stadtgesellschaft zu übernehmen fand ich eine wunderbare Einladung und
       sehr viel besser, als wenn ich, von außen kommend, mit der Kulturverwaltung
       überlege: wo ich im Stadtraum eine Intervention machen könnte
       
       Zusammen mit der Außenarbeit ist auch eine Werkgruppe Nähmaschinenbilder
       zum Ulrichsschuppen entstanden …? 
       
       Wenn ich so ein großes Projekt erarbeite, sammle ich viel Material und
       erarbeitet mir das Thema mit vielen Skizzen. Ich war also mehrmals in
       Bremen, in den Archiven, in den Museen, im Bunker Valentin, denn ich muss
       mich ja mit dem Ort auseinandersetzen, für den dieses Projekt entstehen
       soll. Aus dieser Recherche sind dann eine Reihe von Zeichnungen entstanden.
       Diese Zeichnungen habe ich, das ist ein konzeptueller Ansatz, den ich schon
       lange verfolge, mit der Nähmaschine in Bilder übersetzt, also Bilder, die
       von einer Maschine produziert werden.
       
       Warum? 
       
       Mir ist wichtig, auf diese Weise wegzukommen von meinem eigenen Körper, von
       meiner Handschrift. Gleichzeitig bleibt es dennoch eine Zeichnung, die ich
       gemacht habe – in Zusammenarbeit mit einer Maschine.
       
       Ist Ihnen bei Ihrer Recherche in Bremen die große [3][Mahnmaldichte der
       Stadt] aufgefallen? 
       
       Das direkt nicht: Wohl aber kenne ich natürlich Bremens bedeutende Rolle
       für die Entwicklung der Kunst im öffentlichen Raum. Und das macht
       tatsächlich etwas mit einer Stadt, wenn Künstler*innen eingeladen
       werden, Arbeiten für [4][den Stadtraum zu formulieren.] Die Kunst wird hier
       sichtbar für alle und soll in diesem Fall auch eine Einladung sein, sich
       mit der Geschichte des Ortes auseinanderzusetzen.
       
       5 Apr 2024
       
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