# taz.de -- Geschichte der Psychoanalyse: Erfolg und Fluch
       
       > Dagmar Herzog hat in ihrem Buch die Entwicklung der Psychoanalyse
       > dokumentiert. Es ist außerdem ein packendes Zeitgeist-Panorama.
       
 (IMG) Bild: Klassisches Setting der Psychoanalyse
       
       Irgendwie sind wir alle verkorkst und wünschten, es etwas weniger zu sein,
       wir spüren, wie uns Prägungen und Charaktereigenschaften im Wege stehen
       oder wenigstens empfinden wir, wie Wünsche, Sehnsüchte und tiefsitzende
       Muster immer wieder in Widerstreit geraten können.
       
       [1][Sigmund Freuds Wissenschaft von der Topik des psychischen Apparats] –
       Ich, Es und Über-Ich – hat all das erstmals systematisch zu ergründen
       versucht, und die [2][Psychoanalyse] seither hat sich mit allem Möglichen
       beschäftigt. Mit frühkindlicher Sexualität, Ödipus und Penisneid, aber auch
       mit den neurotisierenden Wirkungen von gesellschaftlicher Realität, mit
       Gefühlen von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Angst. Sie hat sich mit dem
       autoritären Charakter beschäftigt, mit der libidinösen Anziehungskraft von
       Faschisten.
       
       Gilles Deleuze und Felix Guattari vermerkten in ihrem „Anti-Ödipus“, „in
       Wahrheit ist die Sexualität überall“, und die Zerrissenheit zwischen
       sexualisierter Obsession und neurotisch unterdrückten Wünschen führt zu
       Übertretungs-Lust: „Hitler brachte es zustande, dass den Faschisten einer
       stand – wie auch Fahnen, Nationen, Armeen … viele Leute aufgeilen.“
       
       Wilhelm Reich erkannte, dass der Faschismus keine rein reaktionäre Bewegung
       war, sondern „er stellt ein Amalgam dar zwischen rebellischen Emotionen und
       reaktionären sozialen Ideen“. Er spricht sowohl autoritäre Sehnsüchte an
       als auch antiautoritäre.
       
       ## Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie
       
       Die Psychoanalyse oder eine mit psychoanalytischen Kategorien operierende
       Gesellschaftstheorie hat zu vielen Aspekten der menschlichen Existenz
       Erhellendes zu sagen, nur leider auch sehr viel Widersprüchliches.
       
       Sie durch strenge Naturwissenschaft – etwa Pharmazie oder die Erkenntnisse
       der Neurowissenschaften – zu ersetzen, klappt auch nicht so recht, denn die
       haben letztlich „sehr wenig über entscheidende Merkmale der menschlichen
       Existenz zu sagen, etwa über konfligierende Wünsche, die Instabilität von
       Bedeutungen oder die stets rätselhaften Beziehungen zwischen psychischer
       Innerlichkeit und sozialem Kontext“, schreibt die US-amerikanische
       Historikerin Dagmar Herzog.
       
       In „Cold War Freud“ schreibt Herzog eine politische Geschichte der
       Psychoanalyse seit etwa den 1940er Jahren, also der Post-Sigmund-Freud-Ära.
       Es ist eine [3][Geschichte von Freuds Lehre zwischen Anpassung und
       emanzipatorischen Angriffen auf die herrschenden Verhältnisse]. Ein
       packendes Panorama. Unpolitisch war die Psychoanalyse nie. Für den
       Konservatismus war sie verdächtig, religiöse Frömmler fanden sie schier
       gotteslästerlich.
       
       Wer das Individuum aus Zwängen befreien wollte, die es knechteten, fand sie
       dagegen fruchtbar. Und mit einem progressiven Zeitgeist war die
       Psycho-Wissenschaft sowieso eng verbunden: Sie wandte sich der
       Innerlichkeit der Subjekte zu. Als „jüdische“ Wissenschaft war sie für
       Antisemiten ein rotes Tuch.
       
       ## Psychoanalyse in der Nachkriegszeit
       
       Umso erstaunlicher, was dann im Nachkrieg ab 1945 geschah. Aufgrund der
       Vertreibung war das Zentrum der psychoanalytischen Bewegungen von Europa in
       die USA verschoben worden. Und sie hat sich dort allmählich dem
       amerikanischen Zeitgeist der 40er und 50er Jahre angepasst. Radikalere
       Emigranten zogen den Kopf ein, um nicht aufzufallen.
       
       Im Klima der McCarthy-Meinungsdiktatur war der Druck noch stärker,
       konservative und christliche Psychoanalytikerinnen gewannen ihrerseits an
       Gewicht in der Branche. Die Psycho-Mode verschaffte dem Freudianismus einen
       Aufschwung, zog ihm allerdings den gesellschaftskritischen Stachel – mehr
       und mehr war die Psychoanalyse auf „Selbstoptimierung sowie ‚die Macht
       des positiven Denkens‘ ausgerichtet“, so Herzog.
       
       Thematiken wie Eros, Sexus, Libido wurden im Geist des
       Nachkriegskonservatismus unter den Teppich gekehrt. Herzog spricht von der
       „Entpolitisierung der amerikanischen Psychologie“. Bis dann die
       rebellischen Sixties wieder alles veränderten.
       
       Angepasste und homophobe Psychoanalytiker auf der einen, rebellische und
       emanzipatorische und Anhänger der sexuellen Revolution auf der anderen
       Seite lieferten sich wüste Gefechte. Streckenweise liest sich das Buch wie
       ein intellektueller Thriller voller bizarrer Paradoxien und wilder
       Neuerungen.
       
       ## Neurosen und Komplexe
       
       Die Nazis etwa hatten die „jüdische Wissenschaft“ verdammt, doch gingen
       wesentliche Erkenntnisse in die Psychologie und die Psychiatrie ein, wurden
       auch populär (Konzepte von „Neurosen“ oder „Komplexen“ etwa). In der
       Nachkriegszeit haben deutsche, postfaschistische Psychologen mit
       freudianischen Begrifflichkeiten viele Gutachten in Entschädigungsverfahren
       erstellt.
       
       Es wurde postuliert, dass „ein normaler Mensch“ belastende Erfahrungen in
       sechs Monaten überwunden hätte, weshalb einem KZ-Überlebenden, der schwer
       misshandelt wurde, der alle seine Angehörigen verloren hatte, eine
       „hypochondrische Einstellung“ attestiert wurde, statt einer schweren
       seelischen Verwüstung. Anderen wurde beschieden, es sei die Aussicht auf
       Opferrente, die dazu führe, „dass Menschen nicht gesund werden könnten“. Da
       war von der „Flucht in die Krankheit“ die Rede, weil diese
       „Krankheitsgewinn“ brächte.
       
       Häufig wurde argumentiert: Wer als Vierzigjähriger traumatisiert aus dem KZ
       kam, war wohl schon vorher verkorkst, da der Freud’schen Lehre entsprechend
       ja frühkindliche Erlebnisse und Prägungen für psychische Schäden
       verantwortlich seien. Entschädigungsanspruch läge deshalb keiner vor.
       
       ## Widersprüchliche Globalgeschichte
       
       Die widersprüchliche Globalgeschichte der Psychoanalyse zeigt auch, wie
       der große Erfolg zu einem Fluch werden kann. Die Popularisierung
       versimpelte die Psychoanalyse als Gesellschaftstheorie, der
       Theoriepluralismus, die Aufsplitterung in heterogene Schulen trug zu
       einem gewissen Niedergang nach dem „Zenit des Einflusses“ bei. Die
       Zentralität von Sexualität geriet etwas in den Hintergrund, und mit
       radikalem gesellschaftlichem Wandel stand auch die krankhafte Unterdrückung
       von Sexualität durch Spießigkeit und Konventionen weniger im Fokus.
       
       In hedonistischen Gesellschaften sind Probleme entfremdeten Sexuallebens
       einfach andere. Konsumismus, verdinglichtes Begehren, der Aggressionstrieb,
       der emotionale Stil, die seelische Verwundetheit von Kolonisierten – die
       Psychoanalyse zerfaserte sich produktiv in eine schier endlose Liste von
       Thematiken.
       
       So ist Herzogs Studie zu einer famosen Geschichte der letzten 80 Jahre
       Zeitgeist und Geistesleben geworden, von Frantz Fanon über Jacques Lacan,
       von Karen Horney über Alexander Mitscherlich bis Konrad Lorenz treten sie
       alle aus den Kulissen.
       
       24 Apr 2024
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Misik
       
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