# taz.de -- Feminismus in der Familie: War nicht alles gut, so wie es war?
       
       > Für unsere Autorin war Papa immer der Gute, Mama die Strenge – bis sie
       > Feministin wurde und sich der Blick auf die Rollen in ihrer Familie
       > änderte.
       
 (IMG) Bild: Mal nicht selbst kochen: die Autorin und ihre Mutter im Urlaub auf Gran Canaria Ende der 90er
       
       Ich liebe meine Spülmaschine. Jedes Mal, wenn ich ihren Startknopf drücke,
       bin ich ihr dankbar, dass sie meine Teller und Tassen wäscht und mich damit
       von wenigstens einer Alltagslast befreit. Umso näher war ich dem
       Nervenzusammenbruch, als meine Bauknecht vor wenigen Wochen laut zu piepen
       begann. Fehlermeldung, Neustart erfolglos. Allein die Vorstellung, bis zur
       Reparatur mein Geschirr selbst waschen zu müssen, versetzte mich in Panik.
       
       Dann dachte ich an meine Mutter. Als ich klein war, spülte sie nicht nur
       ihr Geschirr mit der Hand, sondern auch das von mir, meinem Vater und
       meinem Bruder. Jeden Tag, Jahr für Jahr. Bis sie irgendwann mit einer
       Schiene am Handgelenk nach Hause kam. Sehnenscheidenentzündung, hieß es,
       wegen Überlastung. Also mussten wir abwaschen, jeden Tag ein anderer.
       Theoretisch. Als mein Vater einmal dran war, schlug er mir einen Deal vor:
       zehn Euro, wenn ich seinen Spüldienst übernehme. „Ich habe keinen Bock“,
       sagte er zu seiner damals vielleicht zehn Jahre alten Tochter.
       
       Vor einer Weile hätte ich diese Anekdote noch als Beweis für den Witz und
       die Schlitzohrigkeit meines Vaters verstanden. Heute hinterlässt sie ein
       mulmiges Gefühl in meiner Magengegend – und eine vorsichtige Wut. War Papa
       ein Macho, Mama chronisch überlastet, meine Familie ein Fallbeispiel
       patriarchaler Rollenverteilung? Solche Fragen gehen mir immer wieder durch
       den Kopf, seit ich vor ein paar Jahren angefangen habe, mich mit
       [1][Feminismus] zu beschäftigen.
       
       Den Anstoß dazu hatte eine toxische Beziehung gegeben, an deren Ende ich
       ahnte: Dass ich unter diesem Mann so leide, liegt nicht daran, dass wir
       verschiedene Vorstellungen von Beziehung haben, sondern vor allem daran,
       dass er mich abwertete, weil ich eine Frau bin. Seitdem bin ich überzeugt:
       Gleichberechtigung erreichen Frauen nicht, indem sie sich behaupten,
       selbstbewusster werden oder fleißiger. Sondern indem die Gesellschaft als
       Ganzes die strukturellen Ursachen der Benachteiligung erkennt und
       aufbricht.
       
       ## Sprung in die Vergangenheit
       
       Die Fragen, die sich mir infolgedessen auch zu meinen Eltern und deren
       Partnerschaft stellten, schob ich immer wieder beiseite. Zu groß war die
       Angst vor den Antworten, die ich finden würde, wenn ich mit meiner
       feministischen Brille von heute auf die damalige Zeit schaute. Erst als ich
       vor meiner streikenden Spülmaschine stand, gewann die Neugier.
       
       Ich bin heute 30, meine Kindheit lag zwischen den 90er und 00er Jahren,
       zwischen Wiedervereinigung und Griechenland-Rettung, Ära Kohl und Ära
       Merkel. Es ist die Zeit, in der das zweite Gleichberechtigungsgesetz in
       Kraft tritt, das die Vereinbarkeit von Familie und Beruf befördern soll,
       1997 wird die Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Gleichzeitig werden
       weibliche Celebrities wie Britney Spears von der Öffentlichkeit
       fertiggemacht, Frauenzeitschriften erklären ihren Leserinnen, warum Männer
       zum Fremdgehen neigen, und die Filmreihe „American Pie“ vermittelt einer
       ganzen Teenagergeneration, was eine Milf ist. Das Akronym meint eine
       Mutter, mit der man Sex haben würde – so als würden sich Muttersein und
       Attraktivität erst einmal ausschließen.
       
       Was würde passieren, wenn ich den Sprung zurück in diese Zeit nicht allein
       unternehme, sondern gemeinsam mit meiner Mutter? Welchen Einfluss hätte das
       auf mein Bild von ihr und auf unsere Beziehung?
       
       Schauplatz meiner Kindheit ist ein 800-Seelen-Ort in Franken. Ein altes
       Fachwerkhaus, ein großer Garten mit Apfelbäumen und Johannisbeersträuchern,
       Seerosenteich, Terrasse, Scheune: Hier lebe ich ab 1993 mit meinem drei
       Jahre älteren Bruder und meinen Eltern. Im Sommer steht unsere Haustür den
       halben Tag lang offen, es riecht nach frisch gemähtem Gras oder Gülle. Der
       Soundtrack: ein Mix aus Vogelgezwitscher, Mähdrescher und ortseigener
       Blaskapelle.
       
       Wer hier lebt, ist in der Regel einheimisch, katholisch, konservativ. Meine
       Eltern sind nichts davon. Mein Vater kommt zwar aus Rom, kann mit dem
       Vatikan aber nichts anfangen. Meine Mutter stammt aus einer Kleinstadt bei
       Hannover und ist Protestantin. Er, Jahrgang 1954, bestreitet unseren
       Lebensunterhalt mit Antiquitätenhandel, ist leidenschaftlicher Musiker und
       heißt das Kiffen gut. Sie, Jahrgang 1960, arbeitet als Teilzeitkraft in
       einem Hotelschwimmbad, steht auf Naturheilkunde und sonnt sich im Sommer
       oben ohne im Garten. Unsere Erziehung fällt recht liberal aus. Statt auf
       Druck und Bestrafung setzen unsere Eltern auf Gelassenheit und Liebe. Sie
       sind keine Hippies, aber haben auch nichts mit dem CSU-Mindset der Nachbarn
       zu tun.
       
       „Im Vergleich zu anderen Eltern waren unsere schon progressiv“, sagt mein
       Bruder Julian, als ich mit ihm an einem verregneten Sonntag im März 2024
       auf unsere Kindheitsjahre blicke. Er war sofort bereit zu dem Gespräch, wir
       haben uns in Dresden verabredet, wo ich lebe. Julian sagt von sich selbst,
       dass ihm Gleichberechtigung wichtig ist und er mit klassischen
       Rollenbildern nichts anfangen kann. Trotzdem bin ich nun nervös. Muss das
       sein? Unsere Kindheit in der Zeitung auseinandernehmen? War nicht alles
       gut, so wie es war? Das, bin ich mir sicher, denkt auch Julian, während ich
       ihn frage, wie er heute auf die Rollenverteilung unserer Eltern schaut.
       „Diese Frage habe ich mir nie so grundsätzlich gestellt“, sagt er und
       überlegt ein paar Sekunden. „In bestimmten Dingen“, findet er, „war Papa
       halt ein klassischer Macho.“ Er habe nicht einmal gewusst, wie eine
       Waschmaschine funktioniert.
       
       Mein Bruder kann in seiner Erinnerung genauso wenig wie ich einen Vater mit
       Putzlappen, Wäschekorb oder Staubsauger in der Hand ausfindig machen.
       Rückblickend meint er, unser Vater hätte [2][mehr Care-Arbeit leisten
       müssen], ergänzt aber, unsere Mutter hätte ihm wenigstens nicht
       hinterherräumen müssen und unser Vater habe „widerspruchslos“ gekocht, wenn
       es sein musste. Während Julian diese Dinge positiv hervorhebt, denke ich:
       bare minimum! Zu Recht kritisieren Feministinnen, wenn Männer für Dinge
       gefeiert werden, die eben lediglich das Mindeste sind und bei Frauen für
       selbstverständlich genommen werden.
       
       ## Sie schmiert Brote, sein Tag beginnt selten vor 10
       
       Bei uns kümmert sich meine Mutter damals nicht nur wie selbstverständlich
       ums Kochen, die Wäsche und den Abwasch. Sondern auch darum, dass mein
       Bruder und ich regelmäßig zum Zahnarzt gehen, einen Schneeanzug fürs
       Skilager haben und ordentliche Schnellhefter fürs neue Schuljahr. Sie
       schmiert unsere Pausenbrote, achtet auf unsere Ernährung und überlegt mit
       uns gemeinsam, welche Fremdsprache wir im nächsten Schuljahr wählen
       sollten. [3][Sie ist – das merke ich beim Schreiben dieser Zeilen – unsere
       Managerin].
       
       Ein Job, der schon frühmorgens beginnt. Ob wir in der zweiten oder zehnten
       Klasse sind: Meine Mutter wartet auf uns um 6.15 Uhr am Küchentisch, hat
       Toast und Marmelade bereitgestellt und manchmal auch ein Glas selbst
       gepressten Orangensaft. Mein Vater liegt währenddessen im Bett. Sein Tag
       beginnt selten vor 10 Uhr. Das kann er sich erlauben, weil er selbstständig
       ist – und seine Frau die Care-Arbeit übernimmt. Muss er doch einmal
       einspringen, betrete ich nach dem Aufstehen immer mit dem gleichen Gedanken
       die Küche: Kriegt er das hin?
       
       Was nicht heißt, dass er sich keine Mühe gibt. An einem Morgen zum Beispiel
       hat er mir eine Kiwi aufgeschnitten und gezuckert. „Warum der Zucker?“,
       frage ich überrascht, während im Wohnzimmer der Fernseher läuft und seine
       erste Zigarette im Aschenbecher qualmt. „Weil die doch sonst so sauer
       schmeckt“, sagt mein Vater. Wohingegen meine Mutter, wenn ich als Kind Lust
       auf was Süßes habe, Naturjoghurt mit Marmelade oder einen Apfel
       vorschlägt. Mein Vater ist in solchen Momenten der Großzügige, sie die
       Strenge.
       
       Ähnlich sehen ihre Rollen aus, wenn es um unsere Haustiere geht. Als ich
       neun Jahre alt bin, ziehen zwei Kätzchen bei uns ein. Weil sie noch nicht
       geimpft sind, müssen sie die ersten Wochen im Haus bleiben. Stubenrein sind
       sie noch nicht. Und so beginnt der Tag meiner Mutter in dieser Zeit damit,
       dass sie noch vor dem Schmieren unserer Pausenbrote die Notdurft der Katzen
       sucht und aufwischt. Wie lästig das ist, kriegt mein Vater nicht mit. Der
       liegt ja noch im Bett. Auch wenn es in den Jahren danach darum geht, die
       Katzen am Abend in den Garten zu schicken, weil sie im Haus nachts Bambule
       machen, fühlt sich mein Vater nicht zuständig. „Die Katzen“, sagt er dann
       gern, „sind euer Bier.“
       
       Damals bin ich weder irritiert noch sauer auf meinen Vater. Wäre er heute
       noch am Leben, würde ich ihm Mackertum vorwerfen, ihn fragen, was das
       sollte. Ob es ihm auch so geht, frage ich meinen Bruder. „Ich denke, Papa
       war einfach ein bisschen faul“, sagt Julian, „und weniger sexistisch im
       Sinne, dass er dachte, das alles sei Frauenarbeit.“ Ich dagegen denke:
       Faulsein + die Frau machen lassen = sexistisch. Ob ihn das denn gar nicht
       wütend macht? „Na ja“, sagt Julian, „es wäre schon cool gewesen, wenn Papa
       gewusst hätte, wie die Waschmaschine funktioniert.“ Ein Satz, der so absurd
       klingt, dass wir beide laut lachen müssen.
       
       Aber was war damals überhaupt Standard in Sachen Rollenverteilung? Die
       Soziologin Jutta Allmendinger kommt in ihrem Buch „Es geht nur gemeinsam!
       Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen“ zu folgenden Zahlen:
       Während Frauen 1992 im Schnitt fast fünf Stunden am Tag mit Hausarbeit und
       rund zweieinhalb Stunden mit Kinderbetreuung beschäftigt waren, kamen die
       Männer auf etwa zweieinhalb Stunden im Haushalt und gute 45 Minuten mit den
       Kindern. Gleichzeitig lag die Erwerbstätigenquote Anfang der 90er unter den
       Frauen fast 20 Prozent niedriger als bei den Männern.
       
       Dass diese Rollenverteilung ein Ergebnis partnerschaftlicher Verhandlungen
       war, scheint unwahrscheinlich, wenn man Emilia Roig fragt. „In den 90ern
       war es selbstverständlich, dass die Mütter sich vorrangig um die Kinder
       kümmern“, sagt die Politologin, die in ihrem neuen Buch [4][„Das Ende der
       Ehe“] darlegt, wie das Patriarchat in heterosexuelle Partnerschaften
       hineinwirkt. Emilia Roig gehört wie ich zur Generation Y, die zwischen 1980
       und 1995 geboren ist. Care-Arbeit und die Frage, wer diese leistet, seien
       in diesen Jahren kein Gegenstand von Debatten gewesen, ein „Non-Thema“, wie
       sie sagt.
       
       ## Sorgearbeit ist auch emotionale Zuwendung
       
       Care-Arbeit bedeutet nicht nur Putzen und Pausenbrote schmieren, sondern
       auch emotionale Zuwendung. Hier kann mein Vater in meiner Kindheit punkten.
       Während meine Freundinnen ihre Väter nur am Abend und an den Wochenenden
       sehen, habe ich immer Zugriff auf meinen, weil er seinen Antiquitätenhandel
       von zu Hause aus betreibt. Wenn mir langweilig ist, gehe ich in sein
       Arbeitszimmer und er zeichnet ein Eichhörnchen auf einem Motorrad oder
       anderen Quatsch vor, den ich danach ausmalen kann. Wenn ich heule, weil ich
       Streit mit einer Freundin habe, nimmt er mich in den Arm.
       
       Und als ich noch zu jung bin, um die ersten Folgen „Germany’s Next
       Topmodel“ am Abend zu Ende zu schauen, erträgt mein Vater die Sendung bis
       zum Schluss und schreibt die Kandidatinnen, die kein Foto bekommen haben,
       auf einen Zettel, der am nächsten Morgen auf dem Küchentisch liegt. Mein
       Vater spielt den Clown an meinem Geburtstag und bringt mich einmal so sehr
       zum Lachen, dass ich auf unseren Flurteppich pinkele. Er geht mit mir Eis
       essen und auf den Flohmarkt und holt mich mit dem Auto nach der Schule von
       der Bushaltestelle ab, die keine fünf Minuten von uns entfernt liegt. Er
       fährt nicht nur mich nach Hause, sondern auch alle meine Freunde.
       
       Auch mein Bruder hat solche Erinnerungen. „Das war bei vielen meiner
       Freunde damals nicht so“, sagt er. Und trotzdem: Wo war unser Vater, als es
       um den Haushalt ging, unsere Schulangelegenheiten? „Ich glaube, Papa
       wusste, was er gut konnte“, sagt Julian. „Und was er nicht so gut konnte,
       hat er gern abgegeben.“ Was er demnach auch gut konnte: Versicherungen
       abschließen, grillen, Holz hacken, Regale bauen und unsere
       Faschingskostüme designen.
       
       Die Aufgabenverteilung meiner Eltern entspricht damals dem Skript vieler
       Familien, in denen laut Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach die
       Väter „mit Tätigkeiten zur Familienarbeit beitragen, die nicht unmittelbar
       dringend sind“, während die Mütter in den Aufgaben festhingen, die „ein
       hohes Maß an Dringlichkeit aufweisen“ – wie eben das Schmieren von
       Pausenbroten oder Wegwischen von Katzenkot. Dass Schutzbach sich in ihrem
       Buch [5][„Die Erschöpfung der Frauen“] auf heutige Paare bezieht, zeigt,
       wie schwer es ist, mit diesen Rollen zu brechen.
       
       Schwer, aber nicht unmöglich. Was, wenn sich Eltern eine gleichberechtigte
       Rollenverteilung fest vornehmen? Besuch bei meinen Bekannten Lisa und
       Peter. Er arbeitet 35 Stunden die Woche als Informatiker, sie macht aktuell
       ihr Lehramtsreferendariat. Sie sind Mitte 30 und haben einen einjährigen
       Sohn und eine sechsjährige Tochter.
       
       Darauf, „alte Geschlechterrollen zu reproduzieren“, haben sie keine Lust,
       sagt Lisa gleich zu Beginn unseres Gesprächs am Wohnzimmertisch, während
       der Nachwuchs schon im Bett liegt. Haushalt und Kinderbetreuung seien bei
       ihnen „relativ 50/50“ verteilt, Absprachen darüber, wer was übernimmt,
       nicht mehr nötig. „Wer morgens den Kleinen fertig macht und in die Krippe
       bringt“, sagt Lisa, „muss sich abends nicht noch das schreiende Bündel auf
       dem Wickeltisch antun.“
       
       Also alles ausgeglichen? „Lisa macht alles das deutlich mehr, was man heute
       unter mental load versteht“, antwortet Peter. „Welches Kind braucht
       Klamotten in welcher Größe? Wann steht die nächste Vorsorgeuntersuchung an?
       Solche Sachen.“ Er kaufe dann zwar die Klamotten und bringe das Kind zum
       Arzt, sagt Peter, aber bis zu diesem Punkt liege die Organisation zu 90
       Prozent bei Lisa. Die Ursache dafür vermutet er in der Elternzeit, die in
       beiden Fällen größtenteils seine Partnerin übernommen hat. Dadurch sei sie
       mehr oder weniger in die Rolle der Organisatorin gerutscht, und der mental
       load habe sich auf ihrer Seite „eingeschlichen“.
       
       Mein Blick wandert zu Lisa. „Es nervt schon“, gibt sie zu. „Aber oft habe
       ich auch keine Lust, zu sagen, was zu tun ist.“ Also tut sie es eben
       selbst. Ein Zustand, mit dem beide unzufrieden sind. Rückblickend, erzählt
       Peter, hätte er gern mehr Elternzeit genommen. Während der vier Monate mit
       seiner Tochter zu Hause habe er nicht nur genossen, Zeit mit ihr allein zu
       verbringen, sondern auch „Respekt vor Care-Arbeit“ bekommen.
       
       Wie kann es sein, dass selbst solche Eltern nicht vor dem Rückfall in alte
       Rollenbilder gefeit sind, die diesen unbedingt vermeiden wollen? Anruf beim
       Journalisten Tillmann Prüfer, der in seinem Buch „Vatersein. Warum wir mehr
       denn je neue Väter brauchen“ dafür plädiert, den neuen Feminismus als
       Chance wahrzunehmen, um die männliche Rolle in der Familie neu zu erfinden.
       „Paare sind von einer Gesellschaft umgeben, die sie in bestimmte Muster
       hineindrängt“, sagt Prüfer. Deshalb reicht es seiner Meinung nach nicht,
       wenn Eltern heute für sich beschließen: Wir machen es anders! Vielmehr
       müsse sich der Rest der Gesellschaft mitbewegen. Passiert das nicht, „wird
       es die neuen Väter nur in bestimmten Milieus geben“, sagt Prüfer. „Das sind
       dann die, die im Prenzlauer Berg barfuß mit ihren Kindern auf dem
       Spielplatz sitzen und in Vätercafés gehen.“
       
       Dass es vielleicht auch die Bilder in unseren Köpfen sind, die die neuen
       Väter verhindern, legt eine 2023 in der Zeitschrift „Sex Roles“
       veröffentlichte Metaanalyse zum Thema mental load nahe. Als einen zentralen
       Faktor für die Ungleichverteilung von Care-Arbeit nennen die Autoren darin
       die Tatsache, dass diese Form von Arbeit nach wie vor als Frauenarbeit
       eingestuft wird – und zwar von Studienteilnehmern beider Geschlechter.
       Lastet der mental load dadurch dauerhaft auf den Schultern der Frauen,
       führt das bei diesen zu vermindertem Wohlbefinden, emotionalem Stress und
       Beziehungszufriedenheit, so die Forscher. Die Journalistin und Autorin
       Teresa Bücker geht in dem Sammelband „unlearn patriarchy“ noch weiter:
       Solange Care-Arbeit in Familien Sache der Mütter bleibt, verzichten diese
       nicht nur auf Sehnsüchte, sondern auch auf [6][„existenzielle Ressourcen“
       wie Zeit], berufliche Entwicklung, Geld.
       
       Doch was, wenn meiner Mutter solche Dinge gar nicht wichtig waren? Sehe ich
       Probleme, wo gar keine sind? Ich setze mich in den Zug nach Franken. Als
       ich meiner Mutter vor zwei Monaten am Telefon von der Idee für diesen
       Artikel erzählt habe, schoss es direkt, wie eine Verteidigung, aus ihr
       heraus: „Aber ich habe es doch gern gemacht!“ Ähnlich klingt sie, als wir
       jetzt, im April 2024, zusammen in ihrer Küche sitzen. Ihre Haare sind
       ergraut, und ihr Gesicht hat zarte Falten bekommen.
       
       „Ich war damals sehr zufrieden in meiner Rolle“, sagt sie gleich am Anfang
       unseres Gesprächs. „Aber man hat auch nichts gesagt, wenn man erschöpft
       war.“ Dabei hätte sie „schon mehr Entlastung gebraucht“.
       
       Die erste große Erschöpfung, erinnert sich meine Mutter, spürt sie, als ich
       zwei Jahre alt bin. Die zweite, nachdem sie und mein Vater das Haus samt
       Grundstück gekauft haben, wo wir vorher zur Miete gewohnt hatten. Neben
       Haushalt, Kindern und Katzen muss sich meine Mutter jetzt auch um einen
       riesigen Garten kümmern. Und weil der Kredit für den Hauskauf abbezahlt
       werden will, muss sie mit ihren Stunden hochgehen. Eine Zeit lang arbeitet
       sie in zwei Hotels gleichzeitig.
       
       Meine Mutter nimmt mich in unserem Gespräch mit in ihren damaligen Alltag:
       6 Uhr aufstehen, Kinder für die Schule vorbereiten, Katzen versorgen,
       Haushalt machen, 12.30 Uhr in die Stadt fahren, Großeinkauf, 14 Uhr
       Schichtbeginn, 22.30 Uhr zurück nach Hause, bei Schnee im Winter die
       Zufahrt zum Haus freischaufeln, Einkauf wegräumen, Küche sauber machen,
       vielleicht auch noch das Katzenklo. „Bis ich im Bett war, war es manchmal 1
       Uhr. Und dann konnte ich oft nicht einschlafen.“ Ob sie meinem Vater gesagt
       hat, wie gestresst sie war? „Ein Mal.“ Aber da sei sie nicht zu ihm
       durchgedrungen. „Mir hat auch die Stärke gefehlt, öfter Nein zu sagen.“
       
       Während ich meiner Mutter zuhöre, bildet sich ein Kloß in meinem Hals.
       Tränen schießen mir in die Augen. Mein Puls rast. Nicht nur die Tatsache,
       dass sie zeitweise so überlastet war, bricht mir das Herz, sondern vor
       allem, dass es niemanden interessiert hat. „Es wurde damals nicht über
       solche Themen geredet“, betont meine Mutter. „Es war selbstverständlich:
       Die Frau macht dies, der Mann macht das.“
       
       So habe sie es gelernt in einem Elternhaus, in dem die Mutter ihre vier
       Kinder mehr oder weniger allein großgezogen hat. Ob meine Mutter
       Wertschätzung für ihre Care-Arbeit erfahren hat – [7][abgesehen vom
       Muttertag]? „Nein“, sagt meine Mutter und schweigt für einen Moment. „Sie
       wurde ja gar nicht gesehen.“ Ein Satz, der mich fertig macht. Was ich höre,
       klingt für mich wie ein Skandal, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
       
       Auch ich bin als Kind blind für die Care-Arbeit meiner Mutter. Was ich aber
       sehe, ist ihre Anspannung, die ich mir damals nicht erklären kann. Zum
       Beispiel als ich sie um einen Eintrag in mein Poesiealbum bitte. Mein Vater
       hat sich kurz davor in dem Album verewigt, zwei Seiten lang in Schönschrift
       mit Foto und Herzchenaufklebern. Dementsprechend gespannt bin ich auf den
       Eintrag meiner Mutter, die das Büchlein genervt entgegennimmt und mir nach
       fünf Minuten wieder in die Hand drückt. Das Ergebnis: Ein schlichtes „Hab
       dich lieb!“ Ich erinnere mich nicht mehr, wie alt ich damals bin – aber an
       meine Enttäuschung.
       
       Heute sehe ich den Kontext. Als ich meiner Mutter das Poesiealbum gebe,
       kocht sie gerade. Generell ist sie eigentlich immer beschäftigt. Den
       Einkauf wegräumen, die Katzen füttern, den Küchentisch abwischen, das Brot
       aus dem Gefrierfach holen. Wenn ich heute an meine Mutter denke, sehe ich
       eine Frau, die immer in Bewegung ist, die, während sie die eine Aufgabe
       erledigt, in Gedanken schon bei der nächsten ist. Wenn ich an meinen Vater
       denke, ist das Bild still und er entspannt.
       
       ## Die dritte große Erschöpfung – der Burn-out
       
       Wenn das alles nicht nur Frage des Charakters ist, sondern der Prägung:
       Welches Bild würde ich heute abgeben, wenn ich Kinder hätte? „Ich bin auch
       mit dem Archetyp der tollen Mutter großgeworden, die sich aufopfert“,
       erzählt Autorin Emilia Roig während unseres Videogesprächs. „Heute denke
       ich, es wäre gut gewesen, wenn meine Mutter auf ihre eigenen Bedürfnisse
       besser geachtet und sie nicht als unterste Priorität behandelt hätte.“
       Folgt man den Worten der Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach, würde
       das allerdings mit dem kollidieren, was der Großteil der Gesellschaft auch
       heute noch von Müttern erwartet: permanente Fürsorge und Verfügbarkeit.
       
       Dass meine Mutter mir erstmals nicht zur Verfügung steht, merke ich kurz
       nach dem Tod meines Vaters. Ich bin damals 17 Jahre alt, und dieses
       Ereignis offenbart die Zerbrechlichkeit unserer Kernfamilie, die kaum
       Verwandte in der Nähe hat. Zwar schafft es meine Mutter – plötzlich Witwe
       und Alleinerziehende –, unseren Alltag ein paar Monate am Laufen zu halten.
       Doch dann setzt bei ihr die dritte große Erschöpfung ein – der Burn-out.
       
       Konnte ich mich sonst immer zu 100 Prozent auf sie verlassen, geht es auf
       einmal um ihre Bedürfnisse. Am Abend zusammen einen Film schauen? Geht
       nicht, der Fernseher ist meiner Mutter zu laut. Am Wochenende einen
       Abstecher in die Pizzeria, in der wir früher immer zu viert waren? Geht
       nicht, meine Mutter will ihre Ruhe. Die Enttäuschung über Momente wie diese
       lässt in meiner Gefühlswelt keinen Platz für Verständnis und setzt einen
       großen Entfremdungsprozess in Gang. Fragt mich jemand fortan nach meinen
       Eltern, habe ich nur meinen Vater vor Augen, den ich schon in meiner
       Kindheit vergöttere – obwohl ich damals mehr Zeit mit meiner Mutter
       verbringe und mich ihr eher anvertraue.
       
       Emilia Roig nickt hinter ihrem Laptop, während ich ihr das erzähle. Auch
       ihre Mutter habe in ihrer Zuneigung lange im Schatten ihres Vaters
       gestanden. Den Grund dafür sieht die Autorin in einer misogynen
       Gesellschaft, die Frauen herabsetze und Männer anhimmele: „Kinder verstehen
       diese Hierarchie schon sehr früh, und deshalb wirkt sie auch in unseren
       Beziehungen.“
       
       Laut Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach gründet die Matrophobie,
       wie die Ablehnung der Mutter auch genannt wird, darin, dass entscheidende
       Bereiche der Gesellschaft wie Wirtschaft oder Politik männerdominiert sind
       und Frauen ab dem Zeitpunkt des Kinderkriegens im gesellschaftlich
       abgewerteten Bereich der Familie verortet werden. Das mache den Töchtern
       eine Identifikation mit ihren Müttern schwer.
       
       Erst als ich in solche feministischen Theorien eintauche und erkenne,
       welche Ungerechtigkeiten das Patriarchat für Frauen mit sich bringt,
       bekommt meine Mutter den Platz in meinen Kindheitserinnerungen, den sie
       verdient. Erst als ich mich mit Themen wie Care-Arbeit und mental load
       beschäftige, erkenne ich, was sie – neben ihrer Erwerbsarbeit – alles für
       uns getan hat. Ich sehe die saubere Wäsche, die Kinderarztbesuche, die
       Elternsprechtage.
       
       Je mehr Wertschätzung ich auf diesem Weg für meine Mutter spüre, desto
       öfter meldet sich die vorsichtige Wut auf meinen Vater und damit auch die
       Wut auf alle Väter, die – damals wie heute – ihren Teil der Care-Arbeit
       nicht übernehmen. Was fange ich damit an, will ich am Telefon vom
       Vaterexperten Tillmann Prüfer wissen. Eine konkrete Antwort hat er nicht.
       Stattdessen versucht er es mit einem Perspektivwechsel: Stecke ein Vater –
       anstatt in Haushalt und Kinderbetreuung – viel Zeit in seinen Job, dann sei
       das aus dessen Selbstverständnis heraus ebenfalls Care-Arbeit. Weil er
       denke: Ich schaffe eine Grundlage, investiere in unseren Lebensstandard.
       „Das verstehen die Väter gar nicht als Egoismus, sondern als etwas, was sie
       für ihre Familie tun“, betont der Autor.
       
       Während des Gesprächs fällt mir dieser Perspektivwechsel schwer. Doch ein,
       zwei Stunden später erinnere ich mich an den sorgenvollen Blick meines
       Vaters, als unsere Waschmaschine kaputt ist und eine neue her muss, als die
       Bank ihm keinen Kredit gibt für das Auto, das wir brauchen. Ich erinnere
       mich, wie er sich in seinen letzten Jahren bis spätabends abmüht, seine
       Antiquitäten auf Ebay zu verkaufen, weil das Geschäft im Laden nicht mehr
       läuft. Wie er selbst dann noch den Tag durcharbeitet, als er bereits schwer
       krank ist. Obwohl es niemand ausspricht und meine Mutter auch Geld
       verdient, scheint damals klar: Unseren Lebensstandard halten muss mein
       Vater, und zwar allein. „Wenn wir jetzt also wütend sind auf unsere Väter“,
       sagt Tillmann Prüfer, „dann lohnt oft ein Blick auf das nie ausgesprochene
       Leid auf deren Seite.“
       
       Mehr als 20 Jahre sind seit meiner Kindheit im fränkischen Dorfidyll
       vergangen. Seitdem ist etwas in Gang gekommen, sind Diskussionen über
       Care-Arbeit und neue Väter entstanden. Mit Folgen? Laut Soziologin Jutta
       Allmendinger verbrachten Frauen 2016 im Vergleich zu 1992 am Tag zwar rund
       zwei Stunden weniger mit Haushalt und Kinderbetreuung. Allerdings nicht,
       weil die Männer plötzlich mehr machten, sondern weil die Frauen selbst mehr
       Erwerbsarbeit leisteten und damit weniger Zeit hatten für Care-Arbeit. „Von
       Veränderung keine Spur“, konstatiert Allmendinger ernüchtert. Und auch die
       Zahlen des letzten [8][Gleichstellungsberichts der Bundesregierung], wonach
       der Gender-Care-Gap 2022 immer noch bei 44,3 Prozent lag, zeigen: Der Weg
       bis zur gelebten Gleichberechtigung ist noch weit.
       
       Und was können wir bis dahin tun? Zum Beispiel die Leistung der Mütter
       nachträglich anerkennen – als „Korrektiv“, wie Emilia Roig sagt. Denn es
       sei zwar normal gewesen, dass diese sich „stillschweigend erschöpft und
       aufgeopfert haben, aber nicht richtig“.
       
       Doch wie sieht so eine nachträgliche Anerkennung aus? Vor dem Gespräch mit
       meiner Mutter habe ich lange überlegt. Ein Brief, ein Geschenk? Als wir uns
       am Küchentisch gegenübersitzen, bin ich mir auf einmal sicher. Ich will
       Danke sagen, und zwar ein einfaches, aufrichtiges Danke. Kein
       Muttertags-Danke, das ich früher auf Karten geschrieben oder bei Whatsapp
       getippt und am nächsten Tag wieder vergessen habe. Sondern eines, in dem
       die Trauer darüber steckt, dass die Leistung meiner und so vieler anderer
       Mütter viel zu lange nicht gesehen wurde.
       
       „Danke“, sage ich also zu ihr, während mir die Tränen übers Gesicht laufen.
       Und während auf ein Danke normalerweise ein Bitte folgt, erscheint das, was
       meine Mutter stattdessen antwortet, ganz logisch: „Danke.“
       
       2 Jun 2024
       
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