# taz.de -- Palästinensische Kinder: Feinde in Windeln
       
       > Es besteht ein rassistischer, verzerrender Blick auf palästinensische
       > Kinder. Das trägt dazu bei, ihr tausendfaches Sterben in Gaza
       > hinzunehmen.
       
 (IMG) Bild: Gedenken an die in Gaza getöteten Kinder am Internationalen Tag des Kindes in Berlin
       
       Es war eine Zeremonie der leisen Töne, als am vergangenen Sonnabend, dem
       Internationalen Tag des Kindes, in Berlin die Namen von mehr als 10.000 in
       Gaza getöteten Kindern verlesen wurden. Nebenan die Neue Wache; dort steht
       die [1][Pietà von Käthe Kollwitz], die Skulptur der trauernden Mutter. Die
       Lesung dauerte 20 Stunden, bis nach Mitternacht. Es ist nicht leicht, die
       Namen toter Kinder vorzutragen, mitsamt ihrem Alter; ich habe es mir nicht
       zugemutet.
       
       Nachdem ich später ein Foto der Zeremonie ins Netz gestellt hatte, gab es
       solche Reaktionen: Erstens sei dies der klassisch antisemitische
       Kindermord-Topos, zweitens seien die Toten keine Kinder, sondern
       heranwachsende Terroristen. Dass Kinder ein [2][Kriegsgebiet nicht
       verlassen dürfen], stellt an sich eine Besonderheit dar. Die
       Flüchtlingslager der Welt sind voller Mütter mit Kindern, die bewaffneten
       Konflikten zu entkommen suchten; [3][bei uns fanden zum Glück viele
       Ukrainerinnen mit Kindern Zuflucht].
       
       Anders als die Ukraine ist das Gebiet von Gaza gänzlich von
       Kriegshandlungen durchdrungen. Auf einer Fläche, die etwas kleiner ist als
       das Stadtgebiet von Köln, irren seit acht Monaten eine Million Kinder und
       Jugendliche umher, davon 335.000 unter fünf Jahren. Dies sind Zahlen von
       UNICEF. Kinder sind ein Spiegel, in diesem wie in anderen Kriegen; ihr Leid
       spiegelt das Versagen der Verantwortlichen.
       
       Dies zu sagen, ist nicht trivial. Im Sudan droht gemessen an der Zahl
       Geflüchteter gegenwärtig die größere humanitäre Katastrophe. Aber in den
       Gaza-Krieg sind Deutsche involviert, haben Waffen und ideelle Unterstützung
       geliefert. Mächtig ist der Impuls, vor den Folgen die Augen zu
       verschließen. Lieber die Kinder nicht sehen, die der Westen retten könnte,
       wenn USA und EU jetzt gemeinsam und in aller Klarheit sagen würden:
       Netanjahu, es reicht! (Immerhin liegt [4][ein möglicher Deal mit der Hamas]
       auf dem Tisch.)
       
       ## 14.000 bis 15.000 minderjährige Kriegsopfer
       
       Stattdessen in Ersatzhandlungen schwelgen – erinnert sich noch jemand an
       den Chirurgen [5][Ghassan Abu Sitta], Augenzeuge der Verzweiflung in Gaza?
       Die Bundesregierung bewirkte für den Arzt ein EU-weites Einreiseverbot. Vor
       Gericht hatte das keinen Bestand; wie auch? Wer die Zahl von möglicherweise
       14.000, gar 15.000 minderjährigen Kriegsopfern bezweifelt, mag das ruhig
       tun.
       
       Aber angesichts von 335.000 Kindern unter fünf Jahren scheint mir eine
       solche Todesrate nach acht Monaten zwischen Geröll und Müll, mit
       chronischem Durchfall und Mangelernährung keineswegs außer Proportion. Als
       im März das [6][SOS-Kinderdorf Rafah nach Bethlehem evakuiert] wurde und
       die 68 Kinder erstmals wieder vor gedeckten Frühstückstischen saßen,
       rührten sie nichts an. Sie konnten nicht glauben, dass all das Essen nur
       für sie sei.
       
       Gewiss: Auch jüdisch-israelische Kinder leiden unter dem Krieg, zumal da,
       wo Hamas und Hisbollah angreifen und oft die Sirenen gellen. Die Seelen
       vieler weiterer wurden beschädigt durch die Angst, die sie seit dem 7.
       Oktober bei ihren Eltern spüren. Elterliche Angst und Unsicherheit zu
       erleben, ist für jedes Kind ein tiefgreifendes Erlebnis. In der Westbank
       werfen palästinensische Kinder Steine auf Militärfahrzeuge im fatalen
       Glauben, sie könnten so ihr Zuhause, ihr Dorf beschützen.
       
       Ein Delikt, das mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Wie
       es sich anfühlt, unter Besatzung aufzuwachsen, nichts anderes zu kennen,
       lässt sich kaum erahnen. Aus Sicht [7][israelischer Ethnonationalisten]
       sind die palästinensischen Kinder schlicht zu zahlreich – demografisch
       stellen Palästinenser in absehbarer Zeit die Mehrheit zwischen Fluss und
       Meer, also dort, wo es, wie Netanjahus Energieminister Eli Cohen gerade
       versicherte, nur einen Staat geben wird: den israelischen.
       
       ## Heerschar von Traumatisierten und Verstümmelten
       
       Rassismus gegenüber Kindern wird gern geleugnet, aber natürlich gibt es
       ihn, und der Rassismus gegenüber palästinensischen Kindern ist von einer
       spezifischen Art: Ihnen fehlt die Unschuld, sie sind gefährlich – als
       würden sie von früh auf, schon in den Windeln, ein Terror-Gen in sich
       tragen. Die palästinensische Kriminologin [8][Nadera Shalhoub-Kevorkian]
       nennt dies die Politik des „Unchilding“, eine Art Vertreibung aus der
       Kindheit, ablesbar an der hohen Zahl Minderjähriger in Haft.
       
       Im besetzten Ostjerusalem können Eltern ihre Kinder oft nur aus dem
       Gefängnis herausbekommen, indem sie einem Hausarrest für sie zustimmen. Und
       dann geschieht zum Beispiel dies: Der 13-jährige Iyad will das Fenster zum
       Hof öffnen, um mit seinen Kameraden zu sprechen, aber es ist verriegelt,
       sein Vater hat ein Schloss angebracht, aus Angst, die Familie würde
       womöglich gegen die Auflagen des Gerichts verstoßen. Der Junge ist wütend
       und verletzt und wendet sich in seinem Schmerz gegen die Eltern, die nun
       Gefängniswärtern gleichen.
       
       Familien zu spalten, sei Bestandteil von Besatzungspolitik, schreibt
       Shalhoub-Kevorkian. Als ich kürzlich in Jerusalem war, wollte ich sie
       aufsuchen, aber die Professorin der Hebrew University wurde gerade
       [9][selbst kurzzeitig inhaftiert]. Ihr Buch über Unchilding ist bei
       Cambridge University Press erschienen. Der rassistische, verzerrende Blick
       auf palästinensische Kinder trägt dazu bei, ihr tausendfaches Sterben in
       Gaza hinzunehmen.
       
       Und dann gibt es noch die typisch deutsche Kultivierung von Ratlosigkeit:
       Dies sei ja alles so kompliziert, was solle man da nur sagen … Aber was ist
       so schwierig daran, gegen das Sterben von Kindern aufzubegehren? Was ist so
       schwierig daran, zu sagen: Das muss aufhören, sofort? Das ganze Ausmaß des
       Unglücks in Gaza werden wir ohnehin erst sehen, wenn der Krieg beendet ist.
       Dann wird uns eine kindliche Heerschar von Traumatisierten, Verstümmelten
       und Amputierten erwarten. Und wir werden keine Antwort haben.
       
       6 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.kollwitz.de/bronzeplastik-pieta
 (DIR) [2] /Fluchtweg-nach-Aegypten/!5988781
 (DIR) [3] /Ukrainische-Gefluechtete-in-Deutschland/!5955701
 (DIR) [4] /Druck-auf-Regierungschef-Netanjahu/!6014301
 (DIR) [5] /Europa-und-der-Gaza-Krieg/!6008435
 (DIR) [6] /Evakuierung-von-SOS-Kinderdorf/!5998137
 (DIR) [7] /Gaza-Konferenz-ultrarechter-Israelis/!5985610
 (DIR) [8] https://www.palestine-studies.org/en/node/1650366
 (DIR) [9] https://www.jpost.com/breaking-news/article-797769
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Charlotte Wiedemann
       
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       Wer nur Solidarität mit Menschen in Gaza zeigt, ist alles andere als
       fortschrittlich, sondern verfolgt das antiwestliche Programm der Hamas.