# taz.de -- Fazit des EU-Wahlkampfes: Verlorene Suche nach einem Nenner
       
       > Die europäische Idee lebt auch jenseits der EU-Grenzen. Georgien und die
       > Ukraine schauen besorgt auf den wachsenden Nationalismus der Mitglieder.
       
 (IMG) Bild: Die Flaggen aller EU-Mitgliedsländer vor dem Europäischen Parlament in Straßburg
       
       BERLIN taz | „Wir waren und sind der Arsch Europas.“ Dieser Ausspruch fiel
       im Herbst 2017 in einem Sofioter Kulturzentrum während einer Diskussion mit
       dem bulgarischen Politikwissenschaftler Ivan Krastew. Der bemüht sich seit
       Jahren, seinem Lesepublikum die Befindlichkeiten und Eigenheiten der
       Menschen in der östlichen Hemisphäre Europas näherzubringen – mit mäßigem
       Erfolg.
       
       Denn seien wir doch mal ehrlich: [1][Nicht nur die Bulgar*innen –
       immerhin seit 2007 ist der Balkan-Staat nun schon Mitglied der Europäischen
       Union – fühlen sich nicht für voll genommen], unverstanden und irgendwie
       abgehängt. Ein Land an der Peripherie Europas eben – und klein noch dazu,
       so wie etwa Malta, Luxemburg, Zypern oder die Slowakei.
       
       Doch wer interessiert sich schon für die Belange dieser Staaten in einem
       Europa, das von der Achse Paris-Berlin (künftig wohl auch erweitert um Rom)
       dominiert wird, die als „böse“ zu bezeichnen denn doch etwas zu weit ginge.
       Im Fall der Slowakei braucht es schon, so zynisch das klingen mag, ein
       Attentat auf den Regierungschef Robert Fico – so geschehen im Mai –, damit
       dieses Land es auch mal in die Schlagzeilen schafft.
       
       Die diesjährigen Wahlen zum EU-Parlament hätten die Möglichkeit geboten,
       Interesse und eine gewisse Neugier zu wecken sowie gegenseitiges
       Verständnis füreinander zu entwickeln. Doch das scheint offensichtlich
       nicht passiert zu sein. Einmal abgesehen davon, dass nach wie vor von einer
       gesamteuropäischen Öffentlichkeit keine Rede sein kann, waren fast alle
       Mitgliedsstaaten vor allem mit dem eigenen Allerwertesten beschäftigt.
       Dieser Umstand lässt sich auch an teilweise extrem niedrigen
       Wahlbeteiligungen ablesen. Wieso eine Stimme für das EU-Parlament
       abgegeben?
       
       ## Brüssel in weiter Ferne
       
       Das alles ist umso erstaunlicher, als es diesmal tatsächlich um einiges
       gegangen ist – unabhängig davon, dass vielen Menschen Brüssel immer noch
       fern liegt und sie die Tragweite der dort getroffenen Entscheidungen nicht
       ermessen können oder sie schlichtweg ignorieren.
       
       Viel stärker noch als bei den Wahlen 2019 steht die EU vor großen
       Herausforderungen, denen mit nationalen Alleingängen zu begegnen unmöglich
       ist. Da ist zum einen Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, dessen
       Ende derzeit nicht absehbar ist. Dieser Krieg hat nicht nur bei Staaten wie
       [2][Lettland, Litauen] und Estland, aber auch Polen historische Traumata
       und Ängste wieder aufbrechen lassen, sondern auch die Notwendigkeit, die
       europäische Verteidigungsfähigkeit zu stärken, auf die politische
       Tagesordnung gesetzt.
       
       Da wäre des Weiteren die Causa Migration und Geflüchtete. Kaum ein Tag
       vergeht ohne Meldungen über das Schicksal von Menschen, die bei dem
       Versuch, die EU zu erreichen, ihr Leben verlieren. Diese Verzweiflungstaten
       wird es auch weiter geben. Repression, Hunger und Armut, aber immer
       häufiger auch die Auswirkungen der Klimakrise wird viele Menschen dazu
       zwingen, sich auf den Weg zu machen.
       
       Und dann ist da noch [3][der zu erwartende Rechtsruck in Europa]. Besonders
       die Rechtspopulist*innen, denen Russlands Präsident Wladimir Putin nach
       Kräften Schützen- und Wahlkampfhilfe leistet, machen sich Angst,
       Verunsicherung, aber auch Frust über die Europäische Union mit wachsendem
       Erfolg zunutze. Das sind übrigens genau die Leute, die sich um ein Mandat
       im Brüssel bemühen, um nicht nur das EU-Parlament, sondern die EU als
       Ganzes zu unterminieren.
       
       ## Winkelemente in Schwarz-Rot-Gold
       
       Wer in der vergangenen Woche in Berlin EU-Devotionalien in Form von blauen
       Flaggen mit gelben Sternen erwerben wollte, musste sich schon in die
       Vertretung der EU-Kommission bemühen. In normalen Kiosken gab es
       Winkelemente in Schwarz-Rot-Gold – sonst nichts.
       
       EU-Fahnen in rauen Mengen sind bei den wochenlangen Massenprotesten gegen
       die Regierung in der Südkaukasusrepublik Georgien (seit vergangenem
       Dezember EU-Beitrittskandidat) zum Einsatz gekommen. Vor allem junge Leute
       klammern sich an die Hoffnung, dass auch neue Mehrheiten im Parlament
       nichts an dem Erweiterungskurs ändern werden.
       
       Auch die Ukrainer*innen blicken sorgenvoll in Richtung Brüssel. Was
       passiert, wenn die Bereitschaft, die Ukraine weiter zu unterstützen, sinkt?
       Die Ukrainer*innen betrachten die Geschehnisse in Europa längst als ihre
       Sache, schreibt ein ukrainischer Journalist. Irgendwann würden auch
       ukrainische Abgeordneten im EU-Parlament sitzen. Das dauere noch, aber der
       Tag werde kommen.
       
       9 Jun 2024
       
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