# taz.de -- Martin Schulz über Rechtsextreme: „Sie sind aggressiver geworden“
       
       > Dem ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz macht der Wandel
       > rechter Parteien Sorgen. Er warnt davor, sie machtpolitisch zu
       > integrieren.
       
 (IMG) Bild: Martin Schulz bezeichnet sich selbst als „leidenschaftlichen Europäer“
       
       taz: Herr Schulz, die EU hat das Image, ein ferner Apparat zu sein. Das ist
       ein Grund für die Erfolge der rechten Nationalisten. Was wäre nötig, um die
       EU schnell demokratisch zugänglicher zu machen? 
       
       Martin Schulz: Wie viel Seiten räumt die taz diesem Interview denn ein?
       
       Nur eine. 
       
       Erst mal: Die EU ist nicht der Grund für die [1][Erfolge der
       Rechtsextremen.] Die sind erfolgreich, weil diese immer komplexere Welt
       voller Interdependenzen mit ihrer Unberechenbarkeit und Volatilität Ängste
       und Verunsicherung bei den Bürgerinnen und Bürgern hervorruft. Das nutzen
       Rechtsextreme dann schamlos aus. Die EU braucht eine neue Kompetenzordnung.
       Wir müssen präzise formulieren, was die EU machen und auch was sie nicht
       machen soll. Kompetenzen sollten dort angesiedelt werden, wo die Lösungen
       am effizientesten umsetzbar sind.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Warum muss ein Bezirksbürgermeister in Berlin, der in Grundschulen neue
       Fenster einbauen lassen will, eine europaweite Ausschreibung machen? Und
       auf der anderen Seite: Das [2][Abgeordnetenhaus] von Berlin kann zum
       Klimawandel beschließen, was es will. Nur mit der EU und ihrem Green Deal
       wird der Klimawandel effizient bekämpft werden können. Die EU muss sich um
       [3][Migration], [4][Klimawandel], internationale Steuerpolitik,
       Finanzströme, Bekämpfung organisierter Kriminalität, auch Sicherheit nach
       außen kümmern. Alltagsregulierungen aber kann man zurückübertragen.
       
       Rückübertragung auf die lokale Ebene ist für den Ex-Präsidenten des
       Europaparlaments eine ungewöhnliche Forderung. Das wollen die Rechten doch
       auch. 
       
       Das fordere ich bereits seit 20 Jahren. Die Rechtsextremen wollen die EU
       zerschlagen. Ich will sie mit einer neuen Kompetenzordnung so effizient wie
       möglich machen. Das habe ich schon 2013 in dem Buch [5][„Der gefesselte
       Riese“] angeregt.
       
       Bei der Europawahl wird die nationalistische Rechte stärker werden. Kann
       die Rechte die EU lahmlegen? 
       
       Die rechtsextremistischen Ultranationalisten sind unfähig, eine
       Internationale Union der Ultranationalisten zu bilden. [6][Marine Le Pen]
       will nicht mit der so genannte Alternative für Deutschland, dieser Schande
       für unsere Nation, zusammenarbeiten, weil die ihr zu rechts ist. Le Pen und
       Melonis Fratelli d'Italia sind sich zwar einig, dass es zu viel Migration
       gebe. Aber bei den Lösungen sind sie über Kreuz, weil Italien die
       Flüchtlinge nach Frankreich durchwinkt. Die Rechten werden im
       Europaparlament stärker werden. Aber sie werden es nicht lahmlegen können.
       
       Hilft eine Brandmauer gegen Rechtsextreme in der EU? 
       
       Wenn keine demokratische Partei mit denen im Parlament zusammenarbeitet,
       werden sie auch für die Wählerinnen und Wähler unattraktiv. Daraus wird
       aber nichts, wenn sich [7][Ursula von der Leyen] auch von Rechtsextremen
       zur Kommissionspräsidentin wählen lassen will. Das widerspricht übrigens
       dem Kurs der CDU im Bund, die eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschließt.
       Hier sind die CDU und Frau von der Leyen nicht glaubwürdig.
       
       Die Postfaschistin Meloni tritt in der EU gemäßigt auf und trifft sich
       öfter mit Olaf Scholz als mit Viktor Orbán. Macht die Macht die Rechten
       moderater? 
       
       Italien braucht die Europäische Union. Das weiß auch Meloni. Italien ist
       die drittgrößte Industrienation in der EU. Die Regierung in Rom muss
       unabhängig von der ideologischen Ausrichtung im Alltagsgeschäft mit Macron
       und Scholz reden. Zweitens: Meloni scheint die traditionelle,
       christdemokratisch-bürgerliche Wählerschaft zu umwerben, die spätestens
       seit dem Tod von Berlusconi heimatlos ist. Meloni scheint eine Art
       Sammlungsbewegung Mitte-rechts schaffen zu wollen, so wie Le Pen in
       Frankreich, die um traditionelle Wähler der Gaullisten wirbt.
       
       Die Rechten in Europa sind gespalten in ihrer Haltung zu Putin. Die
       polnische Rechte bekämpft ihn scharf, Orbán nicht. Wird die Rechte also
       mächtiger und ohnmächtiger zugleich? 
       
       Moment: Ob sie mächtiger wird, ist offen. Für die Niederlande stimmt das,
       aber in Schweden, Finnland, Dänemark ist die Sozialdemokratie nach wie vor
       die stärkste Kraft. In Stockholm und Helsinki sind Christdemokraten mit
       Hilfe der Rechten an der Macht. Dieser Versuch ist in Spanien aber
       gescheitert, auch in Portugal gibt es keine Rechtsextremen in der
       Regierung. In Polen hat eine Bürgerbewegung die [8][PiS] besiegt. Das Bild
       ist heterogen. Ob es wirklich einen europäischen Durchmarsch der Rechten
       gibt, ist offen.
       
       In Polen haben viele Linksliberale prognostiziert, dass die PiS die
       Demokratie zerstört und Machtwechsel faktisch unmöglich werden. Die Wahl
       gewann das Oppositionsbündnis. Waren die Befürchtungen übertrieben? 
       
       Nein. Die PiS hat acht Jahre an der Macht ihre rechte Ideologie
       durchgesetzt. Die lautet: Wir haben die Mehrheit, der Staat gehört jetzt
       uns. Die Mehrheit legitimiert uns, den Staat so zu gestalten, wie wir es
       wollen, und unsere Ideologie eins zu eins auf allen institutionellen Ebenen
       durchzusetzen. Donald Tusk steht jetzt vor der Herausforderung, das bei
       Medien und Justiz wieder rückgängig zu machen und die Institutionen zu
       redemokratisieren. In Ungarn ist das faktisch nicht mehr möglich. Deshalb
       ist in Deutschland übrigens ein neues Verfassungsgericht-Gesetz so nötig,
       das nur mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag geändert werden kann. Das muss
       kommen.
       
       Sie haben im Europaparlament lange Erfahrung mit Rechten gesammelt. Haben
       sich die sich in den letzten 25 Jahren verändert? 
       
       Ja. Vor 25 Jahren hat man sie oft belächelt und nicht ernst genommen. Heute
       sind sie ernstzunehmende politische Player, viel besser organisiert,
       geführt von viel klügeren Leuten. Sie sind professioneller, allerdings auch
       aggressiver geworden. Sie alle eint eine klare Agenda: Sie wollen die EU
       abschaffen und nutzen dafür alle möglichen politischen Mittel.
       
       Kann man Rechtsextreme wie Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni oder
       die Vorsitzende des französischen Rassemblement National Marine Le Pen
       machtpolitisch integrieren? 
       
       Ihre politischen Fraktionen so, wie sie sind, ganz sicher nicht! Aber:
       Nicht alle ihre Wählerinnen und Wähler sind Antidemokraten, sondern auch
       Protestwähler, manche aus verständlicher Verzweiflung über politische
       Enttäuschungen. Diese zurückzugewinnen, ist Demokratieschutz. Wenn es aber
       um die ultrarechten Fraktionen geht, sehe ich da keinen gangbaren Weg. Sie
       müssten sich dafür ja zu politischen Vereinbarungen und zu Grundelementen
       der Demokratie bekennen, die gegen ihr eigentliches Programm laufen.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Das Bekenntnis, dass die Republik nicht ethnisch definiert ist, sondern
       dass alle Bürger und Bürgerinnen gleichberechtigt sind. Das Bekenntnis zur
       Europäischen Union und multilateralen, völkerrechtlich bindenden Verträgen.
       Eine klare Abgrenzung gegen autoritäre Regime wie in Russland. Das brächte
       die Führungen dieser Parteien in Dilemmata und demaskiert sie, wenn sie
       sich darauf nicht einlassen. Daran kann sich Frau von der Leyen ja gerne
       mal versuchen.
       
       Ist Le Pen mit ihrer Abgrenzung gegen die AfD nicht auf diesem Weg? 
       
       Die Antwort ist offen. In Frankreich leben Millionen mit
       Migrationshintergrund. Le Pen will Präsidentin werden. Der Rassemblement
       National versucht moderater aufzutreten, weil Le Pen weiß, dass sie sonst
       nicht Präsidentin wird.
       
       Also steckt dahinter nicht Überzeugung, sondern Taktik? 
       
       Das weiß ich nicht. Ich habe Le Pen als Fraktionschefin im Europaparlament
       erlebt. Die Strategie, sich als moderate, rechtskonservative Politikerin in
       Szene zu setzen, verfolgt sie schon seit anderthalb Jahrzehnten. Im
       Vergleich zu dem Parteichef der Gaullisten Eric Chiotti klingt Le Pen heute
       fast moderater. Die Frage bleibt, ob sie ein Wolf im Schafspelz ist.
       
       Was vermuten Sie aus Ihren persönlichen Begegnungen? 
       
       Ich habe sie immer als sehr taktische Person wahrgenommen. Jordan Bardella,
       ihr junger Parteichef, kommt aus der identitären Bewegung. Zweifel sind
       nach wie vor angebracht.
       
       Wäre Le Pen als Präsidentin Frankreichs integrierbarer? 
       
       Das ist schwierig vorherzusagen. Meine Antwort ist: Lasst uns alles tun,
       damit sie nicht Präsidentin wird.
       
       Bei der Wahl zum EU-Parlament am 9. Juni konkurrieren SpitzenkandidatInnen.
       Nur eine von denen soll später die Kommission führen können. Dieses System
       haben Sie mitentwickelt … 
       
       … es ging auf meine Initiative zurück. Ich habe als Präsident des
       EU-Parlaments auf der Grundlage von Artikel 17, Absatz 3 den Rat und die
       Kommission dazu gebracht, anzuerkennen: Es wird niemand zum Kommissionschef
       gewählt, der nicht Spitzenkandidat einer Partei war. Das haben wir 2014
       durchgesetzt. 2019 leider nicht mehr, weil die Staatschefs Ursula von der
       Leyen den Kandidaten Frans Timmermans und Manfred Weber vorgezogen haben.
       Das war ein Fehler. Hätte sich das EP 2019 durchgesetzt, wäre es jetzt
       irreversibel.
       
       Ist das SpitzenkandidatInnen-System, das die EU-Wahl politisieren und
       demokratisieren sollte, kaputt oder hat es nur einen Blechschaden? 
       
       Das hängt davon ab, wie das Europaparlament jetzt handelt. Wenn sich von
       der Leyen tatsächlich von Rechtsextremen mitwählen lassen wollen würde,
       könnten die Mitte-links-Parteien im Europaparlament einen Gegenkandidaten
       nominieren. Dann hätte der Rat ein Problem. Das Parlament könnte Frau von
       der Leyen selbstbewusst Bedingungen stellen.
       
       Bedauern Sie manchmal, dass Sie nicht mehr dort sind? 
       
       Ich bin leidenschaftlicher Europäer und wirke als solcher auch in meinen
       neuen Funktionen. In der Rückschau sehe ich, dass es ist mir mit anderen
       gelungen ist, das Europaparlament zu einer mächtigen Instanz zu machen.
       Eines der größten Probleme der EU ist, dass die wesentlichen Entscheidungen
       hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Der Rat tagt geheim, um den
       erstaunten Untertanen mitzuteilen, worauf man sich mal wieder nicht
       geeinigt hat. Das erinnert an einen permanenten Wiener Kongress …
       
       … das Treffen der feudalen Herrscher Europas, die 1815 die Grenzen neu
       bestimmten … 
       
       … mit dem Unterschied, dass es beim Wiener Kongress ein Ergebnis gab. Der
       Wiener Kongress von heute will von der Leyen durchsetzen. Ein
       selbstbewusstes Parlament sollte darauf bestehen, dass von der Leyen dessen
       Bedingungen erfüllt – und nicht warten, ob sich Macron, Scholz, Sanchez und
       Meloni auf eine Kandidatin einigen, die das Parlament dann durchwinkt.
       
       Wenn man Sie so hört – warum soll man am 9. Juni wählen gehen? 
       
       Es geht darum, die Rechtsextremen klein zu halten und die Friedensidee der
       transnationalen Demokratie auf der Grundlage von Freiheit, Respekt und
       Toleranz zu verteidigen. Zum Beispiel für Frieden und Verständigung in der
       Welt. Für gut bezahlte Arbeitsplätze der Zukunft. Für den Schutz von
       Verbraucherinnen und Verbrauchern vor großen Konzernen. Für faire Steuern.
       Plus: Die EU ist besser als der Putinismus oder der Trumpismus. Es gibt
       wirklich viele Gründe, wählen zu gehen.
       
       Braucht es europaweite Wahllisten? Derzeit gibt es ja 27 nationale Listen. 
       
       Klar. Das propagiere ich, seit Langem.
       
       Sind Sie optimistisch, dass Sie EU-Wahllisten noch erleben? 
       
       Für transnationale Listen müssen die EU-Verträge geändert werden. Das geht
       nur mit Einstimmigkeit – also derzeit mit Budapest nicht. Es gäbe aber
       Möglichkeiten. Ich gebe die Hoffnung nie auf, weshalb ich auch für meine
       Partei kämpfe, welche seit über 160 Jahren die Demokratie verteidigt.
       
       Herr Schulz, vielen Dank für das Gespräch.
       
       4 Jun 2024
       
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