# taz.de -- Podcast der taz Panter Stiftung: Die Folgen der Migrationsabkommen
       
       > Die EU will Migration aus Nahost und Afrika unterbinden. Das erste
       > Abkommen gab es 2016 mit der Türkei – das letzte im Mai mit dem Libanon.
       
 (IMG) Bild: Der Journalist und taz-Korreponent Mirco Keilberth in Al Amra, Flüchtlingslager in Tunesien
       
       Anfang Mai 2024 hat die Europäische Union (EU) ein Flüchtlingsabkommen
       [1][mit dem Libanon abgeschlossen]. Eine Milliarde Euro soll bis 2027 in
       das Land fließen, um Flüchtlinge davon abzuhalten, aus dem Libanon nach
       Europa zu kommen. Das Geld soll offiziell Bildungseinrichtungen, der
       Gesundheitsversorgung und der Wirtschaft zugutekommen, aber vor allem dem
       Grenzschutz und den Sicherheitsbehörden dienen. Aber wird es dort auch
       ankommen?
       
       Der Libanon ist hochverschuldet und vom Staatsbankrott bedroht, von
       Misswirtschaft und Korruption sowie einer schweren Wirtschafts- und
       Finanzkrise gezeichnet. Seit 2011 hat der Libanon mehr als 1,5 Millionen
       syrische Flüchtlinge aufgenommen, die vor der Diktatur und dem Krieg im
       Nachbarland geflohen sind. Sie machen inzwischen ein Drittel der
       Gesamtbevölkerung aus. Die Folgen dieser Fluchtbewegung für die
       libanesische Wirtschaft, Infrastruktur, Sicherheit und Stabilität des
       Landes sind immens.
       
       In den letzten Jahren haben einige Syrer:innen versucht, über den
       Libanon nach Zypern zu gelangen – die Insel im Mittelmeer ist nur wenige
       hundert Kilometer Luftlinie von der libanesischen Küste entfernt. Viele
       hoffen, über diese Route in die EU zu gelangen.
       
       Doch die EU will die Migration aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa
       unterbinden. Dazu hat es Migrationsabkommen mit verschiedenen Ländern
       geschlossen. Das erste Abkommen dieser Art hat [2][die EU 2016 mit der
       Türkei abgeschlossen], um zu verhindern, dass Menschen von dort nach Europa
       kommen, um hier Asyl zu beantragen. Im Juli 2023 reisten
       EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der niederländische
       Ministerpräsident Mark Rutte und Italiens ultrarechte Ministerpräsidentin
       Giorgia Meloni nach Tunis, um ein ähnliches Abkommen mit Tunesien auf den
       Weg zu bringen. [3][Im Palast des autokratischen Präsidenten Kais Saied in
       Tunis unterzeichneten sie eine gemeinsame Absichtserklärung]. 105 Millionen
       Euro für die Grenz- und Küstensicherung sollen seither bereits nach Tunis
       überwiesen worden sein.
       
       Im März 2024 folgte ein umstrittenes Migrationsabkommen mit Ägypten. Das
       plötzliche Tempo hängt mit der nahenden EU-Wahl Anfang Juni zusammen.
       Überschattet werden diese Abkommen vom Krieg in Gaza. Er sorgt in Tunesien
       für Unmut und schlechte Stimmung gegenüber der EU. Der Libanon ist direkt
       davon betroffen: seit Oktober wurden bei andauernden Scharmützeln an der
       Grenze zu Israel mindestens 331 Libanesen getötet, darunter 57 Zivilisten,
       auch Frauen und Kinder. Wie wirkt sich das auf das Migrationsgeschehen und
       die politische Lage in der Region aus? Darüber diskutieren die Journalistin
       Ghadir Hamadi und der taz-Korrespondent Mirco Keilberth. Ghadir Hamadi ist
       Journalistin bei L’Orient Today in Beirut und berichtet über Migration und
       den Krieg in Gaza. Mirco Keilberth arbeitet in Tunis und ist langjähriger
       Experte für Migration in Libyen und Tunesien. Daniel Bax, Migrations- und
       Nahostexperte und derzeit Themenchef der taz, moderiert das Gespräch.
       
       Dieser Podcast ist die dritte Folge einer Serie: Jede zweite Woche bis zur
       EU-Wahl veröffentlicht die taz Panter Stiftung an dieser Stelle eine neue
       Podcastfolge – und geht dabei verschiedenen [4][Fragen zu den EU-Wahlen und
       Migration nach].
       
       Nachfolgend finden Sie ein deutsches und gekürztes Transkript des Podcasts
       zum Nachlesen:
       
       Daniel Bax (Moderation): Meine erste Frage geht an Ghadir. Wie ist im
       Moment die Situation im Libanon, angesichts des Gaza-Krieges und auch des
       Konflikts mit Israel direkt an der Grenze?
       
       Ghadir Hamadi: Im Libanon sind die Menschen gespalten. Einige Leute sagen,
       die Araber müssen zusammenhalten und einander unterstützen. Andere wiederum
       sagen, dass der Libanon laut einem Bericht der Weltbank bereits eine der
       schlimmsten Wirtschaftskrisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchmacht
       und es sich ohnehin nicht leisten kann, in Solidarität mit Palästina einen
       Krieg mit Israel zu führen und sich mit Gaza zu solidarisieren. Wir wollen
       nicht in einen Konflikt hineingezogen werden.
       
       Danie Bax: Was bedeutet das für die Migrationslage im Libanon?
       
       Ghadir Hamadi: Es gibt mehr als 90.000 Libanesen, die wegen des
       grenzüberschreitenden Beschusses von der südlichen Grenze des Libanon
       vertrieben wurden. Drei Journalisten wurden bisher im Libanon von Israel
       getötet. Mehrere Tausend drängen darauf, das Land zu verlassen. Seit
       Oktober 2024 sind die Menschen besorgt, dass es zu einem viel größeren
       Krieg kommen könnte. Und natürlich hat Israel den Libanon – und umgekehrt
       die Hisbollah Israel – wiederholt bedroht. Es gibt eine Art Massenpanik
       unter den Bürgern im Libanon.
       
       Daniel Bax: Gibt es palästinensische Flüchtlinge, die versuchen, aus dem
       Gazastreifen zu fliehen und den Libanon zu erreichen?
       
       Ghadir Hamadi: Die Menschen, die fliehen, versuchen in der Regel, nach
       Ägypten zu gelangen, da es an den Gazastreifen angrenzt. Der Libanon ist
       nicht wirklich ein Migrationsziel, denn selbst Libanesen versuchen derzeit
       das Land zu verlassen.
       
       Daniel Bax: Mirco, gibt es auch Menschen aus Gaza, die nach Tunesien
       kommen?
       
       Mirco Keilberth: Theoretisch ist das möglich, aber es sind nur wenige, die
       es versuchen. Es gibt einige Verletzte, die von der tunesischen Armee von
       Rafah nach Tunesien geflogen wurden und dort in Krankenhäusern behandelt
       werden.
       
       Daniel Bax: Tunis war vor den Osloer Verträgen der Hauptsitz der
       Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Gibt es also immer noch
       eine Art politische Verbindung zu der Situation, die wir jetzt in Gaza
       haben?
       
       Mirco Keilberth: Es ist Teil der politischen Kultur hier,
       pro-palästinensisch zu sein. Und wie überall in der Region verfolgen die
       Menschen jede Minute auf ihren Handys, was passiert. Die Leute sind also
       sehr gut informiert und es gibt viele Proteste. Auf der anderen Seite gibt
       es eine ziemlich große jüdische Minderheit, die hier schon seit
       Jahrhunderten lebt. Es gibt eine große Differenzierung. Bevor der Konflikt
       begann, war es eher eine kulturelle Angelegenheit. Man war traditionell
       pro-palästinensisch.
       
       Daniel Bax: Die EU hat gerade ein Abkommen mit dem Libanon unterzeichnet.
       Sie will 1 Milliarde Euro in das Land fließen lassen, um die sogenannte
       irreguläre Migration einzudämmen, und das Geld soll in Bildung und
       Gesundheit fließen. Was bedeutet das für den Libanon?
       
       Ghadir Hamadi: Dieses Abkommen war sehr umstritten, weil der libanesische
       Staat immer noch versucht zu erzählen, dass es sich um eine bedingungslose
       Hilfe der EU handelt, die nichts mit der syrischen Migration oder der
       Migrationskrise zu tun hat. Das ist das Narrativ, das von dem libanesischen
       Staat in Bezug auf dieses Paket derzeit verbreitet wird.
       
       Daniel Bax: Was ist der Zweck dieses Abkommens?
       
       Ghadir Hamadi: Wenn ich kommentiere, dass die libanesische Regierung
       bestochen wird, sind die Leute verärgert. Sie beharren darauf, dass der
       Leiter der EU-Kommission offiziell überhaupt nicht erwähnt hat, dass es
       sich bei diesem Geld um Hilfe mit Bedingungen handelt.
       
       Daniel Bax: Seit 2011 sind 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge im Libanon.
       Wie ist die Situation jetzt? Werden sie auch zurückgeschickt oder
       zurückgedrängt?
       
       Ghadir Hamadi: Leider gibt es derzeit eine rassistische Kampagne, die sich
       gegen alle Migranten richtet, speziell aber auf syrische Flüchtlinge
       abzielt. Der libanesische Staat hat im letzten Monat einen syrischen
       Flüchtling mit Aufenthaltsgenehmigung im Libanon zwangsweise abgeschoben.
       Er wurde sofort ins Gefängnis gebracht und starb, internationalen
       Organisationen zufolge an Folgen von Folter. Das war letzten Monat.
       
       Daniel Bax: Was wäre ein anderer Ansatz Europas, der dazu beitragen könnte,
       die Migrationssituation zu verbessern?
       
       Ghadir Hamadi: Wissen Sie, Deutschland ist zum Beispiel der zweitgrößte
       Waffenlieferant für Israel nach den Vereinigten Staaten. Wenn Europa keine
       Migranten will, sollte es vielleicht aufhören, sie zu schaffen. Sie werden
       durch amerikanische und vor allem durch deutsche Waffen verdrängt.
       
       Daniel Bax: Aber das würde die Situation im Libanon nicht ändern. Ich
       meine, die Lage im Libanon wird auch durch den Krieg in Syrien beeinflusst.
       Sie haben gerade erwähnt, dass Europa sie nicht aufnehmen will, stimmt das?
       
       Ghadir Hamadi: Schwer zu sagen, aber mehr Hilfe schicken wäre der erste
       Schritt. Aber wenn der libanesische Staat so korrupt ist, wie er es ist,
       dann ist das nicht möglich. Selbst wenn mehr Hilfe geschickt würde, käme
       diese Hilfe nicht zu 100 Prozent den Flüchtlingen zugute. Seit 2011 wurden
       im Libanon jährlich Hilfsgelder im Wert von mehreren Milliarden Dollar
       gestohlen. Auf diese Frage habe ich ehrlich gesagt keine Antwort.
       
       Daniel Bax: Eine Möglichkeit wäre, die Flüchtlinge über ein Kontingent oder
       in Gruppen aufzunehmen und sie nicht mit Booten nach Zypern oder
       anderswohin zu schicken. Und ein System zu haben, in dem Flüchtlinge
       regelmäßig aufgenommen werden können. Das wäre eine Möglichkeit, aber das
       würde bedeuten, dass es Länder braucht, die bereit sind, sie aufzunehmen.
       
       Ghadir Hamadi: Dazu bräuchte es einen normal funktionierenden Staat. Der
       Libanon hat derzeit weder einen Präsidenten noch einen Premierminister, und
       die Regierung hat einen Verwalterstatus. Der Vorschlag, den Sie gemacht
       haben, macht Sinn. Aber im Libanon gibt es eine doppelte Vakanz auf der
       Exekutivebene. Wer würde also all das organisieren?
       
       Daniel Bax: Mirco, wie ist die politische Debatte in Tunesien? Auf der
       einen Seite gibt es eine wachsende Anti-Einwanderungsstimmung, auf der
       anderen Seite gibt es auch Diskussionen über dieses Abkommen. Der Präsident
       wollte dieses Abkommen anfangs nicht, oder es gab Diskussionen über die Art
       und Weise, wie es umgesetzt werden sollte, richtig?
       
       Mirco Keilberth: Es gibt einfach eine große Triebkraft, nach Europa zu
       gehen. Man muss verstehen, dass es ein wirklich soziales Phänomen ist. In
       Tunesien herrschen dieselben 20 bis 30 Familien, die bis zu 70 Prozent des
       BIP von Tunesien in den Händen halten. Das war auch schon vor der
       Revolution so. Es ist eine Art altes System. In Libyen gibt es jetzt
       Milizen, die sozusagen zu Geschäftsleuten geworden sind. Die Europäische
       Union hat das Geld nach Tunis, in die Hauptstadt, geschickt. Aber es gibt
       keine Veränderung. Tunesien ist ein gutes Beispiel für das, was wir nach
       dem Arabischen Frühling gesehen haben: Die Nomenklatura, die Ministerien,
       die Leute, die in den Ministerien arbeiten, haben viel mehr an
       durchschnittlichem Monatseinkommen bekommen. Die Regierungen in der Region
       wollen nicht die Reformen durchführen, die der IWF von ihnen verlangt – und
       die die Menschen von ihnen verlangen. Jetzt pumpt die Europäische Union
       diese Millionen in das System. Das ist ein sehr ungerechtes System. Eine
       Antwort auf die Frage, was die EU zu anders machen sollte, wäre,
       aufzuhören, die Eliten zu füttern.
       
       Daniel Bax: Ich danke euch vielmals. Das war die dritte Folge unserer
       Podcast-Serie zur [5][EU-Migration der taz Panter Stiftung].
       
       4 Jun 2024
       
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