# taz.de -- Geflüchtete als Waffe: Strategie der hybriden Kriegsführung
       
       > Die Erzählung irregulärer Migration als Gefahr hält sich seit Langem. Die
       > EU-Staaten setzen auf Abwehr und spielen damit Diktatoren in die Hände.
       
 (IMG) Bild: Wollen nach Polen: eine Gruppe von Migrantinnen
       
       BERLIN taz | Es war der erste Nato-Gipfel, kurz nach dem Überfall Russlands
       auf die Ukraine, im Juni 2022. Gastgeberland war Spanien, das
       Militärbündnis versuchte sich auf die neue Situation einzustellen. Und in
       Madrid hatte man eigene Vorstellungen darüber, auf welche Gefahr die Nato
       sich vorbereiten sollte: Kurz vor dem Gipfel forderte Außenminister José
       Manuel Albares, [1][„ungeregelte Migration“] als „hybride Bedrohung“ in den
       Strategieplan des Bündnisses aufzunehmen. Diese sei eine der Gefahren, die
       „unsere Souveränität bedrohen“, so Albares.
       
       Sie müsste in der künftigen „Roadmap“ der Allianz aufgeführt und es müsse
       festgehalten werden, dass es „auch an der südlichen Flanke des Bündnisses
       ernsthafte Bedrohungen“ gebe. Bei der Roadmap handelte es sich um das
       „strategische Konzept“ für das nächste Jahrzehnt. Albares sagte, im Süden
       gerieten Länder im Maghreb und in der Sahelzone unter verstärkten
       russischen Einfluss.
       
       Spaniens Vorstoß hatte Erfolg: Am 29. Juni präsentierte die Nato das neue
       „Strategische Konzept“. Darin heißt es unter Punkt 7 zu „Autoritären
       Akteuren“, diese nähmen die „Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger mit
       hybriden Taktiken ins Visier“. Eine dieser Taktiken: Sie
       „instrumentalisieren die Migration“. Es lag auf der Hand, welches Szenario
       die Militärstrategen umtrieb. Eine ganze Reihe von Sahelstaaten wandte sich
       in der jüngeren Vergangenheit vom Westen ab und Russland zu.
       
       Die Region ist ohnehin eines der Hauptherkunftsgebiete der Flüchtlinge und
       Migrant:innen auf dem Weg nach Europa. Dass Russland dort seinen Einfluss
       nutzt, um die Zahl der aufbrechenden Menschen in die Höhe zu treiben, ist
       keine abwegige Vorstellung.
       
       ## Warschau spricht von hybrider Gefahr, die EU zieht nach
       
       Unter hybrider Bedrohung versteht man irreguläre feindliche Akte zwischen
       Staaten unterhalb des Einsatzes von Waffengewalt, etwa Cyberangriffe oder
       eben auch den Versuch, größere Migrationsbewegungen in Gang zu setzen. Es
       war im Herbst 2021, als dies zum ersten Mal offen gesagt wurde. Auslöser
       war die Ankunft von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten, denen Belarus
       demonstrativ freies Geleit Richtung Polen gewährt hatte, offenkundig, um
       sich an der EU für Sanktionen zu rächen, die diese wegen der unfreien Wahl
       gegen Minsk beschlossen hatte.
       
       Zuerst sprach die Regierung in Warschau von einer hybriden Bedrohung, der
       Rest der EU folgte prompt. Für die EU sei es eine „Form der hybriden
       Bedrohung“, wenn „man Migranten als politische Waffe einsetzt“, meinte der
       damalige deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU). Die Nato befand, dass
       das „Lukaschenko-Regime Flüchtlinge als hybride Taktik einsetzt“. Und auch
       EU-Kommissionssprecher Peter Stano sprach von einer „hybriden Bedrohung“
       aus Minsk.
       
       Die semantische Aufrüstung hat Folgen: Wenn Flüchtlinge zu einer Art soften
       Waffe umgedeutet werden, [2][liegt die Selbstermächtigung zur Verteidigung
       nahe.] Polen hatte genau das im Sinn, setzte es doch in den folgenden
       Wochen offensiv [3][auf die nach EU-Recht verbotenen Pushbacks]. Wer
       angegriffen werde, habe freie Hand, sich zu wehren – das ist die implizite
       Annahme.
       
       Belarus war nicht der einzige Fall. 2020 stellte die Türkei die Bewachung
       der Grenze zu Griechenland ein und ermunterte Zehntausende Menschen, sie zu
       überqueren. Der türkische Staatschef Erdoğan wollte mehr Geld für die
       Verlängerung des EU-Flüchtlingsdeals. 2021 tat Marokko dasselbe mit der
       Grenze zu Melilla und zwang so Spanien, Marokkos Anspruch auf die besetzte
       Westsahara anzuerkennen. Von der „weaponisation“ von Flüchtlingen ist in
       einer Vielzahl sicherheitspolitischer Veröffentlichungen der letzten Jahre
       die Rede.
       
       Im Journal of National Security Law beschrieb Aaron Petty 2022 dies als
       „absichtsvolles Instrument der Aggression zwischen Nationalstaaten“. Das
       MIT-Center for International Studies hält die Belaruskrise für den „Beginn
       einer gefährlichen neuen Ära internationaler Machtpolitik“. Die
       Flüchtlingszahlen steigen seit Jahren, die Klimakrise dürfte sie weiter in
       die Höhe treiben. Schon mehrfach hat die EU der Welt demonstriert, wie
       tiefgreifend sie die Ankunft einer größeren Zahl von Menschen zu
       destabilisieren vermag.
       
       ## Militarisierung des Grenzschutzes
       
       Das 2023 beschlossene neue EU-Asylsystem enthält nun einen Mechanismus, der
       es Staaten erlaubt, im Fall von „Instrumentalisierung“ Geflüchteter durch
       feindliche Nachbarstaaten oder sogar NGOs das Asylrecht noch weiter
       einzuschränken. Unter anderem sollen dann alle Ankommenden für
       Schnellverfahren interniert werden können. Längst hat die Rüstungsindustrie
       erkannt, welche sicherheitspolitische Bedeutung Flüchtlingsankünfte haben
       können, und setzt gezielt auf die Militarisierung des Grenzschutzes als
       wachsendes Geschäftsfeld. Erst im April präsentierte die Europäische
       Investitionsbank einen milliardenschweren Aktionsplan im Rahmen der
       Strategischen Europäischen Sicherheitsinitiative (Sesi).
       
       Förderfähig sind unter anderem Grenzschutzprojekte. Franck Düvell,
       Wissenschaftler am Osnabrücker IMIS-Institut, sieht die
       „Instrumentalisierung“ eher aufseiten der EU selbst. Die Wahrnehmung, dass
       irreguläre Migration eine Gefahr darstelle, sei ein Trend, den „wir seit
       langer Zeit beobachten“, sagt er, dieser sei „nicht mit irgendwelchen
       aktuellen Entwicklungen verbunden“ – auch nicht mit der Situation Ende 2021
       an der polnisch-belarussischen Grenze. Die Zahlen dort – Schätzungen lagen
       bei etwa 30.000 Personen – nennt Düvell „eine vollkommen unbedeutende
       Größenordnung“. Panik sei „auf der polnischen Seite ausgelöst worden mit
       einer extremen Xenophobie“.
       
       Dass die EU-Kommission die „Instrumentalisierung“ in den neuen
       EU-Asylpakt eingebaut habe, sei sicher auch dadurch zu erklären, dass sie
       damit um die Zustimmung der osteuropäischen Staaten werben wollte. „Es war
       eine diplomatische Anstrengung, um Einheitlichkeit in der Migrationspolitik
       zu erhalten“, sagt Düvell. „Aber vielleicht war es auch ein Signal in
       Richtung Türkei.“ Immerhin gebe es schon seit den Zeiten des libyschen
       Diktators Gaddafi Erfahrungen mit Erpressungsversuchen. „Die EU spielt
       anderen Mächten in die Hände, indem sie demonstriert, dass das ihre
       schwache Flanke ist.“
       
       2 Jun 2024
       
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