# taz.de -- Meisternarrativ zu Migration: Verlockend einfach
       
       > In Deutschland werden gängige Erzählungen zur Migration nicht gern
       > infrage gestellt. Ursache dafür ist das wirkmächtige Meisternarrativ.
       
 (IMG) Bild: Verlockend einfache Botschaften gibt es nicht nur bei der AfD: zerstörtes Wahlplakat in München im Mai 2024
       
       Kürzlich war ich in einer Diskussionsrunde zum Thema Migration. Nach der
       Debatte erklärte mir einer meiner Mitdiskutanten, dass ich „anmaßend“
       gewesen sei. Ich hätte ständig gesagt, dass die anderen Personen nicht
       komplex genug argumentierten. Tatsächlich hatte ich das nicht gesagt. Ich
       hatte gesagt, dass das Thema Migration viel zu komplex sei, um es anhand
       der gängigen Narrative zu besprechen. Ich merkte an dieser Reaktion
       allerdings: Es wird nicht gern gesehen, wenn man gängige Erzählungen
       infrage stellt.
       
       In der Geisteswissenschaft gibt es einen Begriff für diese herrschenden
       Erzählungen: das Meisternarrativ. Seine Macht zeigt sich selten so deutlich
       wie nach der Europawahl, in der autoritäre Kräfte in vielen Ländern
       gestärkt wurden. Auch in Deutschland. Das Meisternarrativ zeigt sich, wenn
       etwa der SPD-Bundestagsabgeordnete Dirk Wiese nach der Wahl einen härteren
       Kurs bei der Begrenzung der Migration fordert.
       
       Wenn der bayerische Ministerpräsident Markus Söder als Ursache für die
       [1][hohen AfD-Wahlergebnisse] die Migrationspolitik der Ampel ausmacht.
       Wenn der Grünen-Politiker Anton Hofreiter erklärt, dass sich in der
       Migrationspolitik „ein ganzer Schwung“ ändern müsse. Wenn eine Journalistin
       im ZDF behauptet, dass die Grünen verloren hätten, weil ihnen nicht
       zugetraut werde, das „Migrationsthema zu lösen“. All diese Behauptungen
       ergeben sich aus dem Meisternarrativ.
       
       Das soll keine Bewertung sein, ob diese Behauptungen richtig oder falsch
       sind, sondern nur eine Beobachtung, woraus sie sich speisen. Diese
       Meistererzählung, die in Deutschland seit vielen Jahrzehnten herrscht,
       lautet: „Ausländer“ sind verantwortlich für strukturelle Probleme in
       Deutschland. Folgerichtig lauten die immer gleichen zwei Antworten auf
       viele gesellschaftliche und politische Probleme: Begrenzung und Ausweisung.
       Kriminalität – Ausländer. Sexualisierte Gewalt – Ausländer. Wohnraummangel
       – Ausländer.
       
       ## Reflexhafte Schuldzuweisung
       
       Antisemitismus – Ausländer. Fehlende Kitaplätze – Ausländer.
       Bildungsnotstand – Ausländer. Diese Liste ließe sich fortführen. Natürlich
       wird im politischen und medialen Diskurs unterschieden, um welche
       „Ausländer“ es geht, zum Beispiel um geflüchtete, geduldete oder
       abschiebungspflichtige. Gleichzeitig ist diese „Differenzierung“
       überflüssig, die rassistischen Narrative, die dadurch gefüttert werden,
       machen keinen Unterschied. Diese Arten von Denkmuster treffen am Ende alle,
       die als „anders“ definiert werden.
       
       Eine weitere wichtige Konsequenz aus einem solchen Diskurs: Jene Probleme,
       die eigentlich gelöst werden müssten, bleiben ungelöst. Wie ein Teppich
       legt sich das Meisternarrativ auf all diese gesellschaftlichen und
       strukturellen Probleme. Ressourcen, politische und mediale, werden dafür
       aufgewendet, sich mit den Problemen des Meisternarrativs zu beschäftigen.
       
       Beispiel sexualisierte Gewalt: Die [2][Sozialwissenschaftlerin Monika
       Schröttle] beschreibt, dass Femizide in Deutschland noch immer als
       „Beziehungstat“ gesehen werden und nicht als strukturelles Problem: „Oft
       wird das Problem […] vermeintlich traditionellen Kulturen zugeschoben.
       Statistisch bestätigt sich das bei Femiziden in Deutschland nicht. In
       vielen anderen Ländern Europas wird die Tötung der Partnerin klar als
       geschlechtsspezifische Tat gesehen – während man sie in Deutschland noch
       eher als Beziehungstat benennt und bei deutschstämmigen Tätern eher als
       individuelles Psychoproblem einstuft.“
       
       Dass diese Kulturalisierung ein Grund dafür sein könnte, dass nachhaltige
       Schritte fehlen, um das Problem geschlechtsspezifischer Gewalt anzugehen,
       kann man zumindest in Betracht ziehen.
       
       ## Einfache Botschaften sitzen
       
       Und so ist es keine Überraschung, dass gerade junge Menschen vermehrt die
       AfD wählen. Die Meistererzählung herrscht überall – ob auf Tiktok, in der
       Bild oder in der Süddeutschen Zeitung. Natürlich wird sie vereinzelt
       infrage gestellt. Aber nicht strukturell. Alternative Erzählungen haben
       kaum eine Chance. Schon allein deswegen, weil sie von Hassnachrichten
       überlagert werden. Auf junge Menschen drücken die Probleme dieser
       Gesellschaft ganz besonders: [3][Wie soll man sich ein WG-Zimmer in der
       Universitätsstadt leisten]?
       
       Wie die hohen Lebensmittelkosten bewältigen? Wie den Klimawandel bekämpfen?
       Dass viele junge Menschen ebenfalls dem Meisternarrativ glauben, nach dem
       Migration das größte Problem sei, ist kein Wunder. Einfache Erzählungen
       setzen sich durch. Und Erzählungen schlagen Fakten. Immer. Heißt das, dass
       es keine Probleme gäbe, die sich aus Einwanderung ergeben? Natürlich nicht.
       Es wäre weitaus effektiver, wenn man diese Probleme ohne rassistische
       Narrative besprechen könnte.
       
       Dann wäre es wahrscheinlicher, Lösungen zu finden. Begrenzung und
       Ausweisung werden diese Probleme nicht lösen. Im Gegenteil – je mehr das
       behauptet wird, umso stärker werden autoritäre Kräfte wie die AfD, die
       genau auf dieser Welle reiten. Für viele Politiker:innen erscheint es
       allzu verlockend, anhand des Meisternarrativs zu agieren – und das seit
       vielen Jahrzehnten.
       
       Schließlich scheint es weitaus einfacher, immer wieder zu erklären, wie man
       nun das „Migrationsproblem“ „lösen“ möchte, dabei von der europäischen
       Ebene zu sprechen und eine vage Zukunft in Aussicht zu stellen, in der
       alles „besser“ wird – wenn man es endlich schaffe, Migration „einzudämmen“.
       Tatsächlich ist es weitaus schwieriger, sich damit auseinanderzusetzen,
       warum es nicht gelingt, für alle Menschen bezahlbaren Wohnraum zu schaffen,
       genügend Lehrer:innen auszubilden, [4][Armut] zu bekämpfen oder sich der
       Verbreitung islamistischen Gedankenguts entgegenzustellen.
       
       Und so bedient man sich, ob bewusst oder unbewusst, einer
       Verantwortungsverlagerung – und wundert sich, warum viele Menschen
       rassistischen und menschenfeindlichen Narrativen Glauben schenken. Es mag
       „anmaßend“ sein, solche Dinge zu sagen. Diese Perspektive mag genauso
       falsch oder richtig sein wie das Meisternarrativ. Sie ist einfach nur eine
       andere.
       
       19 Jun 2024
       
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