# taz.de -- Die EU vor der Europawahl 2024: Moralisch-demokratisches Korrektiv
       
       > Die EU steht unter anderem wegen ihrer Flüchtlingspolitik in der Kritik.
       > Zu Recht. Und doch ginge es ohne die EU vielfach brutaler und ungehemmter
       > zu.
       
 (IMG) Bild: Deutsche und griechische Polizisten bei einem Frontexeinsatz an der bulgarisch-türkischen Grenze im Februar 2024
       
       In der vergangenen Woche war ich mit einer Delegation in Griechenland. Auf
       dem Programm standen Gespräche mit Ärzt:innen, Helfer:innen und
       Geflüchteten. Sie berichteten Erschreckendes, wenn auch nichts Neues:
       Folter durch die Grenzpolizei, Tote bei [1][Pushbacks], abgelehnte
       Asylsuchende ohne jeden Anspruch auf Lebensmittel. Am Ende sagte eine
       Delegationsteilnehmerin, was alle dachten: Das kann doch nicht wahr sein,
       dass da keiner was macht. Es lag auf der Hand, wer das sein müsste: die
       Europäische Union.
       
       Die EU hat zwei Dinge, die heute nicht selbstverständlich, nicht ersetzbar,
       nicht verzichtbar sind: Moralisch-zivilisatorische Ansprüche, an denen sie
       festhält, obwohl sie dauernd selbst gegen diese verstößt – deren Einhaltung
       sich aber einfordern lässt. Und Einflussmöglichkeiten auf Regierungen in
       einem Maß, das es sonst nicht gibt.
       
       Die Zivilgesellschaft kann protestieren, praktische Solidarität leisten.
       Aber viele ihrer Interventionen zielen darauf ab, dass Institutionen mit
       Macht eingreifen und Dinge verändern. Viele, denen Menschenrechte wichtig
       sind, sehen in der EU heute vor allem ein Projekt der Gewalt, eine Festung
       Europa: [2][Frontex], Pushbacks, [3][Tote im Meer] und [4][in der Wüste],
       Lager, Internierung, Gewalt, Zäune, [5][kriminalisierte
       Seenotretter:innen], [6][Asylrechtsabbau], Kollaboration mit
       Verbrechermilizen. Und es sind nicht nur die Grenzen: Zu schwacher
       Klimaschutz, Ermöglichen von Massenüberwachung, neoliberale Sozialpolitik,
       das fällt vielen zur EU ein. Und dafür gibt es gute Gründe.
       
       Doch wer die EU darauf reduziert, verkennt eins: Könnten die
       Nationalstaaten heute so agieren, wie sie wollten, wäre vieles schlimmer.
       Es ginge brutaler zu, ungehemmter. Die EU ist, trotz allem, auch ein
       moralisch-demokratisches Korrektiv. Ihr Verhältnis zu den Mitgliedstaaten
       verschafft ihr einen besonderen Einfluss, weit stärker als jener des
       Europarats, der Vereinten Nationen oder anderer nationaler Regierungen. Das
       ist nicht nur wegen des Geldes so, das aus Brüssel fließt. Es ist das
       institutionelle Geflecht, eine liberal geprägte politische Kultur, geteilte
       Normen, gewachsene Kooperation.
       
       ## Länder können leicht in die Hände von Autokraten fallen
       
       Nun könnte man sagen: Was nützt das? Offensichtlich hindert die EU ja
       beispielsweise Griechenland keineswegs daran, all die Rechtsverstöße zu
       begehen. Vielmehr zahlt sie viel Geld dafür, fordert unter anderem den
       Außengrenzenschutz, der all die schlimmen Dinge hervorbringt, aktiv ein.
       
       Aber dieser Blick greift zu kurz. [7][Ungarn] oder bis vor Kurzem
       [8][Polen] zeigen, wie leicht nationale Regierungen in die Hände von
       Autokraten fallen können, die ganz offensiv Mindeststandards aufkündigen,
       Gesetze ignorieren. Kritische Medien, Zivilgesellschaft, demokratische
       Institutionen werden plattgemacht, Frauen- und Minderheitenrechte ebenso,
       die einzige Asylpolitik heißt: Knüppel frei.
       
       Hoffnungen richten sich dann meist auf die EU. Auf wen sonst? Sie hat
       Möglichkeiten der Intervention. Und man kann versuchen, sie auf ihre
       Verfasstheit mit Mindeststandards und garantierten Rechten festzunageln.
       Das schafft einen gewissen Schutz, Haltelinien, Spielräume, wenn
       Regierungen ins Autoritäre kippen. Wie weit dieser Einfluss dann auch in
       einem prodemokratischen, fortschrittlichen, menschenrechtlichen Sinne
       genutzt wird, ist eine andere Frage.
       
       Die Kommission versagt moralisch, wenn ihre Präsidentin Ursula von der
       Leyen (CDU) wie im Februar 2020 Griechenland als „unseren Schild“ lobt,
       während [9][am Evros mit aller Gewalt gegen Migrant:innen vorgegangen
       wird]. Die EU versagt, wenn Ratspräsident Charles Michel Spanien und
       Marokko versichert, man unterstütze die Länder „voll und ganz“, nachdem am
       Grenzzaun von Melilla an einem einzigen Tag mindestens 27 Menschen getötet
       werden, [10][wie im Juni 2022].
       
       Die EU versagt, wenn sie die Sprachregelung der „hybriden Bedrohung“
       übernimmt, mit der Polen 2021 seine gewaltsamen Massenpushbacks nach
       Belarus rechtfertigte. Und die Kommission versagt politisch, wenn sie allzu
       zögerlich ihre Handhabe gegen Regierungen wie jene in Ungarn oder bis vor
       Kurzem in Polen einsetzt. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen.
       
       ## Der Einfluss Rechtsextremer wächst
       
       Denn die EU-Institutionen sind umkämpft, der wachsende Einfluss
       Rechtsextremer zeigt Wirkung, ebenso die Rechtsdrift der etablierten
       Parteien. Nicht zu Unrecht nannte die Linke Cornelia Ernst [11][das neue
       Asylsystem GEAS] einen „historischen Kniefall vor den Rechtspopulisten
       Europas“. Aber die EU hat eben nicht nur diese Seite.
       
       Als die Türkei 1999 EU-Beitrittskandidatin wurde, ließ die Regierung dort
       massenhaft foltern. Die EU verlangte als Vorbedingung für
       Beitrittsgespräche, dass alle Verhafteten zu Beginn und dann wieder vor der
       Entlassung einem Arzt vorgeführt werden, damit mögliche Folterspuren
       entdeckt werden und die Hemmschwelle für Folter steigt. Man kann das bigott
       finden, doch eine mit solchen moralischen Ansprüchen nach außen bis heute
       oft auftretende EU ist unbestreitbar ein Fortschritt gegenüber
       Verhältnissen, in denen Folter offen befürwortet wird.
       
       „Nach der zweiten oder dritten Warnung – bumm. Dann schießt die Kanone,
       ohne noch viel zu reden. Die Kanone tötet. Sonst kommen wir nie zu einem
       Ende“, so wollte einst der italienische Rechtspopulist Umberto Bossi den
       Flüchtlingsbooten entgegentreten. Als die Postfaschistin [12][Giorgia
       Meloni] 2022 ins Amt kam, hatte sie angekündigt, tatsächlich die Marine
       einzusetzen. Doch bisher zumindest unterscheidet sich ihre
       Regierungsführung nicht allzu sehr von jener der Vorgänger. Und das hat
       zweifellos mit der Einhegung durch die EU zu tun.
       
       Die EU ist nicht gut, so wie sie ist. Sie ist ein unperfektes System, ohne
       Garantien. Doch gäbe es oberhalb der Staaten nichts mehr, dann wäre der Weg
       zur Gewalt oft noch viel kürzer. Deshalb ist es so wichtig, ihre
       Verfasstheit gegen die drohende weitere Aushöhlung durch Rechtsextreme zu
       verteidigen.
       
       22 Apr 2024
       
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