# taz.de -- Theaterfestival in Braunschweig: Formen, die die Welt bedeuten
       
       > Das Festival „Theaterformen“ in Braunschweig zeigt Installationen von
       > indigenen südamerikanischen Künstler:innen. Über den Versuch eines
       > Dialogs.
       
 (IMG) Bild: Mein lieber Schwan! Mamela Nyamzas Choreografie erzählt auch eine Geschichte des Balletts
       
       BRAUNSCHWEIG taz | Theaterformen scheinen ausgereizt. Längst wurde
       ausprobiert, sie bis in die absolute Spielfreiheit hinein aufzulösen, um
       dann wieder zu Strukturen zurückzukehren, die nötig sind, um Inhalte zu
       vermitteln. Neugierig, was da nun aber doch noch alles unerkundet geblieben
       ist, suchen die Macher:innen des Festivals „Theaterformen“ in
       Braunschweig und Hannover seit 1990 gern sehr weit weg nach neuen Formaten.
       
       So wird auch die 25. Ausgabe in Braunschweig mit einem Gastspiel aus
       Südafrika eröffnet: „Hatched Ensemble“ beginnt in enervierender Ruhe.
       Tänzer:innen in weißen, mit Klapperklammern geschmückten Tüllkostümen
       beginnen sich in bedrückter Niedergelassenheit am Bühnenboden zu recken und
       zu strecken. Zeitlupenhaft erheben sie sich mit angedeuteter Ballettgestik.
       
       Dazu läuft als Loop Camille Saint-Saëns’ Melodie „Der Schwan“ aus dem
       „Karneval der Tiere“: Zu diesem Stück hat Michel Fokine einst für
       Primaballerina Anna Pawlowna das berühmteste Solo der Ballettgeschichte
       choreografiert – den sterbenden Schwan.
       
       Um eine Abgrenzung von dem geht es Choreografin Mamela Nyamza hier. Die
       1976 im Township Guglethu geborene Tänzerin durchlief eine klassische
       Ballettausbildung. In der weißen Tutu-Welt des romantischen Balletts fühlte
       sie sich als PoC immer fremd. Sie erkennt in dieser Theaterform ein
       kolonial-hegemoniales Korsett, das Künstler:innen vor allem domestiziert
       und sich selbst entfremdet.
       
       ## Plötzlich eine Fahrradklingel
       
       Für den Hallo-wach-Effekt sorgt auf der Bühne eine Fahrradklingel. Das
       Ensemble beginnt auf Spitze zu trippeln, um sich dann zu verwandeln.
       „Hatched“ könnte mit „ausbrüten“ oder „entpuppen“ übersetzt werden. Erst
       kommen rote Kostümaccessoires hinzu. Dann entledigt man sich der
       Ballettschuhe. Die Musik verwandelt sich in afrikanischen Pop und alle
       tanzen endlich energiegeladen und befreit los, barfuß eins mit sich und
       ihrer Kultur. Toll!
       
       Nur: Innovativ ist das nicht. Und eine Abrechnung mit der Körper- und
       Bewegungsdiktatur sowie den Rassismen und [1][Geschlechterklischees] der
       Ballettgeschichte ist anno 2024 nicht gerade originell.
       
       Aber inhaltlich passt die Produktion prima zum Konzept von Festivalleiterin
       Anna Mülter. Sie schätzt emanzipatorische Ansätze und Perspektivwechsel.
       Deswegen bezeichnet sie in ihrer Eröffnungsrede auch nicht die 14
       Gastspiele, sondern das Kunstprojekt „Ko’eyene“ als Herz der diesjährigen
       Theaterformen. Das findet sich im 1804 erbauten Gartenhaus des
       Legationsrates Haeckel im Herzoglichen Park neben dem Staatstheater.
       
       Es soll den Dialog mit indigenen Künstler:innen aus Südamerika
       ermöglichen und Solidarität entstehen lassen: An einem prunkvoll knorrigen
       Baum-Monument baumeln Kürbisschalen wie sinnlose Fruchtstände. Jede Schale
       strotze nur so von „Praktiken des Heilens, Betens und Schützens“, steht
       dort zu lesen. „[2][Bio-pirated Ancestral Knowledge]“ heißt diese Arbeit
       von Kaiwino Wiz und Roseane Cadete Wapichana aus Brasilien.
       
       Ohne Hintergrundwissen ist sie allerdings schwerlich einzuordnen „als
       vehemente Forderung, das Erbe indigener Gemeinschaften anzuerkennen und zu
       respektieren“. Leichter macht es Dhoze Kali Sini dem Publikum mit einem
       transparenten Plakat zwischen zwei Bäumen, in farbgreller Fröhlichkeit sind
       Jaguar, Jabiru-Storch und Anaconda dargestellt, die durch
       Regenwaldabholzung bedroht sind.
       
       Irineu Nje’a Terena hat riesige Ballons wie Rasseln der Terena-Gemeinschaft
       gestaltet und aufgeblasen – dazu ist online zu lesen, diese Itaaká bringen
       Teilnehmende einer Zeremonie mit dem Koipihapati, ihrem Schutzgeist, in
       Verbindung, der in Herausforderungen des Lebens Orientierung bietet.
       
       Ja, es sind viele Geheimnisse des indigenen Lebens, die nun im
       Open-Air-Museum des Braunschweiger Theaterparks aufleuchten. Nur mit
       Theaterformen hat das wenig zu tun: Dabei gibt beispielsweise das Kollektiv
       Mexa aus São Paulo Hinweise darauf, wie Bühnenkunst in Brasilien Diskurse
       neu fassen kann.
       
       Vor neun Jahren gegründet aus Protest gegen [3][sexualisierte Gewalt in
       Obdachlosenunterkünften], denkt diese Gruppe am Dienstag auf der Bühne über
       ihr eigenes Ende nach – bei einem Letzten Abendmahl. „The Last Supper“
       bereite einen „explosiven Moment der Vereinigung und eine Erneuerung des
       Gelübdes der Solidarität“, verspricht das Programmheft.
       
       Damit die Gastspiele wie geplant stattfinden können, galt es kurzfristig
       umzuplanen. Denn neben dem Staatstheater [4][gehört das LOT-Theater mit
       seinen Spielstätten an der Kaffeetwete] und im Quartier St. Leonhard zum
       Festival, hat aber im April dieses Jahres den Betrieb wegen Insolvenz
       eingestellt. So mussten einige Veranstaltungen in die Hausbar des
       Opernhauses verlegt werden. Andere können im kurzfristig angemieteten LOT
       stattfinden.
       
       Festival Theaterformen: bis 23. 6. in Braunschweig, vom 19. bis 29. 6 in
       Hannover. Programm auf [5][theaterformen.de]
       
       22 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [5] https://www.theaterformen.de/programm
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Fischer
       
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