# taz.de -- Inklusives Theater in München: Das disruptive Moment
       
       > Das All Abled Arts Festival zeigt Kunst von Menschen mit Behinderung. Das
       > Programm der Münchner Kammerspiele stimmt nachdenklich und macht Spaß.
       
 (IMG) Bild: Bloggerin und Aktivistin Natalie Dedreux sprach bei der Eröffnung des AAA-Festivals
       
       „Theater: Wie inklusiv kann es sein?“ ist der Titel des Podiumsgesprächs
       beim All Abled Arts Festival an den [1][Münchner Kammerspielen]. Genauso
       gut könnte man fragen, wem das Theater gehört. Sollen diejenigen, die
       bisher nicht Teil von ihm waren, nur zugelassen oder auch eingeladen
       werden? Muss sich dafür das System ändern, das sie empfängt? Die Räume, die
       Arbeitsabläufe, der Umgang miteinander, die verwendeten Sprachen? Und wäre
       das ein Verlust oder ein Gewinn?
       
       Die Fragen, die sich Theater stellen, die Menschen mit anderen
       Lernmöglichkeiten oder körperlichen Behinderungen [2][als Künstler und
       Zuschauer zu integrieren] erwägen, tauchen ganz ähnlich auch auf
       gesellschaftlicher Ebene auf. Eine diverse Gesellschaft ist herausfordernd.
       Da hilft es, wenn man Veränderungen und ein gewisses Quantum an
       Unkalkulierbarkeit umarmen und Widersprüche aushalten kann. Stichwort
       Ambiguitätstoleranz.
       
       Wüsste man genau, wie man sie sich zulegt, wären wir viele Probleme los.
       Wer sie besitzt, muss jedenfalls weder die AfD wählen noch den Untergang
       des Abendlandes beschwören, wenn an einem der wichtigsten Sprechtheater
       Deutschlands zum ersten Mal ein Abend „in leichter Sprache“ auf dem
       Programm steht. Leichte Sprache, das heißt: kurze Sätze, einfache Worte,
       Reduktion auf den Bedeutungskern.
       
       Als „Anti•gone“ nach Sophokles, inszeniert von [3][Nele Jahnke], im Februar
       2023 an den Münchner Kammerspielen Premiere hatte, ploppten in einigen
       Kritiken illustre Gegensatzpaare auf: Kunst und Soziopolitik, Niveau und
       Inklusion, „großes Theater“ und „zielgruppenorientierte Gebrauchsware für
       die Vervollständigung des Gesinnungshaushalts“.
       
       Ausnahmebegabung 
       
       Derlei verrät mehr über den Kunstbegriff der Rezensent*innen als über
       den Abend, der ganz andere Schwächen hat. Etwa die, dass Johanna Kappaufs
       Antigone derart freudestrahlend in den Tod geht, dass der jeden Schrecken
       verliert. Kappauf ist eine Ausnahmebegabung, nicht nur unter den
       Schauspieler*innen mit kognitiver Beeinträchtigung.
       
       Beim All Abled Arts Festival war sie auch noch einmal in [4][Jan-Christoph
       Gockels] Alexander-Kluge-Revue „Wer immer hofft, stirbt singend“ zu sehen,
       die sie mit ihrem ansteckenden Glauben daran, dass im Theater alles möglich
       ist, imprägnierte: ein irrwitzig hoffnungsvoller Abend!
       
       So viele Gestalten, die Kunst mit und von Menschen mit Behinderungen
       annehmen kann, sie unterscheidet sich in einigen Punkten von dem, was man
       zu sehen und hören gewohnt ist. Etwas holpert in der verbalen oder
       körperlichen Artikulation, rumpelt, scheint sogar zu stören?
       
       Sichtbare Verbiegungen 
       
       [5][Wolfram Lotz], einer der aufregendsten deutschsprachigen Dramatiker und
       als Stotterer selbst so ein Störfeuerteufel, begrüßt das in seinem
       fulminanten Impulsvortrag. Sein Fazit: „Theater ist seltsames Sprechen,
       seltsames Aussehen, seltsames Bewegen … Da ist jeder Körper eine Hilfe, der
       eine sichtbare Verbiegung aufweist.“ Alles, was an den Apparat
       „heranbumselt und ihn zum Stottern bringt“.
       
       Für Ben Evans, zuständig für den Bereich Arts & Disability im British
       Council, steht das, was er „das disruptive Element“ nennt, am Anfang jeder
       künstlerischen Avantgarde; am auffälligsten vielleicht im Tanz, in dem
       Körper mit Besonderheiten neue Bewegungsqualitäten hervorbringen.
       
       Eine kleine Warnung hat Evans aber auch mit im Gepäck: Vollständige
       Assimilation dieser Künstler vernichtet, was sie besonders macht. Sein
       Tipp: Die Peripherie finanziell besser auszustatten. Sprich: Die freie
       Szene, in der inklusives Theater schon seit Jahren praktiziert wird.
       
       Vorreiterrolle der Kammerspiele 
       
       Zum Beispiel vom [6][Berliner RambaZamba], das mit „Läuft!“ in München war
       – oder vom Schweizer Theater Hora, das mit „Schule der Liebenden“ einen
       behutsamen (Selbst-)Aufklärungsfilm in bonbonbunter Teletubbies-Ästhetik
       vorbeischickte. Und als Anna Mülter, Leiterin des Festivals Theaterformen,
       das Münchner Publikum als „privilegiert“ bezeichnete, spielte sie zwar auf
       die Vorreiterrolle der Kammerspiele in Sachen Inklusion an, hätte aber
       ebenso gut auch die Tatsache meinen können, dass hier eine kleine freie
       Institution wie das Theater am Sozialamt (TamS) bereits zehn Ausgaben des
       inklusiven Festivals „Grenzgänger“ gestemmt hat. Weshalb man in München
       auch internationale Kompanien kennt und weiß, dass Deutschland in Sachen
       Inklusion noch am Anfang steht.
       
       Das geben auch alle Beteiligten zu. Und damit der Anfang Blüten treibt, hat
       die Kulturstiftung des Bundes das Programm pik („Programm für inklusive
       Kunstpraxis“) aufgelegt, das seit 2022 Kooperationen zwischen großen
       Häusern und freien Gruppen unterstützt. Die seit Beginn der Intendanz von
       Barbara Mundel bestehende Allianz zwischen den Münchner Kammerspielen und
       der Freien Bühne München ist da nur eine von sieben. Vier
       Absolvent*innen der inklusiven Ausbildungsstätte gehören seitdem fest
       zum Ensemble sowie mit Lucy Wilke und Erwin Aljukić zwei
       Schauspieler/Tänzer*innen, die im Rollstuhl sitzen.
       
       Schräg wie respektlos 
       
       Und [7][Samuel Koch], der seit seinem Unfall bei „Wetten, dass..?“ 2012
       querschnittsgelähmt ist, möchte man ebenfalls stärker ans Haus binden. Zum
       Festivalauftakt hat Koch eine nachdenkliche Note zu „Läuft!“ beigesteuert.
       
       Man kennt diesen von Leander Haußmann inszenierten, so schräg wie
       respektlos an allen gesellschaftlichen Diskursfeldern entlangschrammenden
       RambaZamba-Abend ja in Berlin, an dem Robin Krakowski den Kollegen als
       Tetraplegiker vorstellt: „Der bewegt sich so viel wie ein Tetrapak. So
       merke ich mir das immer.“ Das Bild, das Koch selbst darin für das Leben mit
       Behinderung findet: Du träumst jahrelang von Italien, besteigst voller
       Vorfreude den Flieger – und landest in Holland. Nie wolltest du da hin.
       Aber wenn du weiterhin Italien nachtrauerst, wirst du nie die Schönheit von
       Holland erkennen.
       
       Für angeborene Behinderungen taugt dieses Bild weniger, für die Betrachtung
       inklusiver Kunst aber umso mehr. Da ist zum Beispiel die Show der Gruppe
       „Drag Syndrome“ aus London. Die einfache Auf- und Abtrittsdramaturgie der
       ersten Dragqueens mit Trisomie 21 ist ohne doppelten Boden oder zweite
       Bedeutungsebene. Wer darin aber nicht Italien sucht, sondern sich auf
       Holland einlässt, kann sich mit Menschen freuen, die ihre nicht normativen
       Körpern und glamourösen Verkleidungen feiern und es genießen, sich zu
       zeigen. Und schon wird einem so warm ums Herz wie auf Sizilien. Mindestens.
       
       Tabuisierte Sexualität 
       
       „Hört uns, seht uns, nehmt uns ernst!“ Dieser Appell, den [8][die Bloggerin
       Natalie Dedreux] dem Festival voranschickte, liegt auch als stille
       Leitmelodie unter der Arbeit des Teatr 21 aus Warschau, das in „Libido
       Romantico“ erotische Texte von Adam Mickiewicz, die vor zweihundert Jahren
       als skandalös galten, mit ihren Erfahrungen als Menschen mit Downsyndrom
       konfrontiert, deren Sexualität immer noch tabuisiert oder sogar
       medikamentös unterdrückt wird.
       
       „Mein behinderter Körper ist unmoralisch“, sagt eine der Schauspielerinnen.
       Und: „Moral ist auch Sexismus.“ An einem poetischen und ungeheuer
       disziplinierten Abend, über den man gerne wüsste, wie viel disruptive
       Energie der Akteur*innen in ihn eingeflossen ist. Da stottert und stört
       fast nichts.
       
       Dagegen ist „Horror und andere Sachen“ geradezu ein Disruptions-Orkan: In
       diesem „Splatter-Tanz“ führt Tiziana Pagliaro vom Theater Hora live Regie,
       ruft dem Ensemble der Münchner Kammerspiele von der Rampe aus Kommandos zu
       – und freut sich diebisch, wenn Spinnen, Mörderpuppen und anderen
       Gruselmonster ordentlich Kunstblut verspritzen. Diese anarchische Gaudi ist
       die erste Arbeit einer Regisseurin mit kognitiver Beeinträchtigung an einem
       deutschen Stadttheater. Und „Disabled Leadership“ ist dann vielleicht ein
       Thema für ein Festival der Zukunft.
       
       15 Jan 2024
       
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